Siebentes Kapitel

[105] Während seine Wohltäter auf so verschiedne Weise beschäftigt waren, lag Hermann noch immer in der Bewußtlosigkeit des Fiebers. Beinahe etwas zu hart war er für seinen irrtümlich[105] verwendeten Eifer bestraft worden. Denn der Degen des alten Raufbolds hätte nur noch einen Zoll tiefer zu schneiden gebraucht, so wäre die Leber verletzt gewesen. Eine geraume Zeit lang hatte er ohne Hoffnung gelegen. Nach und nach kehrte die Besinnung zurück, anfangs wie ein dämmernder Traum, dann wie ein blasser, zarter Tag.

Als er die Augen aufschlug, sah er einen ernsthaften Mann an seinem Lager sitzen, der ihm die Medizin reichte. Er kannte den Mann nicht. Ein andrer Unbekannter, schwarzlockig, kam und fühlte den Puls. »Wo bin ich?« fragte er mit matter Stimme. »Bei Freunden«, versetzte der Arzt; »halten Sie sich ruhig.«

Die nächsten Tage vergingen unter der treuen Obhut jener Männer. Er hatte das Gedächtnis eingebüßt. Als man ihm den Herzog nannte, die kleine Stadt, in deren Nähe man ihn verwundet gefunden, wußte er von nichts. Seine Sinne litten an krankhafter Reizbarkeit, wenn er etwas Rauhes anfaßte, schmerzten ihm die Fingerspitzen, ein hartes Auftreten dröhnte ihm im Ohr, das helle Tageslicht hätte er nicht zu ertragen vermocht. Bei der Dämmrung verhangner Fenster bekam er Zeit, seine Lebensgeister wieder zu sammeln.

Er fand sich in einem hohen ernsten Zimmer. Alte Stukkatur verzierte die Decke, von den Wänden hingen schwere, rote Tapeten herab, massive, vorzeitliche Meubles standen umher. Große eichne Flügeltüren wiesen nach andern Gemächern. Kaum hallte ein Fußtritt durch den Gang. Man hatte den Verwundeten absichtlich im stillsten Teile des Schlosses untergebracht.

Die Einsamkeit und die altertümliche Umgebung machten einen angenehmen Eindruck auf ihn, welcher durch die Töne der Orgel, zu bestimmten Morgen- und Abendstunden aus der nahen Kapelle herüberklingend, noch verstärkt wurde. Wilhelmi und der Arzt erschienen pünktlich mehrmals des Tages, der alte Erich versah die Aufwartung. Nach und nach traten die Bilder der Tage, welche diesem einförmigen Zustande vorhergingen, aus dem Dunkel, aber wie Schatten, ohne rechten Zusammenhang. Er suchte nach einem festen Punkte, er hätte sich um sein Leben gern auf eine Gestalt besonnen, die ihm nicht erinnerlich werden wollte.[106]

Einst brachte ihm Wilhelmi eine Schale voll der schönsten Pfirsichen. »Diese Früchte schickt Ihnen die Herzogin«, sagte er.

Die Herzogin! Der Name durchzuckte ihn wie ein Blitzstrahl. Sie war es, die Gestalt, nach welcher er vergebens bisher gesucht hatte. Nun sah er sie, nun stand sie vor ihm, in dem feinen, braunen, englischen Kleide; er hörte sie in der Kapelle ihn zurückweisen, er half ihr vom Zelter, er empfing von ihr das Geld, Flämmchen zu retten. Alles, jeder Moment war ihm mit einem Schlage gegenwärtig.

Wilhelmi lächelte über die Ausrufungen, welche bei dieser Gelegenheit laut wurden. »Unsre Fürstin verdient Ihren Enthusiasmus«, sagte er. »Sein Sie nur recht dankbar, wenn Sie Ihr Zimmer wieder verlassen haben werden, sie hat große Teilnahme an Ihnen bezeugt. Man hat Sie uns grade zur rechten Zeit ins Schloß getragen. Wir andern sind mit unsern Geschäftsgesichtern jetzt wenig geeignet, sie zu unterhalten, wie sie es verdient.

Er ließ Hermann allein, der sich in diesen süßschmerzlichen Fall nicht zu finden wußte. »Aufgedrungen bin ich hier. Welches Geschwätz, daß sie teil an mir nehme? Ja, den Almosenanteil eines gewöhnlichen Mitleids!« rief er aus. Nicht lange konnte er dieser Wehmut nachhängen. Die Türe flog auf, und Flämmchen herein. Tränen im Auge fiel sie ihm zu Füßen, drückte und küßte seine Hand, und war wie außer sich vor Freude, daß man sie wieder zu ihm gelassen habe. – »Ich hatte das beste Mittel, dich in drei Tagen gesund zu machen, das wollte ich dir eingeben, da rief mich der böse Doktor von dir, und sie haben mich abgesperrt gehalten. O, hier ist es sehr häßlich, alles so gleich und langweilig, wie im Grabe, laß uns bald fort!«

