Sylli an Clerdon

[505] Den 6. März.


Ja, mein Freund, noch alle Tage wird es öder um mich herum, und so setzt sich denn die sonderbare Gemütsstimmung, die Sie an mir tadeln, und wofür Sie keinen Namen wissen, immer fester. Ich soll Ihnen nennen, was es sei, das weder Milzsucht, Trübsinn, Menschenhaß oder Menschenverachtung, noch sonst etwas ist, das sich aus Romanen oder Schauspielen bedeuten ließe, das aber mein Herz zugleich so warm und so kalt macht, meine Seele so offen und so zugeschlossen. Lieber Clerdon, Vielleicht ein andermal, diesmal hören Sie, was mir gestern begegnete.

Ich geriet auf einige Stunden lang an das Bett einer Sterbenden. Sie war eine gute Bekanntin von meiner Tante Moßel; mich ging sie weiter nichts an, stand mit meiner eigentlichen Person[505] nicht in dem mindesten Verhältnis; ein alltägliches Geschöpf, sehr dumpfen Sinnes, aber ohne alles Arge. Ihre Leiden auf dem Sterbebette waren groß. Man hatte zu ihrer Genesung eine der schrecklichsten Operationen versucht. Das alles stand sie gelassen aus: es war die Fassung ihres Temperaments, schlichte Fortsetzung ihres Lebens bis ans Ende. Vier Stiefkinder (eigene hatte sie nie) standen um ihr Bette; näher ihr Mann, der es bloß gewinns- und gewerbshalber geworden war. Alle weinten und schluchsten recht ernstlich; gewiß, Clerdon, ihre Trauer ging von Herzen. Aber im Grunde, was war's? Etwa ein wenig Reue, ein wenig Erkenntlichkeit, armselige Scheu vor der Befremdung, wenn sie jetzt nicht mehr dasein würde, Bangen vor dem Bild des Todes. – O wie gleicht doch alles einander so widerlich! Ich saß da ganz kalt; körperlich gepeinigt von dem körperlichen Leiden der Kranken; konnte sonst mit niemanden sympathisieren.

Itzt kam der Geistliche hinzu, und begann seine Geschäfte. Ich versichere Ihnen, die gute Frau zagte nicht der Zukunft wegen, hatte nicht die mindeste Seelenangst; nur das Dahinsterben ihrer Kräfte, die Lebensermattung preßte ihr manches Ach aus der Brust; und da kam jedesmal ein Zuruf, ein Spruch, ein Vers aus einem Liede, das dann nur die ohnmächtigen Organen zu einem marternden Gebrauche wieder auffing, die milde Hand des Todes bewaffnete, und der Seele wehrte, still und sanft von dannen zu scheiden. – O des Wusts von Welt!

Heute nun ist der Verstorbenen wegen ein Klagen, ein Weinen, auch hier bei meiner Tante, daß einem um Trost bange wäre, der nicht wüßte, daß unter allen diesen Hochbetrübten keiner ist, der die Gattin, Mutter, Freundin bei ihrem Leben nicht immer ganz entbehren konnte. Und nun ich, welcher dies alles so klar vorschwebt, mitten unter diesem Haufen, ganz ohne Teilnehmung; aber ach! im Innersten meines Wesens erschüttert, von unerträglichen Gedanken. – Du mit den vielen Namen, das die Menschen alle zueinanderzerrt, durcheinanderschlinget, was bist du? Quell und Strom und Meer der Gesellschaft, woher? und wohin? ...

Ich sehe die finstere Hohle, und den großen Kessel, worin »Macbeths« Hexen, allerhand Stücke von Tier und Mensch, Froschzehen, Wolfszahn, Fledermaushaar, Judenleber, Türkennase, Tartarlippe, und wieviel andre Dinge sammeln, um das Werk ohne Namen zu bereiten; kochen und kochen am[506] Zauberwesen, bis aus dem Gemenge die Phantomen all hervorgehn:


Erscheinen, erscheinen, erscheinen,

Kommen wie Schatten, und verschwinden wieder


Und dazu dann den grotesken Rundetanz, und die herrliche Musik, und die bezauberte Luft, die ganze, beste, vollständigste Lustbarkeit!

Doch so abenteuerlich, mitunter so fürchterlich, ist's lange nicht. Ich muß des Grausens lachen, das mich anstieß. Nein, guter Clerdon, nein, nur eine bunte hölzerne Jahrmarktspuppe, Rumpf und Rock aus einem Klötzchen, Arme, Füße, Kopf daran geleimt, und ein Brettchen darunter, daß es stehe: ist denn das ein Gespenst? –

Quelle:
Sturm und Drang. Band 1, München 1971, S. 505-507.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Aus Eduard Allwills Papieren
Aus Eduard Allwills Papieren (Sammlung Zenodot) (Paperback)(German) - Common