Lenore von Wallberg an Sylli

[526] Hainfeld den 12. März.


Wir hatten gestern einen herrlichen Tag in Clerdons Hause, und da entstand zwischen Clärchen und mir ein großer Streit, welche von uns beiden Dir heute von dem herrlichen Tag erzählen sollte. Ich – hatte, leider! nur das Recht auf meiner Seite – und Clärchen, wie immer, die Gründe; damit beschwatzte sie in der Geschwindigkeit, eh ich nur ein Wort anbringen konnte, den leichtfertigen Clerdon so artig, daß er mit der ehrlichsten Miene von der Welt zu mir sagte: »Aber, Lenore, du hast ja wieder unrecht!« Ich schalt ihn einen parteiischen, gewissenlosen Mann, der er ist, und rief Amalia zu Hülfe. Mamachen sagte, eine von uns müsse ohnedem bis auf den Mittwoch bei ihr bleiben; welche von beiden das nun wäre, die sollte nicht schreiben, sondern es der andern überlassen. Wir loseten ums Bleiben; Clärchen zog das größte. Nun hättest Du hören sollen, wie der unartige Clerdon mich zum besten hatte, wie er mir Glück wünschte, daß ich zu meinem Recht gelanget sei – Der Kutscher sollte den Phaethon anspannen, und die Galalivree anlegen, um mich im Triumph nach Hause zu führen, u. dgl. m. Gegenwärtig ist's mir[526] doch ganz wohl bei meinem kleinern Lose: ich habe Dir von meinem blauen Tische her, unter dem frohen Gezwitscher einer Menge Vögel, die in unsern Hecken und Obstbäumen flattern und nisten, einen sehr schönen Morgen zu bieten, der sich durch das alles hindurch recht frisch zu Dir hinbegeben soll. Du bist doch wach, liebe Sylli? – So laß Dir erzählen.

Du weißt, wie Amalia zu uns an den Kamin kam. Eben hatte sie uns, jedwedem besonders, ihr frohes Gesicht angepaßt, und uns ein wenig geneckt, als Bering mit einem Schreiben von Hof hereintrat. Es enthielt die Nachricht, daß eine Sache, für die Clerdon nicht ohne Gefahr und Verlust aus allen Kräften gefochten hatte, nach seinem Wunsch entschieden sei. Sie betraf vornehmlich den grundehrlichen von Birk, der die wackere Frau mit eilf Kindern hat: eine vornehme Rotte wollte Unehre und Dürftigkeit über ihn verhängen. Noch drei andre gute Bürger waren in den Handel verflochten, und mit ähnlichem Jammer bedroht. Der einzige Clerdon hielt bei den Unglücklichen stand; welche sich nichtsdestoweniger für verloren achteten, da ihnen alle andre Stützen durch List und Macht vor und nach entrissen worden. Die guten Leute, wie konnt es auch in ihre Seelen kommen, was man an solch einem Manne hat! – Sie waren gerettet – – »Lieber Bering«, rief Clerdon, »laufen Sie doch zu Birk und den drei andern, und bringen Sie ihnen hurtig diese gute Zeitung.«

Bering mochte ungefähr unten an der Treppe sein, als Clerdon ihm nachflog, und ihn zurückrief. – »Ich bilde mir ein«, sagte er zu ihm, »die Leute werden im ersten Freudentaumel zu mir laufen, und ihren Dank gegen mich ausströmen wollen; Sie wissen, wie mich dergleichen ängstiget: also hindern Sie's, lieber Bering; erzählen Sie den guten Leuten, was alles zu ihrer Rettung beigetragen: daß ich es nicht allein tat, und daß, was ich tat, nicht einmal eigentlich um ihrentwillen geschah. Gott weiß, mein Gemüt war so aufgebracht durch die Tyrannei und Niederträchtigkeit ihrer Feinde, so voll innern Grimms, daß – daß ich – Nun Sie wissen's ja, Sie wissen, wie mir ums Herz war; machen Sie das den Leuten nur recht deutlich, damit sie's begreifen und sich in Ruhe geben.«

