Eilftes Kapitel

[470] Von dem Kammermädchen war ihm die Richtung angegeben worden, welche Johanna genommen hatte; es war zufälligerweise dieselbe Straße, an welcher in der Entfernung von zwei Tagereisen Flämmchens Landhaus lag. Nur die Verzweiflung konnte Johannen auf diesen Weg getrieben haben, er führte, fortgesetzt, nach dem Schlosse des Herzogs, und vor der Rückkehr zu ihrem Bruder und seiner Gemahlin hatte sie stets den größten Widerwillen gezeigt. Bei der Abreise war ausgemacht worden, daß Hermann ihr zwar in nichts hemmend entgegentreten, jedoch ihr die liebevollste und dringendste Einladung zu der Meyer überbringen solle. Man meinte, daß sie in deren Hause, wohlberaten von aufrichtigen Freunden, am leichtesten die schwere Zeit überwinden werde, welche ihr bevorstand. Die Meyer hatte in ihrem gutmütigen Eifer noch vor der Abreise Hermanns die Auswahl der Zimmer getroffen, welche die Freundin aufnehmen sollten. Es waren die schönsten und stillsten des Hauses. Hermann nahm sich vor, Johannen mit allen Gründen, die ihm zu Gebote standen, zur Wahl dieses[470] Asyls zu vermögen, da er von einem Zusammentreffen mit der Herzogin bei dem so entgegengesetzten Charakter beider Frauen wenig Gutes hoffen durfte.

Er war mehrere Stationen gefahren, ohne eine Spur von ihr anzutreffen. Schon glaubte er, daß sie ihren Entschluß geändert habe, und von dieser Straße abgewichen sei, als er in einem Landstädtchen, welches er um die Mitte des folgenden Tages erreichte, plötzlich die verlangten Nachrichten bekam. Der Wirt erzählte ihm, daß die Dame, welche er zu suchen scheine, abends zuvor angekommen sei, sehr unruhig getan, und von ihrem Fuhrmanne verlangt habe, weitergefahren zu werden. Dieser habe die Müdigkeit seiner Pferde als Weigerungsgrund angegeben, und sich, aller Versprechungen ungeachtet, nicht dazu verstehen wollen. Die Dame, welche durchaus fort gewollt, sei in großer Bekümmernis gewesen, da sich keine Post am Orte befinde. Sie sei schluchzend auf ihrem Zimmer hin und her gegangen, als plötzlich ein Wagen vor dem Hause gehalten habe, umgeben von einer Menge junger Herrn zu Pferde, die ein großes Geschrei vollführt und einem bildschönen Frauenzimmer in bunter Tracht herausgeholfen hätten. Das Frauenzimmer habe durch Zufall von dem Leidwesen der Dame erfahren, sich gleich zu ihr führen lassen, und sie mit der zierlichsten Höflichkeit gebeten, einen Platz in ihrem Wagen anzunehmen, in dem sie, wenn sie befehle, bis an das Ende der Welt fahren könne. Anfangs sei die Dame das nicht willens gewesen, da aber das Frauenzimmer nicht abgelassen habe, endlich ihr zu Füßen gesunken sei, und ihr Knie umfaßt habe, so sei die Dame mit den Worten: »Du arges Kind, wohin führtst du mich?« in den Wagen gestiegen, auf dessen Rücksitze das Frauenzimmer Platz genommen habe, ungeachtet der wiederholten Bitten der Dame, sich doch neben sie zu setzen.

Der Wirt erzählte noch, daß beim Abfahren der Zug der jungen Herrn mit lautem Geräusche sich habe anschließen wollen, auf einen ängstlichen Blick der Dame nach diesem Schwarme hin, habe aber das Frauenzimmer sich emporgerichtet und ihren Begleitern in gebieterischer Stellung zugerufen: »Zurück, ihr Tiere!« Hierauf seien die jungen Leute, gehorsam diesem Befehle, geblieben, die Nacht sei von ihnen unter[471] tausend Eulenspiegeleien hingebracht worden, und erst am Morgen habe sich das Rudel in Bewegung gesetzt.

