Zweites Kapitel

[79] Der Arzt zog am runden Tische sein Büchelchen hervor, und las:


Der Lieutenant und das Fräulein

Anekdote aus meiner Praxis


Als ich in der Hauptstadt meinen Kursus machte, lernte ich einen Offizier von der Garnison kennen, der mir wegen seines gesetzten Wesens sehr zusagte, und von allen seinen Kamaraden als ein ruhiger Charakter bezeichnet wurde.

Dieser ruhige Charakter war schon seit einigen Jahren mit einem Frauenzimmer von desto unruhigerer Gemütsart verlobt. Fräulein Ida hatte alles Feuer zugeteilt bekommen, welches die Natur bei der Erschaffung des Lieutenants Fabian erspart[79] hatte. Lebendig, galt sie bei ihren Tänzern für geistreich, und konnte allerliebst sein, wenn ihre Partien auf vierzehn Tage hinaus versichert waren. Anfangs spielte sich das Verhältnis überaus artig fort, er wurde von ihrer Beweglichkeit in Bewegung gesetzt, sie gewann durch seinen Ernst mehr Haltung, woran es ihr früherhin zu ihrem Nachteile bisweilen gebrochen hatte. Das Unpassende, was das Publikum sonst wohl in Lieutenantsverlobungen findet, fiel hier weg, da die Braut ein artiges Vermögen besaß, und nur der Eigensinn der Mutter die Heirat bis zu dem Zeitpunkte verschob, wo der Schwiegersohn einen höheren Rang, und die Kompanie erlangt haben würde.

Indessen mußte der Monarch wohl noch eine große Anzahl verdienstvollerer oder älterer Lieutenants besitzen. Das Patent blieb länger aus, als man gedacht hatte, und da die Mutter ihre Tochter durchaus nicht ohne einen klingenden Titel von ihrem Herzen weggeben wollte, so dehnten sich die Tage der Hoffnung zu Jahren der Erwartung aus. Ein zu langwieriger Brautstand hat aber die bedeutendsten Unannehmlichkeiten. Die Liebe ist für Stunden, die Ruhe für das Leben; wer kann aber der Ruhe genießen, solange die Früchte noch auf dem Halme stehn? Das Gefühl gleicht nach so gedehntem Harren einem schönen Weine, den man im offnen Glase hat fade und abschmeckend werden lassen.

Grade kurz vor der Zeit, wo dieser bedenkliche Mangel an Geschmack im Verhältnisse der Liebenden eintrat, lernte ich den Lieutenant kennen, und ward durch ihn im Hause seiner zukünftigen Schwiegermutter eingeführt. Ich sah noch die letzten Sommertage der Zärtlichkeit, bald aber nahm ich eine gewisse Kälte zwischen den Brautleuten wahr, die nur mit einem unangenehmfeurigen Wesen abwechselte. Sie ließ sich wohl, wenn er dicht bei ihr stand, durch einen andern den Mantel holen, und betonte den Befehl; er rannte mitunter in der zierlichsten Gesellschaft nach heimlich-raschem Zwiegespräch in die Ecke, wo sein Hut und Degen sich befand, und nur meine Zuredungen konnten ihn alsdann bewegen, Aufsehn zu vermeiden und zu bleiben. Denn schon war ich sein Vertrauter geworden. Als junger Arzt mußte ich mir auf jede[80] Weise zu helfen suchen. Ich machte damals in Herzenssachen den Rat und Beistand, um stärkere Praxis zu bekommen.

Der Lieutenant bekannte mir seinen ganzen Kummer. Er könne seiner Geliebten nichts mehr recht machen. Jede Laune werde an ihm ausgelassen. Bald solle er erkaltet sein, bald sich ohne Gemüt betragen haben, neulich habe sie ihm vorgeworfen, er verstehe sie nie. Er sei wirklich noch ganz und gar der alte, gehe im Frühlinge mit dem ersten Märzenveilchen zu ihr, im Junius komme der Rosenstock, im Herbst ein Almanach an die Reihe der Geschenke, wie sonst; zum Geburtstag mache er seinen Vers, die Weihnachtsbonbonnière fehle nimmer. Aber alles werde jetzt kaltsinnig oder schnöde aufgenommen. Was er denn nur in dieser Not beginnen solle?