Der gute Bering schüttelte lächelnd den Kopf. – »Ich will mein Bestes tun, Herr Regierungsrat; aber wieviel ich ausrichten werde? – Die Leute wissen allzusehr – –«

»Was?« unterbrach ihn Clerdon etwas hitzig. »Ich wäre ja[527] der schlechteste Mensch, wenn ich anders gehandelt hätte, und ich hoffe, Sie werden dies mit gutem Gewissen aus sich selbst bekräftigen können. Besinnen Sie sich nur, und bedeuten Sie nur gehörig diesen Leuten, wie ich nicht ausstehen kann, wenn man viel Wesens davon macht, daß einer seine Schuldigkeit getan hat, und kein Unmensch war.« – Er klopfte Bering freundlich auf die Schulter: – »Gehen Sie, gehen Sie, und machen Sie Ihre Sachen gut.«

Ein Weilchen nachher wurden Riedersheimer Deputierte gemeldet. Du mußt wissen, daß unser Freund die Eingesessenen dieses Amts von einem fast unausstehlichen Druck, worunter sie seit 70 Jahren sich gekrümmt, kürzlich losgekämpft und losgebettelt hat. Amalia und wir Mädchen taten uns ganz heimlich etwas damit zugut, daß Clerdon dem Verhängnis einer Danksagung an diesem Tage nicht ausweichen können. Die Männer traten herein: ein Bürgermeister, zwei Schöffen, und sechs der angesehensten Grundsassen. Die drei ersten hatten Clerdon mehrmals gesprochen. Zuversicht und Liebe sprach aus ihrer ganzen Gebärde, besonders waren ihre ehrliche Gesichter so voll und schön davon, daß ich sie wohl hätte küssen mögen. – »Herr Regierungsrat«, sagte der Bürgermeister, »wir kommen mit leeren Händen, das bei dergleichen Gelegenheiten wohl nie passiert ist; aber da sind sechs Männer mitgekommen, die sollen mit uns fürs ganze Amt zeugen, daß wir alle in unserm Herzen und vor Gott Ihnen und Ihren Kindern Haus und Hof zum Notpfennig verschrieben haben, und, wenn's drauf ankäme, daß auch der Ärmste von uns dann seine letzte Kuh zuviel im Stall hätt.« – »Ja, Ihro Gnaden«, beteuerten die Männer, »das ist so wahr, als ein Gott im Himmel ist, und soll auch so wahr bleiben.« Dabei falteten sie ihre Hände in die Höhe, und man sah auf aller Stirne, daß sie vor Gottes Angesicht standen, unserm Clerdon, Du kennst ihn, war die Sprache vergangen, aber Aug und Mund lächelten den Rechtschaffenen den Himmel seiner Seele in die ihrigen hinüber. Er reichte eben seine Hand dem nächsten dar, und wollte zu reden versuchen, als die Tür aufging, und hinter dem Bedienten drein, der ihn melden sollte, Birk hereinstürzte, der ohne ein Wort hervorbringen zu können sich ihm zu Füßen warf. – »Stehen Sie auf, Birk«, rief Clerdon; »stehen Sie auf; ich kann das durchaus nicht leiden.« Birk gehorchte, schlug die Augen gen Himmel, und deutete hinauf dem Edlen mit beiden Armen. Indem kamen auch die drei andern, ergriffen Clerdons[528] Hände und überströmten sie mit Tränen. Birk erzählte unterdessen den Deputierten, was Clerdon für ihn und die Gefährten seines Kummers getan: und als diese nun auch hinzukamen, und die Deputierten mit ihrer eigenen Geschichte erwiderten, da fingen die guten Leute an, unsre Gegenwart zu vergessen; sie drängten sich zusammen, irrten in vertrauten Umschlingungen durcheinander und um uns herum, und von allen Stimmen hörten wir die Worte wiederholen: – »Ja, so gibt's keinen Mann mehr; so hilft er allen Menschen – Stadt und Land muß für ihn beten.« – – Laut rief unversehens einer aus dem Hauf: »Gott, der Vergelter segne euch, und erfreu euch auf ewig!« Alle wurden wach, umzingelten Clerdon, küßten uns die Hände, und wiederholten immerwährend: »Gottes Segen und die ewige Freud, Amen! Amen!« – Wir weinten recht herzlich. Clerdon wußte nicht zu bleiben. Er fuhr mit der Hand sich an die Stirne, und wankte so, mit zurückgeschlagenem Haupte, in sein Kabinett. Das Zimmer ward bald leer. Unsern Clerdon fanden wir ganz in sich gekehrt, in seinem Kabinett sitzen. Wir lagerten uns an ihn, jede so gut und dicht sie konnte. Ein Meer von Liebe ergoß sich über uns aus seinen Augen, welche alles sahen, was in unsern Herzen vorging. – – »O wie wohl mir von eurer Liebe ist! – Aber zuviel, zuviel! – Einst – vielleicht bald –« hier flog eine Blässe über sein Angesicht, die wie ein Blitz kam und verschwand. – Unser Herz zerriß. O des unbegreiflichen Zweiflers! Wir verbargen uns in seine Arme, in seinen Schoß, und weinten, daß wir schluchzten. – »Auch an mir?« bebten Amaliens Lippen; – aber kein Wort der Zuversicht kam aus seinem Munde.

