Drittes Kapitel

[89] In den folgenden Tagen war in den Zimmern des Herzogs große Geschäftigkeit. Ein fremder Rechtsgelehrter war angekommen, mit dem der Fürst und Wilhelmi in eifrigen Gesprächen unter Papieren und Akten zusammensaßen. Es wurde viel nach dem Archive geschickt, bunte Stammbäume mit vergoldeten Siegelkapseln lagen auf den Tischen umher, man holte Bücher aus der Bibliothek; eine wichtige Frage beschäftigte die Versammelten. Der Advokat hatte die Nachricht von dem Tode eines Seitenverwandten überbracht, und mit dieser Post ungewünschte Eröffnungen verbunden. Wir fassen das Resultat jener Gespräche in einem kurzen Berichte zusammen.

Das alte Haus, dessen Glanz gegenwärtig nur allein noch der Herzog in kinderloser Ehe repräsentierte, teilte sich schon seit hundert Jahren in zwei Linien, in die ältere, und in die jüngere gräfliche. Die Natur schien es auf ein Erlöschen des berühmten Namens angelegt zu haben, denn jener Seitenverwandte, der Graf Julius, war der letzte der jüngern Linie gewesen. Er hätte noch länger leben können, wenn nicht zu rascher Genuß seine Tage abgekürzt hätte. Als Jüngling vaterlos geworden, gebot er über ein bedeutendes Erbe, dem er auf keine Weise vorzustehen wußte. Kühnheit und Leichtsinn verwickelten ihn in vielfältige Abenteuer, er glänzte am Hofe, er wollte auch zu Hause glänzen; dieser gedoppelte Aufwand hätte die Minen Perus erschöpfen können. Bald war er von Gläubigern umringt,[89] sah sich in Verlegenheit, und bei seinem gänzlichen Mangel an Erfahrung, ohne Mittel, aus derselben zu kommen.

Damals lernte er Hermanns Oheim kennen, welcher in der für Tausende unglücklichen Periode, die unsrem Vaterlande angebrochen war, eben sein Glück zu machen begann. Vom düstern kleinen Comptoir im Hinterstübchen eines mäßigen Hauses ging er mit sichrem Schritte auf die Million zu. Schon dachte er an Landbesitz, um seine großen, weitgreifenden Fabrikplane zu verwirklichen. Graf Julius sprach ihn um ein bedeutendes Kapital an, womit die dringendsten Schulden bezahlt werden sollten. Der Oheim pflegte sonst an Verschwender, deren Güter bereits über die Hälfte des Werts andren gehören, nicht zu leihen. Indessen mußte ihm wohl in diesem Falle der Verschwender selbst eine gute Hypothek sein. Er gab und gab, bis die Besitzungen des Grafen, nach einem freilich wohlfeilen Anschlage, sein waren. Nun erklärte er, nichts mehr geben zu können. Jetzt war der Graf erst in der rechten Not. Die Zinsen verschlangen die Einkünfte, niemand wollte sein Geld mehr bei ihm wagen. Man weiß, wie die allgemeine Verzweiflung jener Zeit auch das Letzte, worauf sich sonst der Mensch verläßt, den Grund und Boden, im Werte heruntergedrückt hatte.

Zum zweiten Male erschien ihm der Oheim jetzt als Retter und Heiland. Er schlug ihm einen Verkauf der Güter vor, wollte sie für die vorgeschoßnen Summen annehmen, und dem Grafen freie Wohnung auf dem Schlosse seiner Väter, sowie eine jährliche anständige Rente gewähren. Das Geschäft war zulässig; die Gesetze der großen Nation, welche uns beherrschte, hatten bekanntlich alle feudalistischen Beschränkungen des Eigentums aufgehoben. Der Graf frohlockte bei dem Gedanken an ein sorgenfreies Leben, wie seine Imagination es ihm vorstellte; er schlug ein. Die Rittergüter gingen in die Hände des Bürgerlichen über, das Geld hatte gesiegt.