Ich konnte ihm freilich als einziges Mittel nur die Heirat nennen. Er versetzte, dieses stehe nicht in seiner Gewalt. Sich selber könne er nicht avancieren, und das Kriegsdepartement wolle es noch nicht.

Indessen sind solche ruhige Charaktere nur bis auf einen gewissen Punkt zu treiben, und dieser fand seinen Gleichmut

wieder, als er vor seinem Gewissen sicher war, im Dienste der Liebe nicht lässig geworden zu sein. Nun verwies er seine Braut, wenn sie ohne Grund klagte, an die Vernunft. Von dieser wollte sie nichts hören. Darauf kam er mit der Notwendigkeit hervor, sich zufriedenzugeben, wenn die Dinge einmal nicht anders gehn wollten. Worauf sie ihm sagte, er sei unausstehlich. Endlich, da alle Trostgründe niedrer Schicht nichts helfen wollten, wählte er als letzte Arznei die Fügungen des Himmels. Wenn sie über ein Fältchen zuviel oder zuwenig im Kleide sich ungebärdig anstellte, sprach er, man könne nicht

wissen, wozu ein Mißgeschick fromme. Wenn der Regen eine Spazierfahrt vereitelte, lehrte er, die Vorsehung lasse Tropfen fallen, damit die Sonne nachher um so herrlicher scheine. Und als sie einst weinend auf ihrem Stuhle saß, weil man den Gesang einer Mitschwester stärker beklatscht hatte, als den ihren, gab er, zu ihr tretend, den Spruch zu vernehmen: »Wen der Herr liebt, den züchtiget er!« Er war ein ordentlicher Kirchengänger, und hatte wirklich den Glauben, daß dem Geduldigen alle üblen Sachen zum Heile ausschlagen müssen.[81]

Zuerst war ihr dieser Ton neu, und es vergingen einige Wochen unter solchen Tröstungen ganz leidlich. Indessen wollte das Gute, zu welchem nach ihrer Meinung das Schlechte führen mußte, nämlich das Avancement, immer noch nicht erscheinen. Da ward sie böser als je, und der arme Phlegmatikus geriet in ein Fegefeuer, welches nicht läuternder sein konnte. Zu gleicher Zeit begann ein Einfluß auf sie zu wirken, welcher den Frieden zwischen beiden bald ganz aufhob.

Eine jener alten Jungfraun, welche, weil sie sitzengeblieben sind, es gern sähen, wenn das Heiraten abkäme, hatte sich des verdüsterten Sinns unsrer schönen Ärgerlichen bemächtigt. Sie ließ in ihre Gespräche einfließen, daß sie schon längst mit Kummer bemerkt, wie der Lieutenant immer gleichgültiger geworden sei, wie seine Neigung wohl keine Probe bestehen werde, und was dergleichen mehr war. Diese bösartigen Worte fanden ein offnes Ohr. Verdrießlich, von Mißstimmungen geplagt, ließ sich die Getäuschte zu dem Schritte hinreißen, dessen gefährliche Albernheit schon so viele beklagt haben. Sie wollte den Sinn ihres Liebhabers prüfen.

Eines Morgens wurde ich an das Krankenlager des Fräuleins berufen. Sie lag, anmutig gekleidet, allerdings im Bette, und klagte fast über jegliches, was den Menschen schmerzen kann. Die Mutter stand untröstlich daneben, sie liebte das Kind, vielleicht zu sehr. Man kann denken, daß mir, als jungem Arzte, eine Krankheit in einem geachteten Hause, welches selbst einigermaßen in der Mode war, höchst angenehm sein mußte, ich strengte daher die ganze Kraft meiner Diagnose, deren Feinheit man stets auf der Klinik gerühmt hatte, an, um die Natur des Übels zu entdecken. Aber der Puls ging vortrefflich, die Augen strahlten vom gesundesten Feuer, die Wangen lachten im reinen Rote der Jugend, die Zunge war unbelegt, alles, ohne Ausnahme alles befand sich leider im wünschenswertesten Zustande. Ich entschied mich, daß hier Verstellung sei, verordnete die unschuldigen Mittel, welche Hippokrates uns für einen solchen Fall an die Hand gegeben hat, äußerte indessen natürlich meine wahre Meinung nicht, sondern sagte der Mutter draußen, auf ihre ängstliche Frage: ob es auch keine[82] Gefahr habe? mit Ernst und Nachdruck, daß man noch grade zur rechten Zeit nach mir geschickt habe, und daß eine Stunde später für nichts mehr zu stehn gewesen sei.