Kaum hatten wir uns ein wenig erholen, und Amalia sich vollends ankleiden können, als es ein Uhr schlug, und Allwill, der zum Mittagsessen gebeten war, sich zu uns gesellte. Wir erzählten ihm das Vorgegangene, und gerieten darüber in ein schönes herzliches Gespräch, das uns zusammen in die reinste Stimmung zu aller Wonn und Wehmut setzte. So geleiteten wir einander die Treppe hinunter nach dem Speisesaal. – – Es sollte einmal recht Sonntag sein an diesem Tage – denn nun trafen wir noch im Vorhause zween Kinder in neuer Kleidung, welche vor ihre Pflegmutter Amalia zur Ehrenerscheinung kamen. Sie gehören einem Unglücklichen, dessen Frau wegen Dieberei auf dem Raspelhause, sitzt. Der Knabe war mit kleinen Heinrichs Überrock und Matrosenwams geputzt. Das Mädchen hatte Jacke und Rock von Tuch; ein siamoisinen Schürzchen, kattunen[529] Halstuch usw., nicht zu vergessen ein neues Hemd, deren Amalia für jedes zween hatte machen lassen. – »Gib du ihnen etwas Geld«, sagte Amalia zu Clerdon; er tat's und wir auch. Der Bub, 9 Jahr alt, sah uns freundlich und vergnügt an, und dankte; das kleine Mädchen aber, ohngefähr 8 Jahr alt, wendete sich mit einem betrübten Gesichtchen zu Amalia, und stotterte leis und eilig: – »O machen Sie doch, daß meine Mutter wieder zu mir kömmt!« Hiebei fing es an zu weinen, versteckte sich unter sein Händchen und schlich sich so zur Türe hinaus. Man hatte ihm vermutlich bei seinen kleinen Unarten wohl einmal gesagt, es sollte sich was schämen zu weinen, und es wußte nichts davon, wie sehr uns seine Tränen rührten. Allwill gab den Kindern nichts; er hatte Clerdons und Amaliens Hände ergriffen, die er beide fest an seine Lippen gedruckt hielt; Mann und Weib neigten sich über ihn, seine Stirne zu küssen: nie habe ich eine so rührende Gruppe gesehen.

Leb wohl, liebste Sylli.

Ich schicke diesen Brief an Clärchen, damit sie noch etwas dran schreiben kann, wenn sie Lust hat.

Was uns allen auf dem Herzen liegt, weißt Du – – O daß Dir's wohl gehe!

Lenore.

Quelle:
Sturm und Drang. Band 1, München 1971, S. 526-530.
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