Achtzehntes Kapitel

[150] Flämmchen kam dazu, als er packte. »Willst du fort?« fragte sie. Er bejahte es. – »Warum?« – »Um deinetwillen.«

Sie zog ihn mit sanfter Gewalt auf einen Stuhl, kniete vor ihm nieder, und schaute ihm mit einem unbeschreiblichen Blicke in die Augen. »Um meinetwillen!« sagte sie gedehnt. »Ich meinte schon, mit uns sei es aus, und die Alte und der Geist hätten gelogen.« Sie wollte lächeln, aber der Schmerz verzog ihren Mund, und ein Tränenstrom floß über Lippen und Kinn.

Er hielt den Augenblick für geeignet, ihr Innres zu erforschen. »Sei einmal recht offen gegen mich, mein liebes Kind«, sagte er. »Was hat dir den Gedanken in den Kopf gesetzt, von dem du nicht lassen willst?«[150]

»Ich lag nach meiner Flucht vom falschen Vater im Walde, und weinte, denn zurück wollte ich nicht, und um mich waren nichts als Bäume, und mir graute in der Einsamkeit. Ich wußte mich vor Angst nicht zu lassen; ach, es ist so schrecklich, ganz allein zu sein! Ich zog meine Sachen hervor, aber nichts wollte mir helfen. Den falschen Vater hatte ich, wenn er seine weinerlichen Reden hielt, oft ›lieber Gott!‹ rufen hören. Nun rief ich auch wohl hundertmal: ›lieber Gott!‹ aber kein lieber Gott kam, und ich merkte, daß der auch nur eine Lüge sei, wie alles, was der falsche Vater gesagt hatte.«

»Mädchen! Mädchen!« rief Hermann, »du weißt nicht, was du sprichst. Erzähle weiter.«

»Da stand die Alte vor mir. Sie mußte aus der Erde gewachsen sein, denn ich hatte sie nicht kommen sehn. Ich solle nicht weinen, sagte sie zu mir, und nannte mich ein schönes Kind, dem es nicht übel ergehen könne. Ich müsse etwas Blankes auf die Hand legen, dann wolle sie mir wahrsagen. Ich hatte noch ein Silberstück von den Geschenken der jungen Herren bei mir, das legte ich auf die Fläche meiner Hand. Sie schlug, nachdem sie die Linien beschaut, die Hände vor Freuden über dem Kopfe zusammen, und rief: ›O du gebenedeite Kreatur! Welch ein großes Glück steht dir bevor!‹ Dann weissagte sie mir, ein Prinz werde sich in mich verlieben, und mich zu seiner Frau Gemahlin machen. Ich fragte: ›Wann? wo? wie bald?‹ – Sie machte sich von mir los, und lief durch die Bäume davon, flink wie ein Feldhuhn, aber ich hörte noch aus der Entfernung ihre Antwort: ›Bald! Vielleicht noch heute! Ganz in der Nähe!‹ Und an demselben Vormittage habe ich dich gefunden.«

»Mich, Flämmchen, ja. Aber wann den Prinzen? Ich bin eines Bürgers Sohn. Wer bildete dir ein, daß ich der verheißne Prinz sei?«

Flämmchen sah ihn an, stutzig, als ob sie an diese Frage noch nie gedacht habe. »Wer?« fragte sie sinnend. »Ich lauschte hinter einem Baume, als du neben deinem Freunde auf dem Stamme saßest, und als ich dein Gesicht erblickt hatte, wußte ich, du seist es.«

Eine dunkle Röte hatte bei diesen Worten ihr Antlitz, ja den Hals überzogen. Sie sprach mit einem Tone, welchen er nie von[151] ihr vernommen hatte, tiefer, bebender, als gewöhnlich. Es war, als ob eine andre Person aus ihr rede. Auch ihn ergriff ein mächtiges Gefühl. Die Natur sah ihn durch alle Verkehrtheit mit ihren heiligen Augen an. So muß dem zumute sein, der unter einer Karikatur die Züge einer frühern lieblichen und wohlgefälligen Zeichnung erblickt, die der Zerrmaler übersudelt hat.

»Ich lief«, fuhr Flämmchen fort, »als wir auseinandergegangen waren, durch Feld und Busch umher, meine Alte wiederzufinden, die, das wußte ich schon, alles konnte, was sie wollte. Ich traf sie auch glücklicherweise auf der Heide an den großen Steinen, die da im Kreise umher lagen. Ich sagte ihr, sie solle mir den Geist meines Vaters rufen, denn ich mußte ja den auch um dich befragen. Sie wollte nicht, und endlich antwortete sie mir, sie könne nicht. Da bin ich ingrimmig geworden, und weiß nicht, was ich getan habe. Aber als ich zu mir selbst kam, sah ich, daß ich mein Messer aufgeklappt in der Hand hatte, und die Alte lag vor mir an der Erde, zitternd, und bat, ich möchte ihres Lebens schonen. Sie sagte mir darauf die Worte, mit denen ich den Geist rufen müsse, und die ich dir nicht wiederholen darf, sonst sterbe ich in neun Tagen. Nach den Tannen schickte sie mich, und da habe ich gewartet bis Mitternacht unter Furcht und Angst, dann kam er in einer schönen bunten Uniform, ganz bleich, mit einem blutigen Streifen über der Stirn. Ich fragte ihn, und er antwortete mir, ich solle dir folgen, wohin du gehest, und mich ganz auf dich verlassen.«

»Und fragtest du ihn denn auch, mein Flämmchen, ob ich ein Prinz sei?«

»Daran habe ich wahrhaftig gar nicht gedacht«, rief das Mädchen, und machte eine Bewegung mit der Hand, wie ein Kind, das sich einer Nachlässigkeit erinnert. »Das habe ich doch wirklich rein vergessen.«

Hermann stand auf und beruhigte sie. »Prinz oder nicht«, sagte er zu ihr, »werde ich mich deiner annehmen.«

»Es streiten sich zwei um dich«, fuhr sie mit verfinstertem Gesichte fort. »Aber ich hoffe, sie wird es mit dem Tranke, den sie dir eingegeben hat, nicht durchsetzen, ich werde dich[152] behalten. Es wäre recht übel, wenn es anders käme. Denn sie hat genug, aber Flämmchen hat niemand als dich!«

»Trank? Sie? Wer?«

»Nun, die Herzogin. Das ist doch zu sehen, daß sie sich in dich verliebt hat. Sie kann ja nicht leben, wenn du nicht ein paar Stunden des Tages über bei ihr bist.«

»Du schwärmst! Ist es möglich, daß dir nur so etwas in den Kopf kommt?«

»Ich denke, die unschuldigen Tiere werden wissen, was sie tun!« rief Flämmchen leidenschaftlich aus. »Spricht nicht ihr bunter Vogel in einem fort: ›Teurer Hermann!‹ Wie oft habe ich es gehört, wenn ich unter dem Balkon durchging, auf welchem er sich sonnte. Er muß es doch von ihr haben! Heißt du nicht Hermann? Und ich sollte nichts merken?«

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 150-153.
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