Zweites Kapitel

[354] Einige Tage vergingen, bevor Hermann sich entschließen konnte, Medons Haus zu besuchen. Wie peinlich war seine Stellung Johannen gegenüber geworden! Das Gefühl der Unhöflichkeit, welche in seinem Meiden lag, schien ihm erträglicher als der Gedanke an das Zusammentreffen mit einer Frau, welcher er, er mochte es deuten, wie er wollte, das Verletzendste überbracht hatte. Medon war einige Male gekommen, ohne ihn zu treffen, nachher hatte er diese Bemühungen eingestellt.

Die alten Bekannten zeigten sich unverändert gegen ihn. Man wußte schon von seinem Abenteuer, die Männer lachten darüber, die Frauen, welche hier sämtlich sehr loyal waren, staunten seinen Heldenmut an, und beide Geschlechter vereinigten sich in dem Behagen, welches die Gesellschaft immer empfindet, wenn man ihr zu reden gibt. Er konnte in weniger Zeit einen großen Kreis durchlaufen, weil jedermann äußerst beschäftigt war, seine Stunden genau eingeteilt hatte, und man ihn nach fünf oder zehn Minuten überall gern entließ, um zu einer neuen Tagesobliegenheit übergehn zu dürfen.

Freilich empfand er bald in diesem unruhigen Drängen, Treiben und Quirlen einen moralischen Schwindel. Um sich einigermaßen zu fassen, forschte er nach einem gemeinsamen Mittelpunkte aller dieser kurzen geistigen Wogenschläge, und[354] fand denselben freilich da, wo er ihn am wenigsten wünschen konnte.

Die Bewohner einer großen Stadt, von den auf sie einstürmenden Lebensreizen überdrängt, sind unfähig, wie die Pfahlbürger kleinerer Orte ihren stillen eigensinnigen Gang zu gehn. Ein Heerführer tut ihnen not, um ihr gefährdetes Inneres an ihn zu klammern. Es wird daher immer von Zeit zu Zeit irgend jemand Mode, welcher nun fast als ein weltlicher Messias dem der Erlösung aus Unsicherheit und Langeweile bedürftigen Geschlechte dasteht. Nicht selten entscheidet das Verdienst über die Wahl, mitunter freilich auch der Zufall, und im ganzen ist an diesem Vasallendienst auszusetzen, daß die Dauer dem Feuer, womit er begonnen wird, nicht gleichzukommen pflegt.

Eben war Medon Mode geworden. In seinem Hause versammelten sich die bedeutendsten Gelehrten, Staatsmänner, Künstler und Dichter der Hauptstadt. Wohin Hermann hörte, überall vernahm er ein fast andächtig zu nennendes Lob. Die Männer wollten in ihm einen Charakter des Altertums finden. Es sei schön, sagten mehrere, daß einmal wieder jemand sich zeige, der ohne Gehalt, ohne Dienstpatent und Ordensband an den Geschäften des Staats teilnehme, denn man hielt es für ausgemacht, daß sein Rat bei manchen weitgreifenden Einrichtungen im stillen benutzt werde. Die Frauen schwärmten dagegen mehr über seine musterhafte Häuslichkeit. Kurz vor ihm war ein geistreicher Kopf Mode gewesen, welcher sich in witzigen Schlagreden auszeichnete, die seine Anhänger umhertrugen und groß nannten. An Medon fand man es dagegen groß, daß von ihm kein einziges Bonmot zu berichten sei, vielmehr das Anziehende der Erscheinung in ihrer ruhigen schlichten Kraft bestehe. Doch muß, um die diplomatische Treue dieser Denkwürdigkeiten nicht zu verletzen, bemerkt werden, daß mehr von Großartigkeit als von Größe die Rede war, denn dieses Zwitterwort besaß damals schon den Ruf, in welchem es sich noch jetzt erhält.