Sie drückte seine Hand so, daß er sie unter empfindlichem Schmerze zurückzog. Langsam kehrte ihm die Erinnrung an diese Figur wieder. »Ich habe meine Wunde um dich bekommen, welche Not wirst du mir noch sonst verursachen?« sagte er. »Wie konntest du so unbesonnen sein, mir als Knabe zu folgen?«

»Es war doch gut, daß der Knabe bei der Hand war«, versetzte sie trotzig. »Du hättest sonst unter den Fichten verbluten[107] müssen. Wie sprichst du denn? Ich dachte, die Schmerzen hätten dich vernünftiger gemacht. Wo soll ich anders sein, als bei dir?«

»Es ahnet doch wohl niemand hier dein Geschlecht?« Sie sah ihn starr an. »Geschlecht? Was ist das?«

Hermann befahl ihr streng, sich ordentlich zu betragen, und nicht aus dem Vorzimmer zu weichen. Er drohte ihr mit augenblicklicher Verstoßung, wenn sie mit irgend jemand, außer mit ihm spräche. Traurig, den Kopf hängend, schlich sie fort. Der Arzt, der ihn schon für geheilt erklärt hatte, fand ihn gegen Abend verändert. Gemütsbewegung und Sorge hatten ihn aufgeregt, es meldete sich wieder ein kleines Fieber. Auf seine Fragen wollte Hermann mit der Sprache nicht heraus.

Die Tür zum Vorzimmer war offen geblieben, Flämmchen saß am Tische und studierte in einem Punktierbuche. Ein verlegner Blick Hermanns auf sie verriet, woher das Fieber rühre. Der Arzt zog die Türe zu. »Beruhigen Sie sich«, sprach er, »Ihr Geheimnis mit dem Mädchen ist unentdeckt, und soll unentdeckt bleiben, wenn Sie vernünftig sind.«

»Geheimnis? Mädchen? Ich verstehe Sie nicht«, stotterte Hermann.

»Gemach, mein Freund, nur keine Maske. Vor seinem Arzte muß man offen sein, auch sind wir in solchem Punkte nicht so leicht zu täuschen. Sein Sie unbesorgt, ich weiß es, sonst niemand. Unser Wilhelmi sieht vor der Verderbnis des Zeitalters im allgemeinen, das besondre Fleckchen zu seinen Füßen nicht, dem Herzog sind alle romantischen Dinge Allotria, um welche sich ein Mann, der Geschäfte hat, nicht bekümmert, und unsre schöne fürstliche Tugend glaubt an nichts Schlimmes, weil sie selbst nie einen bösen Gedanken gehabt hat. Die Kammerjungfer, welche etwas erlauscht haben mußte, hat Sie anschwärzen wollen; sie ist heute als Verleumderin des Dienstes entlassen worden. Daß ich es treu mit Ihnen meine, können Sie daraus abnehmen, daß ich Ihrem Fritz, oder wie dieser Jüngling sonst heißen mag, sein langes Haar, welches leicht zu einer Entdeckung führen konnte, habe abscheren lassen. Als Schwedenkopf geht er schon eher mit durch.«[108]

»Um Gotteswillen, urteilen Sie nicht übel von mir!« rief Hermann. »Ich brauche mich des Verhältnisses zu jener Unglücklichen nicht zu schämen.«

»Ich bin kein Richter, und am wenigsten ein Sittenrichter«, erwiderte der Arzt etwas spöttisch. »Die Moralität unsrer Kranken geht uns nichts an. Aber mein tugendhafter Freund, hier in diesem ehrbaren Altvaterschlosse darf der Skandal nicht fortgesetzt werden. Denn ein Skandal bleibt es doch immer, wenn ein verkleidetes Mädchen, welches die Kinderschuhe vertrat, sich bei einem jungen Manne aufhält. Nur unter der Bedingung schweige ich, daß Sie diesen Zwitter so bald als möglich fortschaffen.«

Hermann erklärte dem Arzte, daß es sein eigner sehnlichster Wunsch sei, Flämmchen irgendwo sicher unterzubringen. Er wollte ihn über das Mädchen ausholen, bekam aber anfangs nur ziemlich ironische Antworten zu hören, welche deutlich anzeigten, wofür er gehalten werde. Zuletzt gab der Arzt dem Andringen Hermanns verwundert nach, und rief:

»Entweder sind Sie ein vollendeter Heuchler, oder hier ist etwas, was mir mein Konzept über die Menschen verrückt! Wie? Sie sollten von ihr so wenig wissen, und doch wäre sie bei Ihnen? Sie hätten sie nicht ihrem Vater entführt! der alte Johanniter hätte Sie nicht für dieses Unterfangen verwundet?«

»Wer kann das behaupten?«

»Die beiden Alten haben es überall ausgesagt. Ich hatte Mühe genug, die Sache zu stillen.«

»In welcher schrecklichen Verlegenheit befinde ich mich!« seufzte Hermann. – Die Mitteilungen des Arztes flößten ihm ein Grauen gegen das Wesen ein, welches sich so gewaltsam so seinen Spuren nachdrängte.