Nicht ohne Unruhe hörte Hermann diese Erzählung. Daß das junge Frauenzimmer Flämmchen gewesen sei, stand außer Zweifel, und daß Johannen in ihrer Gesellschaft so manches begegnen könne, was diese verletzen mußte, hatte er zu besorgen. Alles das spornte ihn zur größten Eile an; er gab doppelte Trinkgelder, der Wagen flog nur über die tennengrade Chaussee, und so erreichte er noch vor Sonnenuntergang die Gegend, in welcher Flämmchens Haus, eine Viertelstunde von der Heerstraße hinter Birken- und Tannenwäldchen lag.

Sie kam ihm im Garten entgegen, durch welchen man zu dem Hause gelangte. »Habe ich es nun recht gemacht«, rief sie, »die Schöne, Prächtige bei mir in Sicherheit zu bringen? Ich bin doch das gutherzigste Geschöpf von der Welt, euch beide bei mir zu beherbergen, denn daß du nachsetzen würdest, konnte ich mir wohl denken.«

»Wo ist Johanna?« fragte er. »Droben auf ihrem Zimmer, das deinige ist daneben«, versetzte Flämmchen und sprang fort, um sie von der Ankunft des Freundes zu benachrichtigen. Nach einigen Gängen, die er durch den Garten machte, erschien Johanna, Flämmchen an der Hand, welche neben der vollen, schlanken, hohen Gestalt wie ein Kind aussah. Er nahte sich der verehrten Frau, und beugte sich in tiefer Rührung über ihre Hand. »Können Sie mir vergeben?« fragte er leise.

»Es würde mir unaussprechlich wehe getan haben, wenn ich Sie nicht wiedergesehen hätte«, versetzte sie sanft. »Doch nun ist es ja gut, Sie sind wieder da, und nehmen durch Ihre Ankunft einen Teil meiner Leiden mir vom Herzen.«

Sie standen, gegeneinander geneigt, die Hände vereinigt, Auge in Auge, und es würde schwer sein, von dem Zuge, der ihre Seelen jetzt bewegte, Rechenschaft zu geben. Flämmchen hob sich auf die Füße, faßte ihr Gewand mit anmutiger Gebärde, und begann in lieblichen Kreisen die Gruppe zu umschweben. Immer weiter wurden diese Kreise; endlich berührten sie ein Gebüsch, hinter dem die Tänzerin verschwand.[472]

Er fragte Johannen, wie es ihr hier gefalle, und wie lange sie an diesem Orte zu weilen gedenke? Sie versetzte, daß er ihren Entschluß am folgenden Tage vernehmen solle, und daß sie dabei auf seine Hülfe rechne.

»Das wundersame Kind, bei dem Sie mich finden«, sagte sie, »hat mich fast gezwungen, ihren Wagen und ihr Haus anzunehmen. Sie scheint von der Gewalt plötzlicher Eindrücke abhängig zu sein, und der, welchen ich auf sie gemacht, muß mit großer Stärke gewirkt haben, denn sie klammerte sich so fest an mich, daß ich mich kaum ihr entwinden konnte. Im Wagen setzte sie sich mir gegenüber, um mich immer betrachten zu können, wie sie sagte.«

Hermann, der unter diesen und andern Gesprächen mit seiner Freundin durch den Garten ging, mußte sich im stillen bekennen, daß Flämmchen so unrecht nicht habe. Wenn Mißgeschicke gewöhnlichen Menschen leicht etwas Widerliches geben, so verschönen sie dagegen den Ausdruck höherer Naturen und breiten auch über die Gestalt einen Zauber der Verklärung. Johanna schritt neben ihm wie eine tragische Königin; selbst die Marmorblässe ihrer Wangen erhöhte den Reiz, der von ihr ausging.

Vor dem Hause entließ sie ihn, und wünschte ihm gute Nacht, da sie den Abend allein zuzubringen wünsche. Flämmchen stand in der Türe, kniete vor ihr nieder, und fragte: »Darf ich dich bedienen?« – »Wenn es dir Freude macht, so tue es immerhin«, versetzte Johanna.

Nachdem er seine Sachen auf dem ihm angewiesenen Zimmer hatte ablegen lassen, trieb es ihn wieder in das Freie. Nur durch eine Tür von Johannen geschieden, ohne bei ihr sein zu dürfen, war er von einer Unruhe überfallen worden, welche ihn zwischen den vier Wänden nicht litt.