»Sie glauben nicht, welches Zutrauen sie zu Ihnen hat«, sagte die Mutter. »Den Geheimen Rat durfte ich nicht holen lassen.« – »Nein«, dachte ich. »Der alte grobe Heros würde wenig Umstände gemacht haben, meine blöde Jugend ist für dergleichen Leiden geeigneter.«

Auf der Straße fand ich den Liebhaber, dem man schon durch die dritte Hand dieses Siechtum zu wissen getan hatte. Er war so bestürzt, wie es einem Seladon geziemt, und in Verzweiflung, daß er nicht gleich nach dem Hause seiner Braut eilen könne, aber er müsse auf die Parade. Ich beruhigte ihn, und verpfändete mein Ehrenwort, daß die Sache nichts weiter sei, als ein kleiner Schnupfen.

Gegen Abend fand ich mich wieder bei der verstellten Kranken ein, denn ich war neugierig, wohin diese Komödie führen werde. »Treuer, sorgsamer Freund!« sagte die Mutter, welche von meinem Eifer gerührt war. In bescheidner Entfernung vom Krankenbette saß der Lieutenant, wie es schien, zerstreut und verlegen.

»Es ist doch ein großes Glück um einen gleichmütigen Sinn«, stichelte die Mutter. »Man versäumt dann nichts Notwendiges, und macht die Geschäfte erst ab, bevor man dem Herzen folgt.«

»Er will es nicht glauben, daß ich so krank bin, Doktor«, seufzte Fräulein Ida, deren hochrotes Antlitz von großer Bewegung zeugte. Die alte Jungfer saß im Fenster und strickte für die Armen.

Diesmal erriet meine Diagnose die Krankheit. Mich gelüstete nach der Krisis, und da ich als junger Arzt, traurig für mich, überflüssige Zeit hatte, setzte ich mich zu den gesunden Damen, und knüpfte mit ihnen eins der Gespräche an, aus welchem man noch immer mit Geistesfreiheit nach etwas andrem hinzuhören vermag.

»Wenn ich sterbe, Fabian ...« lispelte das Fräulein. »Teure Ida, an einem Schnupfen stirbt man ja nicht«, versetzte freundlich aber gefaßt der Lieutenant.[83]

Sie begann immer heftiger und weinerlicher zu reden, kam in den Ton der Jean Paulischen Liane, sagte, im Traume sei ihr ihre selige Caroline erschienen, und sprach viel von Ahnung und Vorgefühl.

Ich saß so, daß ich im Spiegel die Szene beobachten konnte. Je pathetischer das Fräulein wurde, desto mehr nahm das Gesicht des Bräutigams den Ausdruck der Abwesenheit an, er half sich fast nur noch mit Interjektionen, als: »Hm! So! Ei bewahre!« Nachmals hat er mir gestanden, daß er an dem Tage einen Verdruß mit seinem Obersten gehabt habe, und daß seine Gedanken freilich mehr bei dem ungerechten Vorgesetzten, als bei dem Schnupfen des Fräuleins gewesen seien.

In einem solchen Zustande laufen einem gewisse Redensarten, die man häufig im Munde führt, ohne Sinn und Verstand über die Lippen. Daher geschah es, daß, als das Fräulein, welche über die Fassung ihres Geliebten immer mehr aus der Fassung geriet, mit unterdrücktem Weinen sagte: »Ja, ich empfinde ein gewisses Etwas in mir, ein Weben der Auflösung, die schwarzen Männer werden mich gewiß wegtragen« – der Lieutenant, der schon lange nicht mehr wußte, wovon die Rede war, zerstreut und feierlich ausrief: »Wie Gott will! Der Wille des Herrn geschehe!«

