Erstes Kapitel

[351] Die Reise ging ohne weitere Vorfälle Tag und Nacht fort. Eines Morgens rollte der Wagen durch breite, schnurgrade Straßen zwischen prächtigen Palästen hin und die Hauptstadt war erreicht. Der Postillon hielt vor einem geräumigen Gebäude, welches man für eine stattliche Privatwohnung hätte ansehen können, wenn nicht durch die eisernen Gitter vor den Fenstern seine Bestimmung klargeworden wäre. Hermann stieg aus und wurde eine breite Treppe hinaufgeführt. Auf der Mitte derselben kam ihm ein wohlgekleideter Mann entgegen, begrüßte ihn äußerst höflich und sagte: »Haben Sie die Güte, mir zu folgen, ich hoffe, Sie auf der Stelle entlassen zu können.«

Oben im Verhörsaale öffnete sich eine Seitentüre und herein trat, von einem Schließer begleitet, der mecklenburgische Präses. »Kennen Sie den Herrn?« fragte der Beamte den Mecklenburger. Dieser wälzte seine rollenden Augen nach Hermann und sagte: »Er ist der Bösewicht, der, Teutschlands Sache abtrünnig, auch uns mit vorgehaltner Pistole zum Abfall verleiten wollte.« – »Gut«, versetzte der Beamte sehr sanft, »bringen Sie, Schließer, den Mann wegen ungebührlicher Ausdrücke vor Gericht auf acht Tage in den einsamen Kerker bei Wasser und Brot; und Sie, mein Herr, sind frei.«

Nach der Entfernung des Präses erzählte der Beamte unsrem Freunde, daß ein Teil der Demagogen, welche dem Polizeikommissarius entgangen waren, sich in unbegreiflicher Verblendung nach der Hauptstadt gewendet habe, wo sie denn ihre unbedachte Einfalt gegenwärtig hinter Schloß und Riegel büßten. »Unter diesen befindet sich«, sagte er, »auch jener freche Mensch, welcher seines Verbrechens kein Hehl hat, vielmehr[351] sich dessen rühmt. Er bekannte auf der Stelle die ganze Geschichte des sogenannten vierten Bundestags, und wie Sie, mein Freund, mehr wohl- als kluggesinnt, es unternommen hätten, die Versammlung zum Rücktritte von ihren Verirrungen zu bewegen.

Nun waren in den obern Regionen allerhand Bedenken, ob man Sie nicht doch noch vorläufig festhalten müsse«, fügte der Beamte hinzu. »Diese hat ein Mann, der vielen Einfluß besitzt, zu überwinden gewußt; ihm haben Sie daher für Ihre Freiheit zu danken.«

»So bestände denn also das ganze Unglück darin, daß ich die Reise, die ich auf meine Kosten hätte machen müssen, auf die des Staats zurückgelegt habe!« rief Hermann heiter. »Aber wo ist mein unbekannter großmütiger Wohltäter?«

Eine zweite Seitentüre öffnete sich, und ein großer, würdig, ja majestätisch aussehender Mann trat ein. »Glücklich los?« fragte er Hermann mit freundlichem Tone.

»Mein Herr«, erwiderte dieser, »niemals noch hatte ich das Glück, Sie zu sehn. Wer sind Sie? Womit habe ich Ihre Güte verdient?«

»Ich finde es so natürlich, andern Ungelegenheiten zu ersparen, wenn man es kann, daß ich einen solchen Dienst nicht der Rede wert halte«, versetzte jener. »Zufällig wußte ich von Ihrer Reise, zufällig erfuhr ich, welche Hemmung Sie unterwegs angetroffen hätten, und zufällig ließ man mein Wort zu Ihren Gunsten gelten. Sie sind mir keinen Dank schuldig, denn in einem ähnlichen Falle erwarte ich dasselbe von Ihnen. Übrigens heiße ich Medon.«