Einem solchen Manne gegenüber, in diesem Ansehn gegründet, sollte also Hermann den Auftrag der Herzogin vollziehn. Ein tiefes, sonderbares Gefühl sagte ihm, daß sie recht habe,[355] hörte er auf seinen Verstand, traute er so vielen klugen Leuten nur einiges Urteil zu, so mußte er seine Botschaft für unnütz und lächerlich erachten.

Er konnte seinen Besuch nicht länger verschieben, und wählte dazu einen Abend, an welchem, wie er erfahren, bei Medon regelmäßig große Gesellschaft war. Unter vielen glaubte er am besten über die Verlegenheit der ersten Begegnung hinauszukommen. Wirklich waren die geräumigen, anständig verzierten Zimmer von den ausgezeichnetsten Personen mehr als gefüllt. Diplomaten, höhere Offiziere, Geschichtschreiber, Philologen, Länder- und Völkerkundige, Philosophen, Schriftsteller, Reisende und Maler standen in eifrig redenden Gruppen zusammen. Hermann wurde am Sofa der Frau vom Hause vorgestellt, trat aber, sobald es schicklich war, von ihr zurück und mischte sich unter die Redenden.

Wie wohl fühlte er sich denn doch nach überwundner Beklemmung in diesem Kreise! Politik, Geschichte, Sprache, die ganze Breite der Welt ging im Gespräche an ihm vorüber. Eine Masse von Ideen wurde angeregt, mit Einsicht besprochen und doch nicht erschöpft, sondern unendlicher Betrachtung aufbewahrt. Ein Strom des geistigen Lebens umwogte ihn, er fühlte sich engen kleinlichen Verhältnissen entrückt und wie nach einem stärkenden Bade auf heitrer Höhe. Der Philosoph verstand den Empiriker, dieser bekannte der Spekulation gegenüber die Grenzen seiner Kunde, die Praktiker ließen die Gelehrten gelten, und so umschlang ein Band gegenseitiger Achtung diesen Tauschmarkt, zu welchem die köstlichsten Güter: Kenntnisse und Wahrheiten, gebracht wurden.

Eine ganz eigne Stellung nahm Medon zu seinen Freunden ein. Er enthielt sich des lebhaften Gesprächs und hörte viel zu. Waren aber die Meinungen zu ihrer letzten Divergenz gediehen, so wußte er auf die glänzendste Weise zu resumieren, wo dann jeder die seinige in so schöner Gestalt wieder erblickte, daß dem eifrigsten Streite ein allgemeines Wohlbehagen folgte, die Sache selbst freilich unerledigt blieb.

Empfand nun Hermann schon am ersten Abende über diesen ihm neu gewordnen Verkehr die größte Freude, so läßt sich wohl denken, daß sein Fuß bald öfter das Haus betrat. Binnen[356] kurzem genoß er den näheren Umgang der beiden Gatten, und erblickte ein Verhältnis, welches im Gegensatze zu der modernen Barbarei, klassisch genannt werden konnte. Hier hatte man die Ehe und das Haus nicht zum Polster nachlässiger Sitten gemacht; die engsten Bande dienten nur dazu, Glanz und Strenge der feinsten Formen als etwas Natürliches herauszustellen. Selbst ein Anflug schmerzlicher Kälte, der ihm hin und wieder entgegenwehte, erhöhte den Ausdruck der Antike, welcher dieser Gruppe angehörte.

Johanna trat wenig hervor, aber sie war eine der Frauen, hinter deren gemessnem Wesen man ein unendliches Lieben und Leiden vermutet. Von dem Briefe der Herzogin war nicht die Rede.

Er schrieb an diese einige gefühlte Zeilen, worin er zwar die Ausrichtung seiner Kommission meldete, jedoch hinzusetzte, daß er die Umstände zu verschieden von seiner Erwartung gefunden habe, um ein ferneres persönliches Einwirken versprechen zu können.

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 354-357.
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