Schrecklich war die Wirkung dieser Worte. Das Fräulein, entrüstet über eine solche Ergebung in die Fügungen des Himmels, die doch gar zu weit ging, warf meine unschuldige Medizinflasche zu Boden, daß die Scherben umherflogen, und rief:

»Aus meinen Augen! Ich habe dich durchschaut! Fort! Wir sind für immer geschieden!« – »Wenn meine Tochter stirbt, sind Sie ihr Mörder«, wehklagte die Mutter. Die alte Jungfer hatte ihr Strickzeug in den Schoß sinken lassen, und äußerte so mit Salbung: daß derjenige zu beneiden sei, der so früh, wie Ida, die Einsicht in die Nichtigkeit aller Erdenlust gewinne.

»Erlauben Sie mir nur einige Worte zu meiner Verteidigung ...« stammelte der arme Fabian. »Es ist jetzt nicht Zeit dazu, machen Sie, daß Sie fortkommen«, raunte ich ihm zu.

Ich war mit den Damen allein. »Ida! meine Ida!« seufzte die Mutter. »Diese Gemütserschütterung in deinen Leiden! Erhole dich, mein Kind, denke nicht mehr an den Abscheulichen.« –[84] Ich beschloß, die kleine Heuchlerin zu strafen, und die alte Jungfer dazu. Und so ist es gekommen. Ich erklärte den Zustand des Fräuleins für verschlimmert, ich ernannte die bejahrte Freundin zur nächtlichen Wächterin, da die Mutter eine solche Anstrengung nicht aushalten könne. Drei Tage mußte die gesunde Kranke im Bett zubringen, drei Nächte hatte die Friedensstörerin auf dem Wächterstuhl zu versitzen. Endlich erklärte jene sich mit Gewalt für hergestellt, zuletzt lief diese aus dem Hause und verschwor, es wieder zu betreten, wenn ich dort aufgenommen bleibe. Darüber bekam sie mit der Mutter Streit und Feindschaft, die mich einen seltnen Menschen nannte. Kurz, der böse Feind hatte sich diesmal die Grube selbst gegraben.

Mehrere Wochen vergingen, in denen ich nichts von meinen Liebesleuten hörte. Einige wirkliche und zwar sehr ernste Krankheiten hatten meine ganze Zeit in Anspruch genommen.

An einem schönen Märztage wanderte ich über den neuen Kirchhof, wo alle Sträucher in dem ungewöhnlich frühwarmen Wetter schon die Knospenaugen aufschlugen. Ich wollte die neuen Einrichtungen im Leichenhause besichtigen, welche zur Rettung der Scheintoten angebracht worden waren. Soeben mit dem Meisterdiplom versehen, hatte ich, die Obsorge über jene Anstalten zu führen, von der Stadt den Auftrag bekommen. Als ich durch die gewundenen, mit Kies reinlich gefesteten Wege des parkartigen Gottesackers ging, und das im gefälligen Stil erbaute Leichenhaus hinter einem Rasenplatze liegen sah, sagte ich: »Es ist kein Wunder, daß die Menschen jetzt mit dem Leben unzufrieden sind, man macht die Sterbehäuser und Grabstätten zu anlockend.«

Auf einem freien Platze fand ich unvermutet meinen Phlegmatikus. Er stand bei einem Sträußermädchen, die ihren Korb voll Frühlingsblumen ihm vorhielt. Er wählte und suchte sich das Schönste, was sie an Veilchen, Primeln und Aurikeln hatte, zusammen. »Für wen der Strauß?« fragte ich. »Für Ida«, versetzte er.

»Gottlob! So seid ihr versöhnt?«

»Ach nein! Ich habe sie nicht wiedergesehn. Aber es ist heute ihr Geburtstag. Ich will den Strauß unter ihrem Porträt in Wasser setzen.«[85]

Er sprach diese Worte ruhig, ja kalt. Aber seine Augen waren erloschen, und die Wangen bleich. Ich muß gestehn, daß mich die stummen, geduldigen Patienten immer am meisten zur Teilnahme bewegt haben. Ich sah meinen armen Verstoßnen an, ich überlegte hin und her, ob hier nicht mit einem raschen Streiche zu helfen sei? Die Natur der Leidenschaften, insbesondre der Liebe, kannte ich aus der Seelenlehre, das Fräulein war mit der Mutter in der Stadt, das wußte ich. Ich war jung, verwegen! Ohne an die möglichen Folgen eines tollen Einfalls zu denken, lud ich den Lieutenant ein, sich von mir in die Rettungsanstalten zeigen zu lassen. Das Sträußermädchen wies ich an, vor der Türe zu warten.

