Vorbericht

[502] Von Allwills Papieren sind die fünf ersten Briefe bereits im IV. Bande der »Iris« erschienen. Der Besitzer dieser Sammlung hat sich seitdem entschlossen, auch die folgenden, soviel er davon gesammelt und aufbewahrt hat, dem Publiko nach der Reihe vorzulegen. Diesemnach waren sie, wie in kurzem jeder Leser einsehen wird, kein schicklicher Beitrag mehr zu einem Journal fürs Frauenzimmer.

Ich habe alles angewendet, meinen Freund zu bereden, mit den ersten Briefen seiner Sammlung gegenwärtig den Anfang zu machen; aber er weigerte mir dieses geradezu, ohne meine Gründe widerlegen, noch die seinigen angeben zu wollen.

Sein Vorhaben ist gewesen, aus diesen Materialien einen Roman zu bilden; da dieses aber, leider! nicht in Erfüllung gegangen: so folgt, daß Allwills Papiere, in ihrem gegenwärtigen Zustande, kein Roman sind. Ich zweifle sogar, ob sie nur tauglichen Stoff dazu an die Hand gäben. Die vorkommende Begebenheiten sind nicht merkwürdiger, als man sie alle Tage überall sehen wird, wo nur ebensolche Leute in ähnlicher Verbindung angetroffen[502] werden, um sie hervorzubringen. In der Tat sind hier die Menschen fast das einzige Interessante: wer sich mit diesen nicht befreunden; wer überhaupt durch das Leben, so wie es sich gewöhnlich in unsrer Werktagswelt ergibt, ohne herzliche Teilnehmung an allem durchschleichen kann, der muß viele Briefe dieser Sammlung äußerst schal und langweilig finden. Und da ich nun soeben belehret worden2, daß selbst ein eigentlicher Roman nur zu den Auswüchsen der Literatur gerechnet zu werden pflege; so muß mir mein eigen Gewissen sagen, daß dergleichen wie Allwills Papiere wohl gar nur Unkraut sei, welches kein anderer als ein Feind unter den reinen Weizen unserer Literatur zu säen die Pflichtvergessenheit haben mag.

Mit den philosophischen und moralischen Fähigkeiten dieser Briefe, sieht es insoferne mißlich aus, daß ihre Verfasser anstatt des ganzen Menschengeschlechts immer nur eine einzelne Person im Auge – und mehrenteils andre zu dringende Geschäfte vor der Hand haben, um nicht die Angelegenheiten des großen Alls, und wohl gar ihre eigene gegenseitige Belehrung darüber zu versäumen. O daß es Helden wären! die (wie ich aus vielen Büchern verstanden habe) ihre Taten bloß andern zum Exempel verrichteten – uns zur Lehre nur das gewesen sind, was sie waren.

Von meinen unbedeutenden Leuten, die so gar keine Helden sind, muß ich einiges vorerinnern; denn sie konnten nicht wissen, daß ein geneigter Leser sie erwarte, der ein und andre Umstände von ihnen zu wissen bedürfen werde; sonst hätten sie, dächt ich, dieselben wohl auf eine geschickte Weise einfließen lassen.

Sylli, geborne von Wallberg, stammte aus einer alten Patrizienfamilie in C**. Als sie 15 Jahr alt war, verlor sie ihre Mutter, welche mehr als das gemeine Erdeleben in sie geboren hatte, und sich so ganz in ihr fühlte, daß davon in beider Herzen eine namenlose Liebe ward. Ihr Vater, von einer unbezwinglichen Leidenschaft bis zum Wahnsinn gefoltert, begrub sich zwei Jahre nachher in ein Kartäuserkloster. Er war, als die folgenden Briefe geschrieben wurden, noch am Leben. Nun geriet sie mit ihrem Bruder in Vormundschaft, und in eine so verwirrte Lage, daß ihr Herz dabei um und um wund werden mußte.

Sie mochte 21 Jahr alt sein, als einer von den Gefährten ihrer Kindheit und zartern Jugend, August Clerdon, sie wiedersah, und die heftigste Liebe für sie empfand – ein feuriger Mann,[503] von überschwenglichem Geist, aber sehr unstetem Sinne. Die Verbindung kam zustande, und Sylli zog nach E***, wo ihr Mann eine der ansehnlichsten Stellen bekleidete. Gleich darauf kam desselben Bruder, Heinrich Clerdon, als Regierungsrat nach C**. Beide waren in der Schweiz geboren, aber schon als Kinder mit ihrem Vater nach Teutschland versetzet worden.

