Das Landleben

[192] Wunderseliger Mann, welcher der Stadt entfloh!

Jedes Säuseln des Baums, jedes Geräusch des Bachs,

Jeder blinkende Kiesel,

Predigt Tugend und Weisheit ihm!


Jedes Schattengesträuch ist ihm ein heiliger

Tempel, wo ihm sein Gott näher vorüberwallt;

Jeder Rasen ein Altar,

Wo er vor dem Erhabnen kniet.


Seine Nachtigall tönt Schlummer herab auf ihn,

Seine Nachtigall weckt flötend ihn wieder auf,

Wenn das liebliche Frühroth

Durch die Bäum' auf sein Bette scheint.


Dann bewundert er dich, Gott, in der Morgenflur,

In der steigenden Pracht deiner Verkünderin,

Der allherrlichen Sonne,

Dich im Wurm, und im Knospenzweig.


Ruht im wehenden Gras, wann sich die Kühl' ergießt,

Oder strömet den Quell über die Blumen aus;

Trinkt den Athem der Blüthe,

Trinkt die Milde der Abendluft.


Sein bestrohetes Dach, wo sich das Taubenvolk

Sonnt, und spielet und hüpft, winket ihm süßre Rast,

Als dem Städter der Goldsaal,

Als der Polster der Städterin.


Und der spielende Trupp schwirret zu ihm herab,

Gurrt und säuselt ihn an, flattert ihm auf den Korb;

Picket Krumen und Erbsen,

Picket Körner ihm aus der Hand.
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Einsam wandelt er oft, Sterbegedanken voll,

Durch die Gräber des Dorfs, sezet sich auf ein Grab,

Und beschauet die Kreuze,

Und den wehenden Todtenkranz.


Wunderseliger Mann, welcher der Stadt entfloh!

Engel segneten ihn, als er geboren ward,

Streuten Blumen des Himmels

Auf die Wiege des Knaben aus.
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Quelle:
Ludwig Christoph Heinrich Hölty: Sämtliche Werke. Band 1, Weimar 1914, S. 192-194.
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