Wer beschreibt das Erstaunen Hermanns? Er ging mit ihm die Treppe hinunter, keines Wortes mächtig. »Warum sind Sie doch so betroffen?« fragte ihn Medon. »Freuen Sie sich lieber, daß Sie jemand, der Ihnen vermutlich wie ein Ungeheuer beschrieben worden ist, in ganz menschlicher Art und Gestaltung finden. Und nun entledigen Sie sich vor allen Dingen Ihrer Kommission und vertrauen Sie mir getrost den Brief an meine Frau, welchen ich nicht unterschlagen werde.«

Hermann suchte den Brief aus dem Portefeuille, welches ihm wiedergegeben worden war, hervor, und sagte zu Medon: »Wie[352] erfuhren Sie das, was meines Wissens niemand außer der Herzogin und mir bekannt war?«

»Die Herzogin«, versetzte Medon lächelnd, »welche nach Art der Frauen ihrer Natur entweder etwas halb tut, oder zuviel des Guten gibt, hatte den ersten Grundsatz der Diplomatie vergessen, durch Überraschung zu wirken, wenn man nicht mit ganz zureichenden Mitteln versehen ist. Sie vertraute ihren Plan einer hiesigen Bekannten und ersuchte sie, Johannen auf Ihren Empfang stimmend vorzubereiten. Die Gute, welche durch diesen Auftrag in einige Verlegenheit geriet, weil wir leider hier in ganz erträglichem Ruf und Ansehen stehn, suchte an dem verschwiegnen Busen einer Freundin Rat, welche ihrerseits, und so weiter; Sie kennen diesen Hergang der Dinge. So kam es, daß wir Ihre Ankunft durch ein Stadtgespräch vorauswußten; etwas verdrießlich für uns; indessen läßt sich zu dergleichen nichts tun, man muß die abweichenden Ansichten der Menschen, besonders wo sich Stand und Befangenheit mit einmischen, schon in Geduld ertragen.«

Er empfing den Brief der Herzogin, lobte die Handschrift der Adresse, und steckte ihn gleichgültig ein. »Ich würde Sie bitten, bei uns zu wohnen«, sagte er zu Hermann, »wenn wir nicht so beschränkt uns halten müßten, wie es überhaupt hier Ortssitte ist. Doch habe ich Ihnen ein Quartier nicht gar zu weit von uns gemietet, wo Sie aus Ihrem Fenster alle die neu aufsteigenden Bauten überschaun.«

Er führte ihn nach einem großen Hause unter der Lindenallee der Stadt, in ein geräumiges heitres Zimmer. Wirklich überblickte Hermann von dort die großen, teils fertigen, teils der Vollendung entgegensteigenden Architekturmassen, zu welchen der Friede nun wieder die Kräfte und den Mut gegeben hatte. Medon verließ ihn, nachdem er ihn zu baldigstem Besuche eingeladen hatte.

In ein neues wundersames Verhältnis zu freundlichen Feinden geklemmt, konnte Hermann den Schlummer nicht finden, durch den er sich auf die erzwungnen Nachtfahrten zu erholen gedachte. Er sprang von seinem Lager auf, und suchte in der Zerstreuung sich zu beschwichtigen. Er durchstrich die wohlbekannten Straßen und Plätze, erneuerte einige Bekanntschaften,[353] und wünschte, daß der Tag vorbei sein möchte. An enghäusliche Zustände seit einiger Zeit gewöhnt, fühlte er sich ungeachtet der günstigen Wendung seines Schicksals in der weiten, breiten Stadt, unter den rasch und gleichgültig aneinander vorbeirennenden Menschenhaufen ziemlich unlustig.

Daß er nunmehr am Sitze der Intelligenz sich befinde, ward ihm bald fühlbar. Denn er war noch nicht zwei Stunden in der Hauptstadt, als er bereits von mehreren Leuten aus der niedrigsten Volksklasse, mit denen er sich in nachfragende Gespräche eingelassen, ein unzweideutiges Verhöhnen seiner provinziellen Einfalt hatte erfahren müssen.

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 351-354.
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