Zehntes Kapitel

[467] Die Sozietät pflegt sich für unangreifbar zu halten, schon die leiseste Verletzung des Persönlichen erscheint wie ein Attentat. Dann bricht plötzlich etwas ganz Unerwartetes, Niebefürchtetes in diese Kreise ein, alle Bande sind auf einmal zersprengt, und eine Geisterfurcht ergreift die Menschen.

Von solchen Gefühlen wurde Hermann bestürmt, als Wilhelmi eines Abends atemlos auf seine Klause mit der Nachricht trat, daß Medon verhaftet worden sei. Über den Grund dieses erschreckenden Vorfalls konnte er nichts Näheres angeben, nur so viel wußte er, daß derselbe mit den Untersuchungen gegen die Demagogen zusammenhange.

Hermann eilte in der Hoffnung, daß ein falsches aberwitziges Gerücht den Freund betrogen habe, nach Medons Wohnung. Leider fand er hier die Sache nur zu wahr. Er hatte Mühe, in das Haus zu kommen, welches scharf bewacht war. Auf dem Flur standen Koffer und allerhand Reisegepäck; durch eine Glastüre blickte er in das Zimmer, worin er so manche lehrreiche Stunde erlebt hatte; Medon, dem vorderhand nur Hausarrest gegeben worden war, saß darin auf dem Sofa, sah blaß und angegriffen aus. Der Gerichtsbeamte stand[467] neben ihm und schien ihn zu verhören. In andern Zimmern wurde versiegelt.

Von den Hausleuten, die sehr verwirrt und bestürzt waren, konnte er nichts Genaues herausbringen. Nur so viel wußten sie, daß man Anstalten zu einer Reise gemacht habe, daß aber mitten in denselben der Gerichtsbeamte plötzlich mit einem jungen Menschen von wildem Ansehen erschienen sei, welcher auf Medon zuschreitend, und ihn scharf ins Auge fassend, gerufen: »Dieser ist es, welcher in Zürich uns vom Männerbunde erzählte!« worauf der Beamte Medon in Haft genommen habe.

Ängstlich fragte er nach Johannen. Ihr Kammermädchen entdeckte ihm weinend, daß die gnädige Frau heimlich in großer Eile abgereist sei, noch ehe die Verhaftung stattgefunden habe. Sie habe an verschiednen Reden, die zwischen dem Herrn und der Frau vorgefallen seien, gemerkt, daß letztre mit dem Herrn verreisen sollen und sich dessen geweigert habe. Mit Tränen in den Augen habe darauf ihre Gebieterin sie bei ihrer Treue beschworen, ihr einen Wagen nach entgegengesetzter Richtung zu verschaffen, was denn auch von ihr geschehen sei. Die gnädige Frau habe den Wagen nach einem abgelegnen Sträßchen bestellen lassen, wo sie, kaum mit den nötigsten Sachen versehen, eingestiegen und in schnellster Eile fortgefahren sei. Sie habe die arme gnädige Frau begleiten wollen, sei aber von ihr mit den Worten, daß sie fortan nur Gott zum Begleiter haben wolle, zurückgewiesen worden.

Schmerz und Wehmut zerrissen Hermanns Brust. Aus dem Hin- und Herreden der Leute konnte er abnehmen, daß die leidenschaftlichen Vorfälle zwischen den Gatten die Veranlassung zu Medons Unglück mochten gegeben haben. Das geängstigte Mädchen hatte davon überall geplaudert, um sich Luft zu machen, dadurch hatte aller Wahrscheinlichkeit nach der Beamte Kunde von diesen Dingen erhalten. Denn gleich nach der Flucht Johannas war ein subalterner Agent der öffentlichen Macht unter einem Vorwande im Hause erschienen, hatte verschiedne Fragen getan, und das aufgeschichtete Reisegepäck achtsam betrachtet. Unmittelbar nach seiner Entfernung aber erfolgte das, was alle in Schreck versetzte.[468]

Der Beamte erschien, und bat Hermann höflich, sich zu entfernen. Dringend verlangte dieser, zu Medon gelassen zu werden. Nach einigem Zaudern wurde ihm eine kurze Unterredung zugestanden. Mit einer furchtbaren Empfindung betrat er das Zimmer. Medon hielt den Kopf in der Hand gestützt, und bemerkte den Eintretenden nicht. Leise sagte Hermann, an der Türe stehenbleibend: »Ich bin gekommen, Sie zu fragen, ob ich Ihnen in irgend etwas nützlich sein kann?« Medon sah empor, versetzte kein Wort, sondern winkte ihm schweigend, daß er ihn verlassen möge. Hermann konnte den Blick seines Auges nicht ertragen, es lag darin der gläserne Ausdruck der Verzweiflung, einer völlig zerstörten Seele.

Draußen fragte er den Beamten, ob für Johannen etwas zu fürchten sei? was dieser mit Bestimmtheit verneinte. Er wollte über Medons Schicksal einiges erfahren; hier versagte jener aber alle Aufklärungen und rief: »Glauben Sie mir, daß die Erfüllung meiner Pflicht mir schwer genug geworden ist, und daß ich viel darum gäbe, einen Irrtum, vielleicht mit strenger Rüge, büßen zu müssen, als leider die von mir nach und nach geahnete schlimme Wahrheit bestätigt zu sehn.«

Es war Nacht geworden. Er begab sich zur Meyer, wo er Wilhelmi noch vermutete, um mit diesem zu beraten. Eine Menge von Männern und Frauen war dort versammelt, welche die Bestürzung über diese Vorgänge zusammengeführt hatte. Über den eigentlichen Zusammenhang war der Schleier des Rätsels gebreitet, die wildesten Gerüchte kreuzten sich. Wie sollte man es sich auch erklären, daß ein Mann, den Angesehensten des Staats nahestehend, ein Mann von den loyalsten Gesinnungen, ein ganz andrer, ein Feind des Staats gewesen, oder noch sein sollte? Man hoffte ein Mißverständnis, man glaubte, binnen kurzem diese Schatten, welche die geachtetste Persönlichkeit der Stadt jetzt verdunkelten, schwinden zu sehn. Nur Wilhelmi rief: »Ich wünsche es, aber es wird nicht so werden, er ist ein Catilina, und zwar ein gefährlicherer als der römische, weil er keine Laster hat.«

Die gute Seite der Menschen zeigte sich bei dieser Gelegenheit. Alle sprachen ihr innigstes Bedauern über die unglückliche Johanna aus, welche man sich bei Nacht, umherirrend[469] auf öden, bösen Wegen dachte; die Spötter erklärten sich zu jeder Hülfe bereit, Madame Meyer war außer sich. Man besprach, ob man einen Boten mit Briefen schicklichen Inhalts ihr nachsenden solle, oder ob es nicht besser sei, wenn ein Freund selbst dieses Geschäft übernehme.

Hermann erklärte sich zu letzterem bereit. Er gedachte seiner Versprechungen, er fühlte, daß er nicht ohne Schuld der Vernachlässigung gegen die Geflüchtete sei, und gutzumachen habe; stärker aber, als diese Erwägung der Pflicht trieb ihn das heißeste Mitleid der Armen nach.

Man freute sich über seinen Entschluß, die Meyer und Wilhelmi packten eilig verschiedne Reisenotwendigkeiten zusammen, und so fuhr unser Freund nach Mitternacht mit raschen Postpferden davon, begleitet von den besten Wünschen der ganzen Gesellschaft, welche bis zu seiner Abreise vereinigt geblieben war.

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 467-470.
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