Der Wächter war ausgegangen; alles begünstigte meinen Plan. Ich öffnete mit dem Hauptschlüssel, wir waren allein im leeren, schallenden Hause. Ich erklärte meinem Begleiter jedes Ding: die Einrichtung und Verbindung der Gemächer, die leicht zu bewegenden Glockenzüge, die Wärmmaschinen, die Frottierzeuge, die Bürsten, den Elixier- und Essenzenapparat des Wächters für die ersten Augenblicke des Erwachens aus dem furchtbaren Schlummer. Er fragte, ernst und wissenschaftlich gesinnt, verständig nach allem, und keine empfindsame Betrachtung kam in diesem Hause des Todes über seine Lippen. Endlich sagte er scherzend: »Diese reinlichen schimmernden Wände, die bronzenen Lampen, die blinkenden Stahlgriffe, die schönen Teppiche und Matratzen zeigen, wie jetzt alles auch bei den schrecklichsten Dingen zum Bequemen und Geschmückten strebt. Es fehlen nur noch die Tische mit den Journalen, um den Geretteten Unterhaltung zu bereiten, bis die Ihrigen sie wieder abholen.«

Ich bat mir seinen Verlobungsring aus. Er stutzte, wußte nicht, was ich wollte. Ich erklärte ihm trocken, daß ich gesonnen sei, noch heute zwischen ihm und seiner Braut dauerhaften Frieden zu stiften, aber dazu des Ringes bedürfe, nahm ihn bei der Hand, und streifte mit freundschaftlicher Gewalt ihm den Ring vom Finger. Er, in plötzlich auflodernder Hoffnung und Freude, rief: ob ich verwirrt sei? Ich, ohne zu antworten, schrieb mit Bleifeder auf ein ausgerißnes Blättchen meines Portefeuilles ein paar Zeilen an die Schwiegermutter, legte den[86] Ring bei, verschloß das Billet mit Oblate, eilte zum Mädchen hinaus, sagte ihr, den Herrn habe ein Nervenschlag betroffen, sie sollte das Briefchen auf der Stelle da und da hintragen.

Mein bestürzter Freund war bis auf den Flur gefolgt, und hatte die Bestellung gehört. Ich nötigte ihn in eine der angenehmsten Sterbekammern zurück. »Um Gotteswillen!« rief er, »was treiben Sie? was machen Sie aus mir?« – »Einen Scheintoten«, versetzte ich. Er sah mich an, wie einen, von dem man glaubt, er habe den Verstand verloren. »Idas Krankheit«, sagte ich, »führte den Bruch herbei. Ihr Tod soll das Bündnis herstellen; das nennt man einen Klimax, welcher zu den wirksamsten Redefiguren gehört. Sie haben die Wahl, entweder mich zuschanden zu machen und sich jede Aussicht zu verbaun, oder folgsam zu sein, und Ihr Glück im letzten Akt einer Posse zu empfangen.« Er stand anfangs starr, dann verwünschte er meine Torheit, und überschüttete mich mit Vorwürfen. Ich behielt indessen Geistesgegenwart, kramte Schnepper und Bindzeug aus, setzte eine Menge Flaschen auf den Tisch, ließ den Essigäther duften, verbrannte Federn, kurz, ich richtete das Zimmer so zu, daß es ganz medizinisch aussah und roch. Er, über meine Kaltblütigkeit in Verzweiflung, warf sich auf eine Matratze. Ich erklärte ihm, da könne er liegenbleiben, denn dahin gehöre er in seinem jetzigen Zustande. Ich löste seine Halsbinde, knöpfte die Uniform und Weste auf, und machte mir immerfort zu schaffen, um meine Unruhe zu verbergen, die sich mit dem Nachdenken doch allmählich bei mir einzustellen begann.

