Nachschreiben von Clärchen

[530] Lenorens Brief kam zu spät, um noch gestern abend mit der Post abzugehen, und das war recht gut – sag ich; denn nun kann ich Dir auch einen schönen Morgen bieten, einen so schönen als Lenorens ihrer immer sein mochte. Ich sitze ganz obenauf, in dem grünen Zimmer, und schaue über die Kastanienallee weg, gerad aufs freie Feld. Am Himmel herum schwebt dünnes Gewölk, welches die aufgehende Sonne so schön bemalt, daß es wohl schöner ist, als sie selbst; aber doch bin ich auf der Lauer, und meine alle Augenblicke sie hervorbrechen zu sehen. Wie meinst Du, daß meinem Stumpfnäschen das läßt, so hoch über die hohen Gipfel weg in die Sonne zu blicken, »gleich dem majestätischen Donnervogel«? Ich muß selbst darüber lachen. Ärgerlich ist's aber doch, ein Gesichtchen zu haben, dem so etwas nicht läßt.

Liebe Sylli, ich schäme mich anjetzt, neulich darüber gemurrt[530] zu haben, daß wir so früh aufs Land sollten: aber, wie bekannt, ist Hainfeld eine Stunde weit von Clerdons Hause; und dann, wer hätte binnen unsern dreifachen Mauern sich einbilden können, daß draußen schon der Frühling wäre? Hecken und Sträuche sind schon ganz grün, und überall – aus der Erde herauf- von allen Zweigen herab – kriegt's einen doch so lieb zwischen, und äugelt dich an, oh, so herzig, wie ein Mutteraug den angeschlungenen Säugling. Ich kann Dir nicht sagen, wie mir's ans Herz greift – so nah, Sylli, so nah und immer näher, daß mir bange ist für meinen lieben Mai, wenn er kömmt, daß ich ihm wohl möcht ein wenig untreu geworden sein.

Vorgestern spazierten wir noch nach Sonnenuntergang längst den Ufern der Donau. Ich setzte mich hin und sang: »Mädchen, laßt euch die Freude schmecken!« Hinaufwärts den Strom sah es dunkel – dunkel und dunkeler – und hell und heller gegenüber: so sahen wir den Tag von dannen ziehn, und gerad über uns die Nacht ihm an der Ferse. Leise rauschte, nah an mir vorbei, der herrliche Fluß, und spiegelte den Himmel ab mit seinem Abendrot und schönfarbigen Gewölk und mit seiner Nacht. Ich erinnerte mich Deiner, beste Sylli, und segnete Deine Seele, mit der heitern Ruhe, welche rund um mich her über alles, und auch über mich sich ergoß.

Beim Weggehen rief ich Dir, gute Nacht: eben blickte der erste Stern hervor, und ich warf Dir einen Kuß zu: hast Du ihn gefühlt?

Clärchen.

Quelle:
Sturm und Drang. Band 1, München 1971, S. 530-531.
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