Viertes Kapitel

[95] Aber auch sie hatte ihr Leid. Jenes unglückliche Kind des Hauses, die verirrte Johanna lag ihr schmerzlich am Herzen. Endlich, nach vielen vergeblichen Erkundigungen wußte man so viel, daß sie in der großen Stadt im Norden mit dem Manne lebe, dem sie ihr Geschick anvertraut hatte. Das Gerücht sprach von einer Vermählung. Man würde früher ihre Spur gefunden haben, wenn man nicht aus Rücksicht auf den Ruf der Entflohnen alle Nachforschungen nur durch die dritte Hand anzustellen sich genötigt gesehn hätte.[95]

Die Herzogin war durch das Ereignis im Innersten verletzt.

Den Herzog sah sie beschäftigt, gedankenvoll; sie meinte das Gespräch mit ihm über diese Verwirrung bis zu einem freieren Zeitpunkte verschieben zu müssen. Inzwischen wollte sie nicht feiern. Sie nahm sich vor, der Unglücklichen zu schreiben; auf welche Weise dieser Brief zu versenden? das sollte späterhin überlegt werden. Manche Stunde saß sie, das Haupt auf die Hand gestützt, vor ihrem Schreibtische, nie war ihr etwas schwerer geworden, oft legte sie halb unwillig die Feder weg, endlich kam ein Blatt zustande, in welchem ihre ganze Seele zu lesen war.

Der Advokat hatte sich der Herzogin vorstellen lassen, und war als Glied der Gesellschaft aufgenommen worden. Man behandelte ihn artig, wie seine Sitte und Bildung es verdiente. Insbesondre ließ ihm der Herzog die unheilbringende Botschaft nicht entgelten. Denn jener benahm sich bei der Erörterung der Frage: wer hier Herr sein solle? so verständig und bescheiden, daß der Fürst eher eine Art von Neigung zu ihm faßte. Er hielt ihn unter einigen Vorwänden etliche Tage zurück, weil er immer noch hoffte, Wilhelmi werde die vermißte Urkunde finden, und damit dem ganzen Streite auf der Stelle ein Ende machen.

In diesen Tagen ging bei dem jungen Manne eine große Verändrung vor, und er bedurfte der ganzen Festigkeit, welche ihn auszeichnete, um das Gefühl seiner Pflicht in sich lebendig zu erhalten. Teils Wilhelmi, teils der Herzog selbst hatten ihn im Schloß und in den Umgebungen, die nicht leicht ansprechender gefunden werden konnten, umhergeführt. Überall stieg ihm das Bild eines würdigen, stillprächtigen Daseins entgegen, welches auf den Erwerb verzichtet, weil es in seiner Fülle genug hat. Und wie in einer schönen Landschaft ein klarer Wasserspiegel die reizende Natur ringsumher noch einmal verklärt wiedergibt, so erhielt dieses Bild adlichen Lebens zuletzt sein seelenvolles Auge in der Anmut der Herzogin.

Vom Herzoge hatte er sich beurlaubt. Bei ihr angemeldet, war er nach einem Gartenkabinette beschieden worden. Himmelblaue Tapeten bedeckten die Wände dieses Zimmers, weiße Meubles mit goldnen Leisten standen umher, von Konsolen[96] herab sahen die Büsten der großen Dichter. Heitre und doch ernsthafte italienische Landschaften füllten die Zwischenräume aus; auf einem runden Tische lagen rote vergoldete Bände. Der Advokat schlug einige derselben auf, und fand »Hermann und Dorothea«, »Tasso«, »Iphigenia«, Homer, die Gesänge unsres Schiller. Die Herzogin hatte dieses Zimmer vor kurzem erst einrichten lassen; man brachte dort den Abend zu, wenn es draußen zu schwül war, und genoß der Aussicht auf die neuen Anlagen, welche in stetiger Folge die Blüten jeder Jahreszeit spendeten. Alle Hausgenossen, welche zum Zirkel gehörten, besaßen den Schlüssel zu diesem Gemache, um nach Bequemlichkeit dort verweilen zu können.