Nach einiger Zeit sprang er auf, und rief: »Ich muß fort, ich bin an diesen Dingen unschuldig! Sehen Sie zu, wie Sie aus der Verlegenheit kommen, die Sie angerichtet haben.«

Ein Wagen fuhr sturmschnell vor. »Sie kommen«, rief ich, »ich wußte das ja!« und ging ihnen entgegen. Sie waren es, Ida und ihre Mutter, meine Berechnung war richtig gewesen. Aus dem Schlage stürzte das Fräulein entgeistert, blaß, die Augen voll Tränen, und rief: »Wo ist seine Leiche?« – »Er lebt, beruhigen Sie sich, er ist erwacht, meine Furcht war zu voreilig!« rief ich ihr hastig zu. »Wo? Wo?« stammelte sie, flog in das Haus, und wie durch Instinkt geleitet, in das rechte Zimmer.[87]

Ich half der Mutter aus dem Wagen. Sie wußte sich in diesen Wechsel von Trauer und Freude nicht zu finden. »Teuerster, warum erschreckten Sie uns? Man muß bei dergleichen doch erst das Ende abwarten«, sagte sie. Ich bat um Verzeihung, ich hätte ganz den Kopf verloren gehabt, sie möchte einem jungen unerfahrnen Manne um des glücklichen Ausgangs willen nicht zürnen.

Wir traten in die Sterbekammer. Da war die Liebe von den Toten auferstanden. Fabian und Ida lagen einander in den Armen. Sie herzten sich und küßten sich, und wußten beide nicht, was sie taten. Sie wollte von ihm wissen, wie ihm zumute gewesen sei? er erwiderte, in diesem Punkte besonnen, er wisse von nichts, sie müsse den Doktor fragen.

Ich verbot alle Erklärungen, und riet ihnen, sich des Lebens zu freun. Die Mutter trat hinzu, gab ihm die Hand, und sagte sehr freundlich: »Lieber Sohn, Sie machen uns schöne Streiche. Mein Gott, wie das hier aussieht und riecht, es fällt mir auf die Nerven. Verlassen wir den leidigen Ort.« Ich benutzte den Augenblick, küßte ihr ehrerbietig die Hand, und sagte bescheiden: »Edle Frau! Ida ist vor Liebe krank geworden, Fabian wäre beinahe daran gestorben; sollen Ihre Kinder noch länger schmachten?«

Die Gewalt dieser Auftritte hatte sie erweicht. Sie gab die Zustimmung zu dem, was die Verlobten wünschten. Es folgte ein neuer Sturm von Liebkosungen und Umarmungen, in dem ich ebenfalls zuletzt von ohngefähr mehrere Küsse bekam.

Indessen waren die Fügungen des Himmels auch tätig gewesen. Denn als wir eben aus dem seltsamsten aller Boudoire aufzubrechen im Begriff standen, nahte sich der Bursche Fabians mit der in gemeßner Haltung vorgebrachten Meldung, daß der Oberst schon dreimal nach ihm geschickt habe, indem das ersehnte Patent nun endlich eingetroffen sei.

So führte Ida statt eines erblichnen Lieutenants, nach dem sie ausgefahren war, einen lebendigen Capitain nach Hause. – Sie leben sehr glücklich miteinander, manche Szene, die sonst in die Ehe fällt, haben sie vorher schon unter sich abgetan, dazu ist wenigstens der lange Brautstand dienlich gewesen.[88]

Mir brachte die sorgsame Behandlung des Fräuleins während jener drei Tage und die Rettung des Bräutigams große Gunst in den vielen mit dem Hause verbundnen Familien zuwege. Einer lobte mich immer noch mehr als der andre, so entstand mir bald ein Ruf, den mir so manche an armen Leuten im Verborgnen geübte saure Mühe nicht erworben hatte. Zuerst schlug mich das Gewissen etwas, nachher beruhigte ich mich durch den Anblick der allgemeinen Scharlatanerie, die in der Welt herrscht, über die meinige, die wenigstens niemand geschadet, vielmehr eine zufriedne Ehe gestiftet hat.

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 79-89.
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