Nach einigen Jahren des Verdrusses, welchen der Graf statt der erwarteten Lebensfreude gefunden, war er gestorben, und an diesen Todesfall knüpften sich die wichtigsten Folgen. Die herzogliche Linie, in der jedoch diese höhere Würde ein neues Datum hatte, war im Besitze der Haupt- und Stammgüter, deren[90] Komplex vor kurzem zur Standesherrschaft erhoben worden war. Aber nie hatte sie unangefochten besessen. Der Ahnherr des Hauses sollte sich nämlich mit einer Person unadlichen Standes verbunden haben; man sprach sogar von der Tochter eines Leibeignen. War dies der Fall, so hatte die Deszendenz natürlich nie ein Erbfolgerecht gehabt, und ihr Besitz war eine Usurpation gewesen. Darauf stützten sich die Nachkommen des zweiten, in die gesamte Hand aufgenommnen Bruders, die Glieder der jungern Linie. Sie behaupteten, und hatten immer behauptet, die rechten Erben der Herrschaft zu sein.

Die jüngre Linie erlosch, wie gesagt, mit dem Grafen Julius. Als dem Herzoge diese Nachricht wurde, empfand er eine sehr verzeihliche Freude. Nun waren alle Zweifel, die ihn bisweilen noch in seinem Wirken beunruhigt hatten, getilgt; der letzte war mit dem letzten Prätendenten in die Gruft gegangen. Heiter hatte er an jenem Abende die Anekdote des Arztes angehört. Man blieb bis spät in die Nacht beisammen, lachte und scherzte über die Torheiten der Menschen, und teilte einander in mannigfachen Wendungen die aus den Memoiristen geschöpfte Überzeugung mit, daß die geringfügigsten Dinge, ein Wort, ja ein Buchstabe die Ereignisse so oder so gestalten.

Der Arzt hatte die lustigsten Einfälle über die Ahnfrau, deren reines Geblüt noch eine Untersuchung habe bestehen sollen, nachdem die Möglichkeit einer chemischen Analyse längst verschwunden gewesen sei. Zuletzt brachte er einen Toast auf die Ruhe ihrer Seele aus, in welchen der Herzog munter, die Herzogin gefällig, und Wilhelmi widerstrebend einstimmte. Dieser hatte seine ernste Stimmung nicht verloren, und sagte, als die Gläser klangen: »Mit den Geistern ist nicht gut scherzen.«

Am andern Morgen zeigte es sich, daß die Sache nicht zu Ende sei. Der Rechtsgelehrte, welcher abends zuvor seine Müdigkeit vorgeschützt hatte, um auf dem Zimmer bleiben zu dürfen, überreichte eine Zession, welche der Graf bereits vor einigen Jahren ausgestellt hatte. In derselben trat er alle seine Rechte auf die Herrschaft an Hermanns Oheim ab. Man musterte voll Erstaunen diese Urkunde, man wußte von Mißverständnissen, selbst von Streitigkeiten zwischen beiden Teilen, man konnte sich den Beweggrund zu einem so auffallenden[91] Schritte nicht erklären. Aber alles Erstaunen und Verwundern führte zu nichts. Die Urkunde lag vor; jede Form war beobachtet worden, man sah sich genötigt, auf den Inhalt einzugehn, womöglich dessen Gültigkeit zu widerlegen.

Letztres versuchte Wilhelmi. »Die Güter, welche jetzt die Standesherrschaft bilden, waren unter der deutschen Reichsverfassung Lehen«, sagte er. »Darauf folgte die Fremdherrschaft mit ihren Umwälzungen, dann der Befreiungskrieg. Der Vater meines Gebieters starb nach dem Frieden. Entweder hat nun der Herzog die Standesherrschaft als freies Eigentum überkommen, oder als Lehen. Im ersten Falle waren alle aus den Rechtsantiquitäten hergenommnen Ansprüche der jüngern Linie erloschen, keine Mißheirat eines Vorfahren kann meinem Herrn noch gegenwärtig schaden. Im letzten Falle hatte nur der Graf, nur er für seine Person ein Familienrecht, welches er einem Dritten, Fremden, Ihrem Machtgeber nicht übertragen durfte.«

Darauf erwiderte der Rechtsgelehrte: »Der erste Fall ist nicht eingetreten. Man hat es für gut gefunden, nach der Katastrophe, welche Europa den alten Dynastien zurückgab, die schon halbeingeschlafnen agnatischen Rechte der Familien wiederzuerwecken. Seine Durchlaucht besitzen Ihre Schlösser nicht, wie der Bauer sein Gütchen, der Bürger sein Haus besitzt. Alle Fehler, alle Mängel aus der ältesten Vorzeit her, haften auf dem jüngsten Erwerber.«

»Welche also nur der Agnat, nur der ebenbürtige Anwärter rügen dürfte!« warf Wilhelmi ein.