»Sie ist«, berichtete jener, »durchaus und bis in die letzte Faser ihrer Natur Aberglauben, und nie habe ich diese geistige Krankheitsform so rein auftreten sehn. Ich habe jetzt über alles, was uns das Mittelalter von Hexen, Besessenen, Doppelgängern und ähnlichen Fratzen erzählt, durch sie eine andre Meinung bekommen; diese Dinge waren keineswegs Pfaffentrug; ich sehe an einem lebendigen Beispiele, daß eine verstörte Einbildungskraft alles das hervorrufen kann. Sie tut keinen[109] Schritt, ohne irgendein willkürliches Orakel zu fragen, sie hat Visionen, sie führt im Mondschein sonderbare Gespräche mit ihrem Schatten, dabei ist sie durchaus nicht heimlich und verschlossen, nein, man kann ihre ganze Verkehrtheit in jedem Augenblicke von ihr erfahren, weil die abenteuerlichsten Dinge ihrem Geiste so gemein erscheinen, wie uns der Wechsel der Tageszeiten. Ihr Verderben wäre sie gewesen, kam ich im rechten Augenblicke nicht noch dazu. Gerade, als Sie in der heftigsten Fieberhitze lagen, fand ich sie im Begriff, Ihnen einen Trank einzugeben, der, wie mich die Untersuchung des Gemisches lehrte, Sie in wenigen Stunden getötet haben würde. Woher sie die Spezies bebkommen? Von wem das Zeug bereitet worden? habe ich nicht ausmitteln können. Zufälligerweise geriet mir kurz nachher eins jener alten verworrnen Büchelchen aus dem siebenzehnten Jahrhundert in die Hände, worin allerhand Phantastereien als Naturkunde prunken, und darin fand ich das Arkanum Ihrer unberufnen Helferin als allgemeinen Lebensbalsam Gran für Gran verordnet.«

»Aber wie ist nur eine solche Verbildung möglich geworden?«

»Fragen Sie mich in Ernst, so kann ich darauf nur Mutmaßungen mitteilen. Sie wuchs auf unter Leuten, deren eigentliches Geschäft es ist, alle ihre Stunden in Schein und Schaum zu verzetteln. Denken Sie sich lebhaft das Innere einer Komödiantenwirtschaft, und Sie haben das Bild der Gemeinheit und faselnden Dämelei, von welcher das Kind immer umgeben war. Die Einbildungskraft überragt in ihr alle andern Vermögen, dabei fehlt ihr das Talent der Nachahmung, woraus die Schauspielkunst entspringt. Es mangelte ihr also in jenem Kreise die Möglichkeit, mit dem Äußeren, Wirklichen anzuknüpfen. Sie ist sehr unwissend, Lesen und Schreiben hat man sie zur Not gelehrt, übrigens weiß sie von dem Zusammenhange der Dinge nichts, und alles Überirdische ist ihr völlig fremd.

Gleichwohl will ein lebhafter Sinn, eine entzündliche Phantasie Beschäftigung. Früh mögen ihr manche Sachen in die Hände gefallen sein, die im verflossenen Jahrzehnt Mode waren; jene talentvoll-bizarren Ausgeburten eines vielgelesenen Autors, worin das Märchenhafte, ja das ganz Unmögliche und[110] Widersinnige dicht an die tägliche Umgebung geschoben wird. Fabeln, die aus fabelhaftem Rahmen blicken, wären wohl kaum imstande gewesen, die junge Törin so zu verwirren, aber diesen alten Weibern, welche so vertraut an der und der Straßenecke sitzen, und dann plötzlich Gott weiß was? werden, diesen Koboldchen und Diavolinis in Schlafrock und Pantoffeln, vermochte das Gehirnchen keinen Widerstand zu leisten. Sie hat sich eine Art von Fetischismus gebildet, und es ist mir oft merkwürdig gewesen, an ihr dasselbe wahrzunehmen, was man uns von den Völkern erzählt, die sich noch auf der Stufe der Kindheit befinden. Im ganzen bemerkte ich nämlich auch an ihr, daß alle Religion aus dem Schrecken entspringt, und daß der Mensch das Gute und Angenehme als sich von selbst verstehend, hinnimmt. Der große Stein im Schloßhofe, an dem sie sich im Sprunge den Fuß verletzte, ein alter fauler Weidenbaum, der ihr, als sie sich eines Abends verspätet hatte, zum Entsetzen ins Auge glühte, die verwitterten, in den dunklen Gang nach dem Archive beiseite geschafften Gartenstatuen, sind die Gegenstände ihrer heimlichen, fürchtenden Verehrung; während sie bei keiner Blume an etwas andres denkt, als daß sie wohl rieche, den Sonnenschein und die gute Speise genießt, ohne darüber nachzusinnen, woher beides stamme.«

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 105-111.
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