Ein lauter fröhlicher Gesang zog ihn nach einem entlegneren Teile des Gartens. Das lustige Lied erscholl aus einem geräumigen Gewächshause, hinter dessen großen Glasfenstern er bei dem ungewissen Lichte des Abends noch eben die Sänger erkennen konnte. Die jungen Leute waren es, Flämmchens Gefolge. Sie hüpften zwischen den Palmen, Pisangs und Geranien wie verrückt umher, und mancher Topf fiel von seinem[473] Brette. Der beleibte Mann, welchen Flämmchen den Kurator genannt hatte, saß ärgerlich unter einem Kaktus, und schien sich dieser Gesellschaft zu schämen, besonders als er Hermanns ansichtig wurde. Er machte seine jungen Genossen auf den Fremden aufmerksam, worauf der ganze Schwarm an die Scheiben sprang, und Hermann mit possierlichen Gebärden anstarrte. Dieser hielt es der Höflichkeit angemessen, dem ältlichen Manne einige Worte zu sagen, konnte aber seine Absicht nicht erfüllen, weil er die Türe des Gewächshauses verschlossen fand.

Als er noch vergeblich klinkte, hörte er hinter sich gehn. Er wandte sich um, und sah die Alte mit einem großen Korbe voll Eßwaren herbeikommen. Ihre Züge waren noch schärfer geworden, ihre Farbe hatte sich tiefer gebräunt. Ein buntes wollnes Tuch, welches sie um das Haupt trug, gab ihr ein ausländisches Ansehen. »Seid mir gegrüßt«, sagte sie mit der rauhen Stimme, an welche er sich von dem westfälischen Walde her erinnerte. »Ja, ja, was einmal sich getroffen hat, kommt immer wieder zusammen.«

»Was tust du hier?« fragte Hermann.

»Ich will die Menagerie füttern«, erwiderte die Alte, öffnete die Türe des Gewächshauses und schob den Eßkorb hinein, über dessen Inhalt die jungen Leute gierig herfielen. »Dürfen wir nicht heraus?« fragte einer. »Nein«, antwortete die Alte, »bis auf weiteren Befehl bleiben die Tiere eingesperrt. Nur der Dicke soll in Freiheit gesetzt werden, und dem Herrn Gesellschaft leisten.«

Auf diese Worte kam der Kurator heraus, und sagte zu Hermann mit anständiger Verbeugung: »Rechnen Sie mir es nicht zu, mein Herr, daß Sie mich unter so lächerlichen und fast unschicklichen Umständen kennenlernen. Ich bin wirklich ein ganz geachteter Geschäftsmann, und werde von vielen angesehenen Familien mit ihrem Vertrauen beehrt. Das junge eingesperrte Gesindel zwang mich, so sehr ich mich auch dagegen sträubte, mit in den Käficht zu gehn, worin ich denn bei ihren Possen, ohne Speise und Trank, diesen ganzen Tag habe versitzen müssen.«[474]

Auf nähere Erkundigung vernahm Hermann, daß Flämmchen sehr in Zorn geraten sei, als der Schwarm ihrer unreifen Verehrer ungeachtet des Gebots, mehrere Tage lang fernzubleiben, sich dennoch bei dem Landhause wieder gezeigt habe. Mit dem Rufe: »Ich habe jetzt Besuch, der für euch zu gut ist!« sei darauf die Einsperrung im Gewächshause anbefohlen und auch sogleich vollzogen worden, denn die jungen Leute täten alles, was sie wolle.

Die Alte verschloß das Gewächshaus, und Hermann ging zwischen ihr und dem Kurator nach der Villa zurück. »Ist es wahr«, fragte er den Kurator lateinisch, um von der Alten nicht verstanden zu werden, »daß Sie sich hier als Curator ventris aufhalten?«