»Keinesweges«, versetzte der Rechtsgelehrte. »Indem man jene abgekommnen Ansprüche herstellte, ging man, wenigstens hiesigen Landes nicht so weit, auch die Verbindung zwischen Lehnsherrn und Vasallen aufs neue erstehen zu lassen. Nur die persönlichen Rechte der Gevettern sind restauriert, sie haben aber eben wegen der nur teilweise geschehenen Operation eine Umwandlung erlitten, sie stehen nun mit allen übrigen gewöhnlichen Befugnissen in Reihe und Glied. Ich frage: warum hätte Graf Julius über die seinigen zu verfügen nicht die Macht gehabt?«

Die Deduktion konnte nicht bestritten werden. Wilhelmi äußerte sich sehr leidenschaftlich über das kindische Halbwesen[92] der Zeit, über das ungeschickte Vermischen von Alt und Neu, über die grellen Widersprüche, die aus dem jetzt so häufig ersichtlichen Mangel an allem Gefühl für die Ergründung der eigentlichen Verhältnisse entsprängen.

Der Herzog unterbrach ihn und sagte ruhig: »Der Monarch hat mich durch seine Gnade aus der Reihe der übrigen Untertanen emporgehoben. Wir waren Fürsten des Reichs, das sind wir, ich weiß es, nicht mehr, es kam eine Zeit, in der wir nur gewöhnliche Edelleute gewesen sind. Aber die Zeit ist vorüber.

Ich stehe wieder bevorrechtet zwischen Thron und Volk, eigentümlich, nur mir selbst und meinen Pairs gleich da. Ich gehöre der Herrschaft und die Herrschaft gehört mir. Wie kann der Bürger, der Fabrikant diesen Zusammenhang zerreißen?«

»Der Regent wird den Fabrikanten nicht zum Standesherrn machen«, antwortete der Rechtsgelehrte. »Aber der Bürger kann Rittergüter erwerben und benützen. Keine Verfügung des Monarchen schadet wohlerworbnen Rechten dritter Personen. Graf Julius hatte seine Anrechte als freies persönliches Eigentum erworben. Ew. Durchlaucht sind Standesherr erst seit zwei Jahren, es ist kein Geheimnis, daß Ihre Erhöhung eben wegen der Zweifelhaftigkeit Ihres Rechts so bedeutenden Aufschub gelitten hat. Unsre Zession ist vier Jahre alt. Wir haben bis jetzt damit nicht auftreten wollen, weil der Graf bei seinen Lebzeiten dies unterlassen zu sehn wünschte. Zu allem Überflusse steht in Ihrem Diplom die ausdrückliche Klausel:

›Vorausgesetzt, daß die jetzt besitzende Familie ein vollständiges Recht hat‹.«

Der Herzog erinnerte daran, daß die Linie die Herrschaft seit unvordenklicher Zeit innegehabt habe. Hierauf bemerkte sein Gegner, daß, wie man gegenseits sehr wohl wisse, der Prozeß zur gehörigen Stunde bei den Reichsgerichten angehoben und immer im Gange erhalten worden sei, daß derselbe aber nach wetzlarischer Sitte unter dem Stabe des Kammerrichters seine Endschaft nicht erreicht habe. Er wies die Abschrift eines Dekrets vor, vielleicht des letzten, welches jener Hof erlassen, und schloß mit dem Anführen, daß das Deutsche Reich bekanntlich noch nicht seit dreißig Jahren aufgelöst sei, und daß mithin von einer Verjährung hier nicht geredet werden könne.[93]