Er war eine geraume Zeit lang allein, und seine Empfindungen wurden immer trüber, je länger er diese gewölbten Marmorstirnen, diese Prospekte auf Felsen und Palmen, Himmel und Meer betrachtete, oder in die gelbrot glühenden Georginenbeete der holden Fürstin schaute. Der junge Mann hatte nichts von dem, was man heutzutage ästhetische Bildung nennt, aber er folgte einem natürlichen Gefühle. Seine erste Empfindung war stets, andre Menschen für edler und klüger zu halten als sich, und das Lied eines Dichters konnte ihn bis zu Tränen rühren.

In diesem, der geistigen Erholung gewidmeten Orte, drängten sich ihm nun alle Anregungen der vergangnen Tage zusammen. Schon erblickte er hier, wo das Schöne gute Menschen beseligt hatte, ein ödes rechnendes Comptoir, schon sah er dort, draußen, quer über die armen Blumen, über den samtnen Rasen einen Weg für Karren und Schleifen zu irgendeiner trostlosen Fabrikhütte führen. Er kam sich selber hassenswürdig und niedrig vor, daß er zu solchem Beginnen die mithelfende Hand bieten wollte. Mit dem Buchstaben eines ungerechten Rechts den geheiligten Zustand so verehrungswerter Personen zu zerstören, es erschien ihm gemein und ruchlos. Aber was sollte er tun? Wie durfte er eine Treulosigkeit begehn, gegen welche sich alle seine Begriffe sträubten? Im heftigen Kampfe mit sich selbst ging er auf und nieder, und blickte bald diese bald jene Büste an, als fragte er die Helden des Gesangs um Rat in seiner Not.[97]

Denkverse standen mit goldnen Buchstaben unter jeder Konsole. Er las den Spruch unter Schillers Haupt:


Die Weltgeschichte ist das Weltgericht!


Und plötzlich kam ihm, wie durch innre Erleuchtung der Entschluß. »Ja«, rief er, »es gibt etwas Höheres, als die Form, und das ist der Gehalt. Über alle Worte und Satzungen hinaus liegen die Quellen des Wahren und Guten. Kein Kontrakt kann uns zu einer Schlechtigkeit verpflichten. Mein Machtgeber kennt den ganzen Stand der Sache, ausführlich will ich ihm melden, was ich hier verhandelt habe, aber dann rühre ich keine Feder mehr für ihn an!«

In einer Selbstvergessenheit, wie sie ihn noch nie überwältigt hatte, warf er sich an einem Sessel vor der Büste des Dichters nieder. Er war mit sich im reinen, er hatte eine neue Richtschnur für sein künftiges Verhalten gefunden. Er gelobte dem Verewigten über ihm, daß er fernerhin nur dem seinen Mund leihen wolle, der ein wirkliches, nicht ein bloß papiernes Recht habe, müsse er auch arm und unangesehn darüber bleiben.

So knieend fand ihn die Herzogin. Wer beschreibt ihr Erstaunen? Bestürzt erhob er sich, und konnte kein Wort vorbringen. »Sie knieten an keiner unwürdigen Stelle«, sagte sie nach einer Pause. »Man hat vor diesem Haupte immer so reine Gedanken. Sei es Ihnen nicht unlieb, daß ich Sie überrascht habe. Ich bin von der altfränkischen Partei, und liebe den tugendhaften Künstler, wie man ihn so schön genannt hat.«

Ihr Auge schimmerte, sie nahm eine Rose vom Busen, hauchte einen Kuß darauf, und legte sie auf den Sessel unter der Büste.

Er hatte sich inzwischen gesammelt und schon ganz wieder die Haltung des schlichten Geschäftsmanns gefunden. »Ich kann keine Worte vorbringen, welche Ihrer, und der Geister, die uns umschweben, wert wären«, sagte er. »Ich versichre nur, daß es mich sehr freut, auf Ihr Schloß gekommen zu sein, und daß ich hier etwas für meinen Beruf gelernt habe.« Man wechselte noch einige freundliche Reden. Sie empfand ein stilles Zutrauen zu dem Manne, der vor ihrem geliebten Sänger das Knie gebogen hatte, und nun so fest und doch so anspruchslos[98] vor ihr stand. Sie reichte ihm die Hand zum Kusse. Hocherrötend empfing er dieses Zeichen des Wohlwollens. So schied der verwandelte Feind.

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 95-99.
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