Syllis liebster Gespiele war immer Heinrich gewesen. Er hatte in ihren Grundnoten die meisten Akkorde, und von vielen Dingen tönten beider Seelen reinen Einklang ineinander: Demnach verstanden sie sich über manches vollkommen, über vieles sehr gut, über einiges aber auch nur kaum erträglich.

In leidenfreiester Eintracht leben wir mit denjenigen, die über einen gewissen Punkt hinaus, ausgemachterweise, uns gar nicht verstehen; daher dann der entschlossene Menschenverächter allein den ewigen Frieden genießt. Sylli und Clerdon aber fanden es in jedem Falle unmöglich, eine Idee bei sich festzusetzen, oder eine Partei zu ergreifen, wodurch ihre gegenseitige Meinung voneinander heruntergesetzt, und ihre Freundschaft vermindert worden wäre; lieber harrten sie aufeinander im äußersten Schmerz, und keinmal verfehlte diese schöne Duldung ihren Lohn. Es stieg ihre Freundschaft in immer wachsenden Harmonieen, durch Mißlaute – starke und kühne Auflösungen, zum reinsten Engelsgesang, worin Menschenatem sich verwandeln mag, empor.

Es hatte Sylli geahndet, daß August auf vielerlei Weise sie unglücklich machen würde, aber sie liebte den herrlichen Menschen und gab sich ihm hin. Drei Jahre nachher starb er mitten in der Verwicklung eines durch niederträchtige Treulosigkeit gegen ihn angesponnenen Handels, der ihm die völlige Zerstörung seiner äußerlichen Glückseligkeit drohte. Seine Witwe, die wenig eigenes Vermögen hatte, und auch das noch in Gefahr sah, mußte diesen Rechtshandel von schlechten Menschen unterstützt, gegen schlechte Menschen fortsetzen, und deswegen zu E*** bleiben; an einem Orte, den sie nie geliebt, und welcher ihr nun um so mehr zuwider war, da ihre ganze Seele nach C** hing, wo alles, was sie noch an die Erde fesselte, vereiniget war. Ein einziges Kind das sie geboren hatte, war dem Vater nachgefolgt. Als sie die beikommenden Briefe schrieb, mochte sie achtundzwanzig Jahr alt sein.

Der sonderbare Gemütszustand, der keinen Namen hat, worin Sylli uns gleich in den drei ersten Briefen dieser Sammlung erscheint,[504] läßt sich im Grunde weder aus den angeführten noch aus andern äußerlichen Umständen hinlänglich erklären. Er kann nur in lebendiger Darstellung gezeigt, und nur durch Sympathie begriffen werden.

Amalia, deren gleich im 2. Briefe, ohne weiteres, gedacht wird, war Heinrich Clerdons Gattin, und die Schwestern, Lenore und Clärchen von Wallberg, Syllis leibliche Kusinen. Alle diese Leute hatten, in verschiedenen Perioden, viele Jahre neben- und miteinander zugebracht, und lebten in brüderlicher Vertraulichkeit. Von Eduard Allwill und andern vorkommenden Personen etwas voraus zu erinnern wäre überflüssig.

Der Besitzer von Allwills Papieren glaubte, es sei gar nicht tunlich, sie in ihrer eigenen Gestalt dem Publiko vorzulegen; die kleinen Details müßten ausgemerzt, der Gesichtskreis erweitert, und das Ganze zur allgemeinen Brauchbarkeit umgearbeitet werden. Dawider führte ich ihm folgende Worte aus Lavater an: »Wer alles sehen will, sieht nichts; wer alles tun will, tut nichts; wer mit allen redet, redet mit keinem. Sieh eins und du siehst alles; tu eins und du tust alles; rede mit einem allein, und du redest mit unzähligen.« Ich glaube in Shaftesbury etwas Ähnliches gelesen zu haben; und daneben ist die Sache an und für sich – wahr.

Geschrieben den 22. Febr. 1776.

F.

2

In der Allg. d. Bibl. T. 26. S. 343.

Quelle:
Sturm und Drang. Band 1, München 1971, S. 502-505.
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