Ohne den Vortrag des Advokaten einzuräumen, ließ man die Verhandlung über diese Punkte fallen. Von allen Seiten wurde gefühlt, daß die tote Ahnfrau in dem Streite den Ausschlag geben werde. So ging also doch wieder dieses Gespenst, und nicht in theatralischer, sondern in sehr wirklicher Weise durch das Haus. Die Gegner waren im Besitz der unverwerflichsten Zeugnisse, daß der Ahnherr sich mit einer Jungfrau ehelich verbunden hatte, vor deren Namen das Wörtlein von fehlte. Die Extrakte aus den Kirchenbüchern wiesen zugleich nach, daß ein Landmann gleiches Namens erst lange nachher in dem Dorfe, welches sich späterhin zum Residenzflecken der Herrschaft erhob, verstorben war. Man hielt ihn für den Vater des Mädchens; die regierende Linie, so folgerte man, stammte von einer Bäuerin ab. »Alle diese Stammbäume, welche ich hier vor mir ausgebreitet liegen sehe, beweisen nichts!« rief der gewandte Konsulent. »Es sind einseitig in Ihrem Hause aufgestellte Tafeln, die noch dazu die untrüglichsten Zeichen später Abfassung an sich tragen.

Wir nehmen als möglich an«, fuhr er fort, »daß jener Graf Archimbald seiner Maria Sibylla vom Kaiser den Adel erwirkt hat. In diesem Fall würden wir für ein Geringes abzustehn bereit sein. Die Familienstatuten reden nur vom Adel der Mutter schlechthin, als Bedingung der Erbfähigkeit der Kinder, nicht von altem stifts- und turnierfähigem Adel, wahrscheinlich, weil man an einen andern gar nicht dachte. Wir sehn jedoch ein, daß unsre Ansprüche dann zweifelhaft würden, und daß, wenn die Sache bei Gericht in die Hände eines Referenten von neuen Ansichten fiele, die geadelte Bäuerin leicht für vollwichtig erachtet werden möchte. Aber wo ist der Adelsbrief? War er je vorhanden, so muß er doch aufbewahrt, er muß herbeizuschaffen sein.«

Über diese Urkunde gab der Herzog eine ablehnende Antwort. Er wußte aus seiner frühen Jugend, daß sie dagewesen war. Noch wie von heute erinnerte er sich des Tages, an dem der alte strenge Großvater sie ihm gezeigt hatte, mit den Worten: betrachte das Blatt, es verteidigt uns gegen die Vettern. Noch sah er mit den Augen des Gedächtnisses die braune Saffiankapsel, in welche der alte Mann sie tat. Nachher war sie[94] verschwunden. Beim Kammergericht hatte man ein Jahrhundert hindurch über den Punkt gestritten, welcher von beiden Teilen zu beweisen habe, und zur Vorlegung des Dokuments war man daher nicht gediehen.

Wilhelmi suchte Tag und Nacht im Archive, aber seine Mühe war diesmal, wie früher, vergebens. Darauf eröffnete der Advokat die Vergleichsvorschläge des Oheims. Sie liefen auf eine Halbierung der Güter hinaus. Der Herzog ließ den alten Fabrikherrn einladen, mit ihm persönlich zusammenzutreten.

Der Rechtsgelehrte übernahm es, seinen Klienten zum Besuche auf dem Schlosse zu vermögen.

In seinen einsamen Augenblicken fühlte sich der Fürst sehr erschüttert. Den wilden verschwenderischen Vetter hatte er nie gescheut, vor dem alten eisernen Handelsmann ergriff ihn eine Art von Geisterfurcht, über die er nicht Herr zu werden vermochte. Mit diesen Schlössern, Feldern und Wäldern durch alle Erinnerungen verwachsen, hielt er es für eine Unmöglichkeit, aus solcher Gemeinschaft zu scheiden. Seine Existenz stand auf dem Spiele, das empfand er, und daß er seinen Sturz nicht überleben wolle, gelobte er sich vor den Bildern der Ahnen. Indessen, gewohnt, immer derselbe zu scheinen, wie es auch innerlich wechselte, zeigte er vor andern das heitre Antlitz eines Manns, den nichts in Erstaunen setzt. Es war ausgemacht worden, der Herzogin diese Verhandlungen geheimzuhalten. Sie ahnte daher nicht, welche Wolke über ihrem Haupte schwebte.

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 89-95.
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