Siebentes Kapitel

[345] Fränzchen schrie laut, als Hermann vor sie trat. »Gebt euch nur einen Kuß«, sagte der Polizeikommissarius, »alte Liebe rostet nicht, daraus mache ich mir gar nichts, es bleibt in der Freundschaft.« Noch hatte Hermann den Weg zu ihren Lippen nicht vergessen; errötend duldete sie, was sie an vergangne Zeiten erinnerte. Sie war still, und schien verlegen zu sein; Hermann bemerkte, daß ihre Blicke vergleichend zwischen ihm und ihrem Manne hin und her wanderten.

Ein Kindergeschrei ließ sich vernehmen. »Das ist Hermann, der Sassen Herzog«, sagte der Polizeikommissarius, »Mutter, bring den Jungen herein.« Sie brachte das Kind, einen starken, rotbäckigen Knaben, den Hermann ungeachtet des Zustandes, in welchem er sich eben befand, abküssen mußte.

Hermann verbrachte einige Tage in dieser Häuslichkeit, welche der spärlichen Umstände wegen, worin beide Gatten lebten, die beschränkteste war. Der Diensteifer seines Freundes hatte eine eigne Verwicklung herbeigeführt. Gleich nach seiner Gefangennehmung war nämlich von diesem eine Stafette mit der Meldung von dem Geschehenen gen * abgesendet worden, welcher er zwar, als er den Zusammenhang der Dinge in Erfahrung gebracht hatte, einen zweiten reitenden Boten mit einer Berichtigung der früheren Anzeige nachschickte, jedoch ohne den gewünschten Erfolg. Er empfing nämlich einen Verweis, daß er sich herausnehme, in dieser Angelegenheit selbst urteilen zu wollen; man finde dies unangemessen und habe er den Gefangenen schleunigst abliefern zu lassen.[345]

Diese Hiobspost kündigte er seinem Freunde mit bestürzter Miene an. Fränzchen weinte. Hermann tröstete sie beide, sprach von seinen Bekanntschaften in der Residenz, die ihm bald aus der Verlegenheit helfen würden, und sagte, daß wenn man auch in diesem Punkte dort strenge Grundsätze hege, die Unschuld doch etwas Siegreiches habe, was die Richter sofort zu seinen Gunsten stimmen werde.

Im Grunde war er froh, als der Wagen vorfuhr, die beiden bekannten Gendarmen zu den Seiten aufritten, und dergestalt einigen beklommen-langweiligen Tagen ein Ziel gesetzt ward. Die ersten Gespräche mit seinem Freunde hatten ihn überzeugt, daß alle Berührungspunkte zwischen ihnen verlorengegangen waren. Der Polizeikommissarius bezog jetzt alles im strengsten Sinne auf den Dienst oder die Hausvaterschaft. So hatte Hermann einmal lange mit Geist und Suada von den streitenden Bestandteilen des Staats gesprochen, aufmerksam, wie es ihm schien, angehört von dem Freunde. Als er aber geschlossen hatte, rief die ser aus: »Du hast ganz recht; es wird nicht eher besser bei uns, als bis wir wissen, wie weit die Polizei gehen darf und wie weit die Justiz.«

Die Pflichten des Hausvaters übte er wirklich in vollem Maße. Nicht genug, daß er bei der Wartung des Kindes in den unangenehmsten Vorkommenheiten mit zur Hand ging, er grub im Garten und beschickte die Küche, wo es irgend not tat; ja Hermann hatte ihn eines Morgens im Ställchen die Ziege melken sehen, welche diesem Haushalte die tägliche Milch gab.

Oft geriet der Gast durch die Art und Weise in Verlegenheit, mit welcher der Wirt sein früheres Verhältnis zu Fränzchen zum Gegenstande der Unterhaltung machte. Er war unerschöpflich in Anspielungen und Scherzreden, welche nicht immer die feinste Wendung nahmen. Umsonst versuchte Hermann abzulenken; endlich verbat er sich geradezu dergleichen. Worauf der Polizeikommissarius entgegnete: »Du bleibst, wie du warst, nicht für das Praktische, nicht für das wirkliche Leben.« Am meisten hatte Hermann in der Seele der jungen Frau gelitten, welcher, ungeachtet ihres Fehltritts und ihrer jetzigen Dürftigkeit, immer noch die feine anständige Manier[346] geblieben war, durch welche Hermann sich ehedem so sehr angezogen gefühlt hatte.

Er stieg, ohne Abschied von ihr zu nehmen, in den Wagen. Was hätte er ihr sagen sollen? »Dahin wäre ich denn auch gediehen«, sprach er zu sich selber, »wenn ich den sogenannten vernünftigen Weg im Leben eingeschlagen hätte. Vielleicht in größeren Zimmern wohnend, und die Ziege nicht melkend, wäre ich denn doch vielleicht im Grunde schon ebenso ein Philister geworden, Welt, Zeit und den Pulsschlag der Geschichte nicht mehr vernehmend, die Neigung unsrer niedern Natur zu schläfriger Bequemlichkeit in das lügenhafte Gewand erhabner Pflicht kleidend. Ehe! – wie rauschen die Redensarten, wenn das Wort ausgesprochen wird. Das Sakrament der Ehe! Die Heiligkeit der Ehe! Der Segen des Ehestandes! – Und was bringen denn nun diese schönen Dinge bei vielen hervor? Daß sie einen Stillstand in ihrem Leben machen, daß die edelsten Verhältnisse, die unschätzbarsten Verbindungen ihren Reiz verlieren, die zarte Berührung mit dem Leben und den Menschen aufhört, und am Ende jene dumpfe Erstarrung eintritt, welche für das Ziel des Daseins ausgegeben wird.

Man sollte daher auch über diesen Gegenstand natürlicher zu denken anfangen und sagen, daß der Staat der Sache bedürfe, um nicht selbst sich mit der Sorge für die Kinder befassen zu müssen, und folglich von Rechts wegen sie beschütze. Oder wenn man von einem Sakramente der Ehe und des Hauses reden wollte, so sollte man den Leutchen zurufen: ›Macht euren Bund durch ein erhöhtes Leben in Geist und Gemüt zum Sakramente, aber glaubt nicht, daß ihr den Stand der Gnade schon durch die Liebeleien des Brautstandes, durch das Wechseln der Ringe, und durch das Anschaffen von Linnen, Betten, Töpfen und Schüsseln erworben habt‹.«[347]

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 345-349.
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