»Leider«, versetzte der Kurator seufzend in derselben Sprache. »Es ist die Torheit der jetzigen reichen und vornehmen Leute, alles delikat anfassen zu wollen. Die junge Witwe hat sich für schwanger erklärt, oder vielmehr, das alte Weib hat dies ausgesprengt, möglicherweise in betrügerischer Absicht, weil, wenn ein Erbe erscheint, die Mutter desselben noch lange Jahre hindurch den Nießbrauch aller dieser Besitzungen behält. Statt nun schlechtweg eine Hebamme zur Untersuchung abzusenden, bin ich erwählt worden, den Lebenswandel des Flämmchens zu beobachten, weil man durchaus mit Zartheit in der Sache verfahren wollte. Was diese aber bewirken soll, ist mir unbegreiflich. Das Flämmchen lebt, wie es mag, und es fehlt mir an allen gesetzlichen Mitteln, dagegen hindernd einzuschreiten, so daß ungeachtet meiner Anwesenheit dennoch jeder Unterschleif geschehen kann. Aber man ist abhängig und muß sich daher auch den Grillen seiner Klienten fügen. Das Verzweifeltste bei der Sache ist, daß ich selbst von der Unwahrheit jener Angabe überzeugt bin, und nichtsdestoweniger glaube, die Spitzbübin, welche uns da begleitet, wird ihre Künste in das Werk zu richten wissen, wie sie es denn auch wahrscheinlich gewesen ist, welche den seligen Domherrn mit dem Mädchen zusammenkuppelte.«

Die Alte, welche bis jetzt still vor sich hin gegangen war, blieb stehn, warf auf beide einen höhnischen Blick und murmelte:[475] »Sprecht ihr nur lateinisch; das Kind ist auf der Reise nach Deutschland, und wird zur rechten Zeit ankommen.«

Das Landhaus war hell erleuchtet, auf allen Gängen, in jedem Vorsaale und Zimmer brannten Lampen und Lichter. »Diese Verschwendung findet hier beständig statt«, sagte der Kurator, »denn Flämmchen fürchtet sich vor dem Dunkel, und läßt daher, sobald der Abend einbricht, die Finsternis aus jedem Winkel jagen. Besonders empfindet sie ein Grauen vor den Hinterzimmern des Gebäudes, in deren einem noch die Leiche des seligen Domherrn einbalsamiert und unbedeckt 10 steht. Der Gute hatte im Testamente anbefohlen, ihn in Spiritus zu setzen, um sich physisch bis in die spätesten Zeiten erhalten zu wissen. Da nun diese ungereimte Verfügung nicht wohl auszuführen war, so wählte man jene annähernde Art der Bewahrung, und wird die Leiche beisetzen, sobald in dem dazu bestimmten Gartentempel die nötigen Vorkehrungen getroffen sein werden.«

»In der Tat«, rief Hermann, »es kommt mir hier so vor, als ob ich mich in einem Irrenhause befände.«

»Ja«, versetzte der Kurator, »es weht in dieser Luft etwas Ansteckendes, ich bin oft für meinen Verstand hier besorgt, um so mehr, als ich das gefährliche Beispiel vor mir habe, daß Menschen auch ohne denselben fertig zu werden wissen.«

Flämmchen zog beide hüpfend nach einem strahlend hellen Zimmer, in welchem ein runder Tisch gedeckt stand. Gute Speisen waren aufgetragen, feine Weine fehlten nicht. »Nun eßt, was euch beliebt«, rief sie, »es ist mir nichts Langweiligeres, als die Reihenfolge der Gerichte zu halten, das kommt mir vor, als wenn man nach einer Karte spazierengehn wollte.« Mit diesen Worten verzehrte sie einige Früchte und Konfekte, die zum Nachtische gehörten, und ließ diesem Genusse Fische und Fleischspeisen folgen.

Der Kurator, welcher keinen Blick von ihr verwandte, suchte sich dennoch im Gleichgewichte zu erhalten, und begann, allerhand Geschäftsverhältnisse zu erzählen, welche sämtlich seine rechtschaffne und edle Gesinnung bewahrheiten sollten. Die Erinnrung an seine Tugend rührte ihn so, daß er häufige Tränen vergoß. Flämmchen, welche ihn beständig auslachte,[476] versicherte ihn zu öfterem, er sei dennoch ein abgefeimter Vogel, und flüsterte Hermann zu: »Jetzt will ich den Hanswurst fortschaffen.« Mit einem Sprunge war sie auf seinem Schoße, küßte ihn, und rief schmeichelnd: »Sprich, mein Liebster, wie hast du es angefangen, so brav und gut zu werden?« – Der Kurator war unfähig, etwas zu erwidern, seine Augen starrten das schöne Kind an, sein Mund war durch die Küsse in den Zustand versetzt worden, welchen man die Sperre nennt; so gewährte er einen überaus lächerlichen Anblick. Flämmchen stieß, wie von ungefähr an das Glas, welches er, mit Burgunder gefüllt, in der Hand hielt; es entsank ihm, und die rote Flut strömte über den Tisch. »O weh!« rief Flämmchen, »da verdirbt er mir das feine Gedeck, hurtig in die Küche, und Salz geholt!« – Verlegen, ohne aufzusehn, schlich der bestürzte Geschäftsmann fort, und Flämmchen schloß hinter ihm die Türe ab.

Hermann sagte, als er mit ihr allein war: »Wie magst du nur dieses wilde, leichtfertige Treiben rechtfertigen? Geh doch endlich in dich, und bedenke, daß du durch dein unschickliches Benehmen dich selbst aus den Kreisen vernünftiger Menschen bannst. Ich nehme herzlichen Anteil an dir, aber wie soll ich ihn betätigen, wenn solche Streiche beständig allem Rate, jeder Warnung entgegentreten? Zu spät, wenn ein aufgegebner Ruf, ein siecher Körper dich elend gemacht haben werden, wirst du Reue empfinden, dann bin ich vielleicht dir fern, und niemand steht bei dir, der auf deine Seufzer hört. Versprich mir, Flämmchen, deine Lebensweise zu ändern, entferne vor allen Dingen diese sittenlosen jungen Leute, welche sich wenig für deine Gesellschaft ziemen, und schicke die böse Alte fort, von der ich nichts Gutes glaube.«

Noch mehrere wohlgemeinte Ermahnungen fügte unser Freund hinzu, und hatte dessen nicht acht, daß Flämmchen während seiner Rede leise weg und hinter einen Ofenschirm geschlichen war. Er schmeichelte sich, daß er Eindruck auf sie gemacht habe, daß sie ihre Beschämung hinter dem Schirme verbergen wolle, als dieser umgeworfen wurde, und Flämmchen, ihr Tagesgewand über den Arm gehängt, im leichtesten Nachtröckchen sich zeigte, welches den Glanz der Achseln und[477] des Busens unverhüllt ließ, und kaum bis an die Knie hinabreichte.

»Ungezogenheit über Ungezogenheit!« rief er.

»Es ist Schlafenszeit«, sagte sie gähnend, »und ich konnte deine Predigt nicht besser benutzen, als mich während derselben zu entkleiden. Ihr müßt die Flamme flackern lassen, wie sie mag. Gute Nacht.«

Sie wandte sich, und wies ihm, durch eine Tapetentüre entschlüpfend, den gewölbten Nacken und die runde, zierliche Wade.

Draußen sang sie folgendes Lied:


Wer mir sagte, wo das Mädchen

Ihres Auges Blick gewonnen!

O verkündet, wo das Fädchen

Ihres Leibes ward gesponnen?


Ach, zerging' ich in die Lüfte,

In die leichten, in die warmen!

Durch die Wälder, durch die Klüfte

Schwebt' ich dann mit freien Armen!


Er hob den Ofenschirm auf. Eine große tragische Maske war in demselben eingestickt. Sein Traum im Försterhause, welcher ihm das umfallende Medusenhaupt, und Flämmchen dahinter hervorspringend gezeigt hatte, trat ihm wieder vor die Erinnrung. Die Maske mit ihren starren, furchtbaren Zügen und toten Augenhöhlen konnte wenigstens für ein Analogon jenes erstarrten Antlitzes gelten. Noch näher aber dem Traume kam seine Stimmung, in welcher üppige und grauenhafte Bilder durcheinanderschwankten.

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 470-478.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Epigonen
Die Epigonen; Familien-Memoiren in Neun Buchern (1)
Die Epigonen (2); Familienmemoiren in 9 Buchern
Die Epigonen: Familien-Memoiren in Neun Büchern (German Edition)
Die Epigonen: Familienmemoiren in Neun Büchern (German Edition)
Schriften: 7. Bd. Die Epigonen (German Edition)

Buchempfehlung

Aristoteles

Physik

Physik

Der Schluß vom Allgemeinen auf das Besondere, vom Prinzipiellen zum Indiviudellen ist der Kern der naturphilosophischen Lehrschrift über die Grundlagen unserer Begrifflichkeit von Raum, Zeit, Bewegung und Ursache. »Nennen doch die Kinder zunächst alle Männer Vater und alle Frauen Mutter und lernen erst später zu unterscheiden.«

158 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon