62. Der Kaufmann und die Seejungfrau.

[339] Es war einmal ein Kaufmann, der hatte von seinem Vater Geld und Gut geerbt, wer weiss, wie viel, so dass er dachte, es könne nie alle werden. Er lebte darum vergnügt und ohne Sorgen; jeden Tag richtete er grosse Gastmähler und Trinkgelage aus, und jedermann, der bei ihm vorsprach, wurde als Gast aufgenommen und auf das köstlichste bewirtet. Seine junge Frau warnte ihn freilich oft genug und sagte: »Liebes Männchen, ein goldener Berg wird auch einmal alle. Merk auf, du bringst uns mit deiner Verschwendung so weit, dass wir eines Tages betteln gehen müssen.« Er aber schlug alle Warnungen in den Wind und antwortete stets: »Wozu bezahle ich denn meine vielen Schreiber! Die werden schon aufpassen, dass es mir nicht am Gelde mangelt.« Doch die Schreiber passten nicht auf, und seine junge Frau behielt doch recht; denn eines schönen Tages war das bare Geld verbraucht, und obendrein hatte er so viel Schulden zu bezahlen, dass all die schönen Häuser und Güter verkauft werden mussten und ihm nur eine einzige elende Hütte übrig blieb. In der stand eine wurmstichige Bettstelle und eine alte Lade; das war die ganze Einrichtung, die in dem Hüttchen zu finden war.

Das Elend sah er einen Tag an und den zweiten auch; aber am dritten liess es ihm keine Ruhe mehr, er ging hinaus vor die Stadt, stellte sich auf das Brückengeländer und wollte in das Wasser springen, um seinem Leben ein Ende zu machen. Wie er so dastand, stiegen dicke Blasen aus der Tiefe auf, das Wasser brauste und wallte, und eine Seejungfrau tauchte hervor und sprach zu ihm: »Warum willst du dich ertränken?« – »Ach, mir geht's schlecht,« entgegnete der Kaufmann, »ich bin leichtsinnig gewesen und habe all mein Hab und Gut vergeudet. Nun vermag ich die Not und das Elend und die Vorwürfe meiner Frau nicht länger zu ertragen; darum will ich hier meinem Leben ein Ende machen.« – »Wenn's dir nur am Gelde gebricht,« entgegnete die Seejungfrau, »so will ich dir gerne helfen. Geld will ich dir geben, so viel du haben willst, wenn du mir dafür versprichst, was in deinem Hause verborgen ist.« – »Was in meinem Hause ist, das sollst du gerne kriegen,« antwortete der Kaufmann, »schaff mir nur Geld herbei!« Da musste der Kaufmann es der Seejungfrau schriftlich geben, dass er ihr nach vierzehn Jahren das zuführen wolle, was jetzt in seinem Hause verborgen sei, und die Seejungfrau versprach ihm dafür, die grosse Lade bis an den Rand mit harten Thalern zu füllen. Darauf tauchte sie wieder unter und war verschwunden; und auch der Kaufmann machte, dass er heimkam.[340]

Als er in dem kleinen Hüttchen angelangt war, eilte er sogleich zu der Lade, und richtig, sie war bis an den Rand mit harten Thalern angefüllt. Schnell raffte er davon ein gut Teil in den Hut hinein und lief zu seiner Frau. »Mutterchen,« sprach er, »jetzt hat unsere Not ein Ende,« und damit schüttete er ihr den Hut voll Thaler in den Schoss. Die Frau war des Todes darüber erschrocken und rief: »Mann, erst hast du uns zu Bettlern gemacht, und nun bist du gar ein Spitzbube geworden! Schnell sagst du mir, wem du das Geld gestohlen hast!« – »Ich habe es nicht gestohlen,« antwortete der Kaufmann, und dann erzählte er ihr haarklein, wie alles gekommen sei. Als er seine Worte zu Ende gesprochen, jammerte die Frau auf: »Du Rabenvater, du hast dein Kind vor der Geburt verkauft! Ahntest du denn nicht, dass der Teufel im Wasser nichts anderes mit dem Verborgenen in deinem Hause meinen konnte? Hast du denn sonst etwas ausser der Lade und der Bettstelle in deinem Hause, was dein war oder was dir hätte verborgen sein können?« Das musste der Mann zugeben; da nun aber nichts mehr an der Sache zu ändern war, so hielt er sich schadlos für seinen Leichtsinn an gutem Essen und Trinken; seine Frau aber kam einige Wochen darauf nieder und gebar einen wunderschönen Knaben. Als er heranwuchs, ward er nicht nur ein hübscher und feiner, sondern auch ein kluger, artiger und bescheidener Junge, so dass seine Eltern ihre rechte Freude an ihm hatten. Je näher aber sein vierzehnter Geburtstag heranrückte, um so trauriger wurden sie beide, und am dritten Tage vorher war der Vater so betrübt, dass er nicht mehr sprechen mochte und nicht mehr ass und trank. Der Kummer der Eltern frass dem Jungen das Herz ab, und er fragte seinen Vater, was ihm fehle, dass er so traurig sei; doch der Vater gab ihm eine ausweichende Antwort und hiess ihn stille schweigen. Den zweiten Tag fragte der Sohn wieder: »Vater, warum seid Ihr so traurig?« Er erhielt aber von neuem eine ausweichende Antwort. Das kränkte den Jungen, und am dritten Tage sprach er: »Vater, wenn Ihr mir heute nicht sagt, was Euch auf dem Herzen liegt, so gehe ich hin und nehme mir das Leben.« Da erschrak der Kaufmann und erzählte seinem Sohne alles, wie es gekommen war, dass er ihn noch vor der Geburt an die Seejungfrau verkauft habe.

»Was Ihr vor meiner Geburt abgemacht habt, das geht mich nichts an, Vater,« entgegnete der Junge trotzig, »ich stehe für mich allein.« Das half ihm aber nichts, er musste am andern Morgen mit seinem Vater herab zum Strome; doch steckte er zuvor ein Stück Kreide in die Tasche. Als sie nun auf der Brücke standen, beschrieb der Junge mit der Kreide einen Kreis um sich. Inzwischen blubberte und wallte es wieder im Wasser, wie damals, und grosse Blasen stiegen auf, und die Seejungfrau tauchte empor. »Bist du hier mit deinem Sohne?« fragte sie. »Ja, ich habe ihn mitgebracht,« entgegnete der Kaufmann. – »Nun, dann gieb ihn mir herunter!« befahl die Seejungfrau. »Das thu' ich nicht, nimm ihn dir selbst!« versetzte[341] der Kaufmann. »Das kann ich nicht, der Kreis hindert mich. Gieb ihn nur schnell in meine Arme!« gab die Seejungfrau zurück. Doch der Kaufmann beharrte bei seinem Vorsatze, und so stritten sich die beiden eine ganze Stunde herum. Endlich ward die Seejungfrau des Streites überdrüssig und tauchte wieder in die Tiefe hinab; aber ehe sie schied, rief sie dem Kaufmann zu: »Wart's nur ab, über drei Jahre bekomme ich ihn doch!« Sobald die Seejungfrau verschwunden war, trat der Knabe aus dem Kreise heraus und ging mit seinem Vater nach Hause zurück.

Als sie drinnen in der Stube waren, sagte der Junge: »Vater, hier halt' ich's nicht länger mehr aus. Eltern, die ihre Kinder vor der Geburt an den Teufel verkaufen um Geldes willen, das sind keine Eltern mehr; ich wandere in die weite Welt. Wenn euch die Leute fragen, ob ihr keine Kinder gehabt habt, so sprecht getrost nein; ich für meinen Teil werde jedem sagen, dass ich elternlos sei von Kindesbeinen an.« Damit schritt er, ohne Lebewohl zu sagen und ohne Händedruck, aus dem Elternhaus heraus und machte sich auf die Wanderschaft. Er sah Städte und Dörfer, und endlich kam er auch in einen grossen Wald. Nachdem er eine Zeit lang darin gewandert war, begegnete ihm der Förster und sprach zu ihm: »Wohin geht die Reise?« – »Immer geradaus, wo mir die Nase hinsteht,« antwortete der Junge. – »Woher kommst du denn? und wie heissen deine Eltern?« – »Woher ich komme, das weiss ich nicht, und Eltern habe ich nicht.« – »Keinen Vater?« fragte der Förster erstaunt. – »Nein, keinen Vater!« antwortete der Junge. – »Und keine Mutter?« – »Auch keine Mutter!« – »Und was ist denn dein Handwerk?« – »Ich kenne kein Handwerk,« erwiderte der Junge. »Dann werde ich dir das meine lehren,« sprach der Förster, »ich bin ein Jägersmann, und die Jägerei ist die schönste Kunst, die es auf der Welt giebt. Des Morgens singen die Vöglein so schön im Walde, und du darfst Wild schiessen, so viel du willst, kurz, es ist ein herrliches Leben, das Jägerleben. Höre, willst du in meine Dienste treten? Mit drei Jahren hast du ausgelernt und bist ein fertiger Jägersmann.« Die Rede gefiel dem Jungen, und er sagte mit Freuden ja und gab dem Förster die Hand darauf, dass er bei ihm bleiben wolle.

Der Förster nahm den Jungen am andern Tage mit auf die Jagd, damit er das Schiessen lerne. Er traf auch gleich einen Hasen, und es dauerte gar nicht lange, so schoss er so gut, dass er in dieser Kunst seinen Lehrmeister übertraf. Als er schiessen konnte, zeigte ihm sein Meister die Kunst, wie man einen Pflanzkamp einzurichten hat; und sobald der Junge die Sache verstanden hatte, pflanzte jeder von ihnen seinen Kamp. Aber des Försters Kamp blieb klein und kümmerlich und wuchs nicht schneller und nicht besser, als andere Pflanzenkämpe zu gedeihen pflegen; die Bäume aber, welche der Jägerbursche gepflanzt hatte, wuchsen in drei Monaten so hoch, wie andere Bäume in drei Jahren. Der alte Förster freute sich darüber. Als aber eines Tages der Oberförster kam und den Wald besichtigte,[342] fragte er: »Wer hat diesen Kamp gepflanzt?« – »Das habe ich gethan,« antwortete der Förster. »Das geht noch gerade so an,« sagte der Oberförster. Als sie nun aber zu dem Kamp, welchen der Bursche gepflanzt hatte, gelangten und der Oberförster fragte: »Wer hat denn diesen Kamp gepflanzt?« da musste der Förster zugeben, dass den sein Bursche angelegt habe. Da war der Oberförster des Staunens voll, schüttelte den Kopf und ging wieder nach Hause.

Als der Förster in das Jägerhaus zurückgekehrt war, sprach er zu seiner Frau: »Mutter, der Junge bringt mich um meine Stelle. Er ist in dem einen Jahre, da er bei mir dient, ein besserer Förster geworden, als ich es selbst bin. Weisst du, ich werde ihm einen Brief ausstellen, dass er jetzt schon ein gelernter Jäger ist, dann mag er bei anderen Leuten sein Glück versuchen!« – »Das thu nur,« sagte sein Weib, »sonst bringt er uns noch um Hab und Gut.« Da rief der Förster den Burschen zu sich in die Stube und sagte ihm, dass er schon ausgelernt habe und gab ihm einen Brief, dass er ein richtiger Jäger sei. Des freute sich der Junge, sagte dem Meister und der Meisterin Lebewohl und wanderte in den grünen Wald hinein. Der Wald war aber sehr lang und sehr breit, und er war schon drei Tage unterwegs, und noch immer nicht konnte er sein Ende erreichen. Am vierten Tage in aller Frühe sah er auf einem hohen Baume einen herrlichen Vogel sitzen, dessen Gefieder schimmerte, wie Gold und Silber, und dabei sang er schöner und lieblicher, als eine Nachtigall. Dem Jungen gefiel der schöne Vogel, und er legte an, um ihn zu schiessen. »Bruder Jäger, schiess mich nicht,« rief da der Vogel vom Baume herab, »ich kann dir noch einmal von grossem Nutzen sein. Hier hast du drei Federn! Wenn du dieselben in den Mund nimmst, so bist du, wie ich, siehst eben so schön aus und singst so lieblich; und speist du die Federn aus, so bist du wieder ein Mensch, wie du vorher warst.« Die Rede gefiel dem Jäger, er dankte dem Vogel, steckte die Federn zu sich und schritt weiter.

Es dauerte gar nicht lange, so lief ihm ein Mäuschen über den Weg. Schnell war der Jäger zur Stelle und trat dem Tierchen auf den Schwanz. »Ach, töte mich nicht, Bruder Jäger,« rief das Mäuschen mit seiner feinen Stimme, »ich kann dir noch einmal von grossem Nutzen sein. Hier hast du drei Spier (Büschel) Haare von meinem Pelz. Wenn du dieselben in den Mund nimmst, so bist du ein Mäuschen, wie ich bin, und kannst dich in das kleinste Loch verkriechen; und speist du die drei Spier Haare wieder aus, so bist du ein Mensch, wie zuvor.« – »Das ist kein übles Geschenk,« sagte der Jäger erfreut, steckte die Haare des Mäuschens zu sich und ging seiner Wege.

Über ein Weilchen kam ein Windhund in vollem Laufe daher gerannt. Alsbald legte der Jäger die Flinte an, um ihm eins auf den Pelz zu brennen. »Bruder Jäger, schiess mich nicht,« sagte der Windhund, »ich kann dir noch einmal von grossem Nutzen sein. Hier hast du drei Spier von meinen Haaren. Wenn du dieselben in den[343] Mund nimmst, so bist du ein Windhund, wie ich, und läufst mit dem Wind um die Wette; und speist du die Haare wieder aus, so bist du ein Mensch, wie zuvor.« – »Schönen Dank, lieber Windhund,« entgegnete der Jäger, »wer mir solche Gabe giebt, den schiesse ich nicht.« Dann nahm er die Haare des Windhundes zu sich und setzte seinen Gang fort.

Mit einem Male trat aus den Bäumen ein gewaltiger Löwe auf ihn zu. »Jetzt gilt's dein Leben!« sagte der Jäger und riss die Flinte an die Wange. Aber der Löwe rief ihm zu: »Bruder Jäger, schiess mich nicht, ich kann dir noch einmal von grossem Nutzen sein! Hier hast du drei Spierken von meinen Haaren. Nimmst du die in den Mund, so bist du ein Löwe, wie ich; und ich habe mehr Kräfte, wie zehn andere Löwen zusammen genommen.« – »Das lasse ich mir gefallen,« antwortete der Jäger schmunzelnd, »das ist ein gesegneter Tag!« Dann steckte er auch die Haare des Löwen in die Tasche, sagte ihm schönen Dank und machte, dass er aus dem Walde herauskam. Endlich wurden die Bäume lichter, und noch ein Stückchen Weges, und er hatte dem Walde den Rücken gekehrt und befand sich mitten in einer grossen, volkreichen Stadt.

Müde und matt kehrte er in dem ersten besten Gasthofe ein und bat den Wirt, dass er ihm Speise und Trank gebe und ihn über Nacht bei sich behalte. Als der Wirt das grüne Kleid und die Flinte erblickte, sprach er zu dem Jungen: »Seid Ihr ein Jägersmann?« – »Das bin ich, Herr Wirt,« antwortete der Junge, »und noch dazu ein ausgelernter, der seinen Brief vorzeigen kann.« – »Dann ist Euer Glück gemacht,« erwiderte der Wirt, »der König sucht gerade einen Mann, wie Ihr seid.« – Indem kam auch schon der Hofjäger herein und fragte den Wirt, ob noch immer nicht ein Jägersmann bei ihm vorgesprochen habe. »Da sitzt er,« gab der Wirt zurück; und da der Junge damit einverstanden war, in des Königs Dienste zu treten, so musste er sogleich mit dem Hofjäger auf das Schloss kommen. Dort sollte er seine Probeschüsse thun; und da er jedesmal das Schwarze in der Scheibe traf, so ward er sogleich angestellt und musste des Königs Küche mit Wildbret versorgen. Er schoss aber stets, wenn er auf Jagd ging, so viel, dass er es gar nicht allein nach Hofe schaffen konnte. Als das der König vernahm, befahl er, dass er nur jeden zweiten Tag in den Wald ginge, und er gewann ihn um seiner Kunstfertigkeit willen so lieb, dass er ihn wie seinen Sohn behandelte und ihm erlaubte, in seinen Freistunden in den königlichen Garten zu gehen, wohin er wollte.

Eines Tages that er das auch wieder, und diesmal ging er tiefer hinein, als er je zuvor gekommen war. Da stiess er endlich an eine gewaltige Mauer, die war so hoch, dass die höchsten Bäume nicht darüber hinweg sehen konnten, und so lang, dass das Ende nicht abzulaufen war. Als er wieder in das Schloss zurückgekehrt war, fragte er den Hofjäger, was es mit dieser Mauer auf sich habe. Da antwortete der Hofjäger: »Hinter der Mauer liegt ein grosser,[344] schöner Garten, in den sind des Königs drei Töchter verwünscht. Darum ist die Mauer so hoch, dass die höchsten Bäume nicht hinüber sehen können, und so lang, dass ihr Ende nicht abzulaufen ist.« – »Wie können denn die Königstöchter erlöst werden?« fragte der Junge weiter. »Mein Sohn, das ist sehr schwer,« erwiderte der Hofjäger, »das haben schon viele Prinzen und Grafen versucht, und sie haben alle ihr Leben darüber verlieren müssen. Des Königs Töchter sind nämlich alle drei ganz gleich von Wuchs und Angesicht und tragen auch dieselben Kleider. Wer nun die Prinzessinnen erlösen will, der muss drei Mal dieselbe, die er zuerst genannt hat, herausfinden können. Gelingt ihm das nicht, und das ist bis jetzt noch keinem gelungen und kann auch keiner zu Wege bringen, so schlägt ihm der Henker das Haupt ab.« Der junge Jäger merkte sich diese Worte; und als er wieder einmal seinen freien Tag hatte, lief er in den Garten zu der Mauer, nahm die drei Federn in den Mund, und sogleich ward er ein herrlicher Vogel und schwang die Flügel und flog über die hohe Mauer hinüber in den verwünschten Garten hinein.

Vor der Thür ihres Hauses sassen die drei Prinzessinnen und spannen, und der schöne Vogel flog auf eine Weissdornhecke und legte den Kopf zurück und drückte die Augen zu und sang so herrlich, dass die Königstöchter vor Freude ausser sich waren über den herrlichen Gesang. Am meisten freute sich aber die jüngste Prinzessin, und sie hätte gar zu gerne den schönen Vogel gefangen. »Streu ihm doch Salz auf den Schwanz!« riefen die beiden Schwestern. Sie liess sich aber nicht beirren und schlich ganz leise, leise an die Hecke heran; dann griff sie zu und, richtig, sie hatte den schönen Vogel in den Händen. Vergnügt lief sie mit ihm in das Schloss, die Treppe herauf in ihr Schlafkämmerchen, und that ihn dort in einen goldenen Bauer; darauf gab sie ihm zu essen und zu trinken und steckte ihm auch ein Stückchen Kuchen zwischen die Stäbe, dass er davon nasche.

Als nun der Abend kam und sie sich zu Bett gelegt hatte, da schob der Vogel mit dem Schnabel die Thür in die Höhe und hüpfte auf die Erde hinab. Nachdem er das gethan hatte, spie er die drei Federn wieder aus, und sofort war er ein Mensch, so jung und schön, wie er vorher gewesen war. Darauf trat er an das Bettchen der Königstochter heran und beugte sich über sie und gab ihr einen Kuss auf ihren roten Mund. Sogleich schlug sie ihre Äuglein auf und rief ängstlich: »Wer ist denn bei mir in der Stube?« – »Ich bin's! Der schöne Vogel ist es!« erwiderte der Jäger. »Ich bin ein Mensch, wie du bist, und habe mich nur für eine Zeit lang in einen Vogel verwandelt, dass ich über die Mauer herüber fliegen möchte und dich erlöste.« – »Ach, das ist herrlich von dir,« sagte die Prinzessin, die nun alle ihre Furcht verloren hatte, »meine beiden Schwestern und ich, wir langweilen uns hier schon viele Jahre in dem ummauerten Garten. Und wenn du uns erlösen wirst, dann sollst du auch mein Mann werden, und wir leben glücklich und zufrieden unser Leben lang.« – »Wie finde ich dich aber unter deinen Schwestern heraus?«[345] fragte der Jäger. »Das ist nicht so schwer,« versetzte die Prinzessin, »wenn du unter uns wählen musst, so gieb nur genau auf unsere Füsse acht. Ich werde den rechten Hacken drehen; das merkt kein Mensch, und du weisst genau, woran du bist.« Das leuchtete dem Jäger ein, und er blieb bei der Prinzessin die ganze Nacht und lachte und scherzte mit ihr bis an den lichten Morgen. Dann nahm er die drei Federn wieder in den Mund, verwandelte sich in einen Vogel und flog über die hohe Mauer zurück in des Königs Schloss.

Nachdem er sich wieder in einen Menschen verwandelt hatte, traf er vor der Thüre den Hofjäger und sprach zu ihm: »Ich hab's mir heute Nacht überlegt, ich will des Königs Töchter erlösen.« Der Hofjäger dachte, ihn rühre der Schlag. »Bist du von Sinnen,« rief er aus, »der Kopf sitzt dir wohl zu fest auf den Schultern!« – »Ich bitte dich, melde mich an bei dem König,« bat er wieder; doch der Hofjäger antwortete, das würde er nimmermehr thun, er wolle an seinem Tode nicht schuld sein. »Nun gut, so melde ich mich selbst an,« versetzte der Jäger, klopfte und trat in des Königs Stube. »Was willst du denn?« fragte der König freundlich. – »Eure Töchter erlösen,« erwiderte der Jäger. – »Ach, mein Sohn,« sagte der König traurig, »schlag dir doch das aus dem Sinn! Sieh nur, viele Prinzen und Grafen haben es schon versucht, und alle haben ihren Vorwitz mit dem Leben büssen müssen, lass dich warnen und steh ab von dem Vorhaben.« – »Mein Leben ist nicht besser, als das der anderen,« entgegnete der Jäger, »lasst nur die drei Prinzessinnen hereinführen.« – »Ich habe dich gewarnt,« sprach der alte König, »rätst du falsch, so bist du dem Henker verfallen, und keine Macht der Welt vermag, dich von dem Tode zu retten.« – »Das weiss ich,« antwortete der Jäger, »führt nur die Jungfrauen herein!«

Ehe es aber dazu kam, wurde der Henker geholt, damit er dem Jäger, wenn er falsch geraten hätte, auf der Stelle das Haupt abschlagen könnte. Erst, nachdem er in den Saal getreten war, wurden die drei Prinzessinnen hereingeführt. In Wuchs, Gesicht und Kleidung glichen sie sich, wie ein Apfel dem anderen; der Jäger sah aber nicht auf den Wuchs, auch nicht auf das Gesicht und nicht auf die Kleidung, er schaute nur auf die Füsse. Und als der König ihn fragte: »Jetzt sag mir, welche von meinen drei Töchtern willst du herauswählen?« so antwortete er: »Die jüngste!« Dann trat er auf die Prinzessin, die auf dem rechten Flügel stand, hinzu und schloss sie in seine Arme. »Richtig geraten,« sagte der König verwundert, »jetzt musst du zum zweiten Male wählen,« und nachdem er das gesagt hatte, wurden die Prinzessinnen hinausgeführt und kamen nach einer kleinen Weile wieder herein. »Wo steht jetzt die jüngste?« fragte der König. Sogleich schritt der Jäger auf die mittlere hinzu, umarmte sie und sprach: »Dich hab' ich schon einmal in den Armen gehabt.« – »Du hast Glück,« rief der König erfreut, »möchtest du doch auch das dritte Mal glücklich raten!« und die Jungfrauen wurden wiederum hinausgeführt, um gleich darauf von neuem in den[346] Saal zu treten. »Welche ist es jetzt?« fragte der König. »Die linke,« sagte der Jäger zuversichtlich, denn die Prinzessin hatte ihn nicht im Stich gelassen und auch zum dritten Male die rechte Hacke gedreht, und schritt auf sie zu und küsste sie. – »Nun seid ihr erlöst,« rief der alte König und war ganz ausser sich vor Vergnügen, »und der Jäger soll meine jüngste Tochter heiraten, und wenn ich einmal gestorben bin, soll er König werden an meiner Statt.« Darauf wurde sogleich ein grosses Mal zugerüstet und Hochzeit gefeiert, und der Jäger wurde zu einem Prinzen des königlichen Hauses gemacht.

So lebte er mit seiner jungen Frau vergnügt und fröhlich Jahr und Tag, und hatte auch mit der Zeit einen kleinen Sohn bekommen. Eines Morgens ging er, wie er zu thun pflegte, zeitig auf die Jagd. Da erblickte er vor sich einen schneeweissen Dammhirsch, der angeschossen schien, denn er hinkte auf drei Beinen durch die Bäume dahin. »Den fängst du lebend für den Lustgarten!« dachte der Prinz und jagte hinter ihm drein. Aber der Hirsch liess sich nicht so schnell fangen, wie der Prinz sich das dachte, und er kam in der Hitze des Jagens von seiner Dienerschaft ab. Endlich war er ihm dicht auf den Fersen. Da wurde der Wald lichter, und der Hirsch blieb ermattet auf einer Brücke stehen, die über einen grossen Strom führte, der sich nicht weit davon in das Meer ergoss. »Jetzt hab' ich dich!« rief der Prinz erfreut und stürzte auf das schöne Tier zu. In demselben Augenblick aber verwandelte sich der weisse Dammhirsch in eine Seejungfrau; die umfing den Prinzen mit ihren Armen und stürzte sich mit ihm von der Brücke in das Wasser hinab. Der Prinz sträubte sich mit Händen und Füssen und schrie nach Hilfe; aber die Seejungfrau liess ihn nicht locker und sagte lachend: »Siehst du, heute sind die drei Jahre um!« und schwamm mit ihm in das Meer hinaus.

Sein Geschrei lockte die Dienerschaft herbei; und als sie die Gefahr sahen, in der ihr Herr sich befand, liefen sie auf das Schloss zurück und holten die jüngste Königstochter, die Frau des Prinzen, herbei. Die stand nun am Strande und rang die Hände und weinte und wehklagte und rief: »Liebste Seejungfrau mein, gieb mir meinen Mann zurück!« – »Das ist nicht dein Mann,« antwortete die Seejungfrau, »das ist mein Mann; mir gehört er schon von Mutterleibe an!« – »Ach, liebste Seejungfrau mein,« bat die Prinzessin von neuem, »ich habe in meines Vaters Schloss ein Spinnrad, das ist von lauterem Golde gearbeitet, das will ich dir schenken, giebst du mir meinen Mann heraus!« – »Und wenn du mir zehn goldene Spinnräder giebst, deinen Mann bekommst du nicht wieder!« Aber die Königstochter liess nicht nach mit Bitten und Flehen, und endlich gingen der Seejungfrau die Klagen zu Herzen, und sie sprach zu dem Prinzen: »Ich will dich deiner Frau wiedergeben, wenn du für mich nach Schwarzland gehst und dort die Prinzessin erlösest.« – »Das kann ich nicht,« sagte der Prinz, »tauch nur gleich mit mir auf den[347] Grund hinab und ertränk mich in den Wellen.« – »Das kannst du wohl,« sagte die Seejungfrau, »nun höre, was ich dir sage! In Schwarzland ist ein Drache, der will die Königstochter fressen. Der Drache hat neun Köpfe und ist von gewaltiger Stärke, den musst du erschlagen. Und wenn du ihn erschlagen und ihm den neunten Kopf abgerissen hast, so wird daraus ein Hase hervorspringen und das Weite suchen. Den musst du erjagen; und wenn du ihn erjagt hast, so wird aus ihm eine Taube emporfliegen und sich in die Lüfte schwingen. Die musst du erschiessen; und wenn du sie erschossen hast, so wird sie ein Ei fallen lassen. Das musst du erbrechen; und in dem Ei ist ein Bund Schlüssel verborgen, das bringst du mir. Und hast du mir das Bund Schlüssel gebracht, so sollst du frei sein für alle Zeit. Hüt dich aber, nicht nach Schwarzland zu fahren; denn unterlässt du die Fahrt, so hole ich dich nach drei Jahren, und du bist auf ewig verloren!« Darauf schwamm die Seejungfrau mit dem Prinzen an den Strand und übergab ihn wieder der jüngsten Königstochter.

Was das für ein Herzen und Küssen war, als die Prinzessin ihren Mann wieder hatte, das lässt sich denken, und ebenso, wie sie weinte und jammerte, als er ihr sagte, er müsse sich unverzüglich auf den Weg nach Schwarzland machen, um dort die Prinzessin zu erlösen. Sie redete ihm ab, er möge doch bei ihr bleiben und seines Kindes gedenken, aber das half ihr nichts; er küsste sie auf den roten Mund und machte sich dann auf die weite Reise. Nachdem er ein Stückchen gewandert war, zog er die Haare des Windhundes aus der Tasche und nahm sie in den Mund. Sofort ward er zum Windhund und lief, wie der Wind, viele Meilen weit. Endlich ward er müde und matt; da spie er die Haare des Hundes aus und nahm die Haare des Löwen in den Mund, und so wechselte er mit den Haaren ab, bis er an das grosse Meer kam, welches unser Land von Schwarzland scheidet. Dort machte er sich zum Vogel und flog über das Wasser hinüber, und als er sich niederliess, befand er sich vor den Mauern einer grossen Stadt.

Es war gerade der dritte Tag vergangen, als er in das Haus eines Gastwirts trat und sich zu Tische setzte, um zu essen und trinken. »Was ist denn heute hier los?« fragte er den Wirt; denn die Häuser waren mit schwarzem Flor belegt, und überall hingen schwarze Trauerfahnen, und die Leute sprachen nur ganz leise auf den Strassen. »Wisst Ihr denn nicht, dass morgen des Königs einzige Tochter von dem Drachen gefressen wird?« gab der Wirt verwundert zurück. »Hier haust ein abscheulicher Drache, der bekommt alle drei Jahre eine Prinzessin zum Frasse; und morgen ist des Königs jüngste und letzte Tochter an der Reihe.« – »Dann ist das hier wohl Schwarzland,« sagte der Prinz, »geht nur und meldet mich bei dem Könige an, ein fremder Prinz wäre gekommen, der wolle die Königstochter erlösen.« Der Wirt machte, dass er auf das Schloss kam, und als er die Botschaft ausgerichtet hatte, da herrschte Freude[348] überall; der Prinz musste sogleich vor den König treten, und die Prinzessin fiel ihm um den Hals und herzte und küsste ihn. Nachdem sie sich wieder ein wenig beruhigt hatten, sprach der Prinz zu dem König: »Ich bin gekommen, Eure Tochter zu erlösen; ich bedarf aber der Hilfe. Lasst ein Gebot ausgehen an Euer Heer, dass einer hervortrete, der mir beistehen will in der Gefahr.« – Da liess der König alle seine Soldaten zusammentreten in einen Kreis und fragte sodann, wer dem fremden Prinzen beistehen wolle in der Gefahr. Alle Generale und Obersten und Hauptleute verhielten sich aber ganz ruhig, und auch von den andern meldete sich niemand. Da fragte der König zum zweiten und zum dritten Male, und da sich niemand zu der Sache erbot, trat endlich der jüngste Rekrut aus dem Gliede heraus und sagte: »Ich will gerne mein Leben für die Prinzessin in die Schanze schlagen und dem fremden Prinzen beistehen.« Da nahm der alte König den Rekruten mit sich und führte ihn vor den Prinzen.

»Ist's auch dein Ernst?« fragte der Prinz und sah ihm in's Gesicht. »Gewiss,« erwiderte der Rekrut, »ich bin bereit, mit Euch in den Tod zu gehen.« – »Nun, so weit soll's nicht kommen,« sagte der Prinz, »hör nur genau auf das, was ich dir sage. Wenn der Drache kommt, so werde ich mich in einen Löwen verwandeln und dem Untier drei Häupter abreissen. Dann bin ich jedoch müde und matt, und du musst mir drei Flaschen Wein in den Rachen giessen und drei Napfkuchen hinein stecken. Darauf verwandele ich mich in eine Maus und verkrieche mich in ein Loch, das du mir vorher gekratzt hast. Sobald ich mich wieder erholt habe, verwandele ich mich von neuem in einen Löwen und reisse dem Drachen weitere drei Köpfe ab, und du giesst mir wieder drei Flaschen Wein in den Rachen und steckst drei Napfkuchen hinein und thust überhaupt ganz so, wie bei dem ersten Male. Aber wenn ich zum dritten Male ein Löwe geworden bin und dem Drachen auch den neunten Kopf abgerissen habe, dann merk auf! Denn alsbald wird aus dem neunten Haupte ein Hase entspringen und in schnellem Laufe das Weite suchen. Den erschiesst du. Und wenn du das gethan hast, so hast du deine Schuldigkeit gethan; für das Weitere werde ich Sorge tragen.« Der Rekrut versprach dem Prinzen, genau auf alles Acht zu geben, dann assen und tranken sie zusammen und legten sich schlafen.

Am andern Morgen wurde die grosse Staatskutsche angespannt, und der König, seine Tochter, der Prinz und der Rekrut stiegen hinein und fuhren dem Drachen entgegen. Auf dem freien Felde machten sie halt, und der König und seine Tochter blieben zurück, während der Prinz und sein Begleiter dem Drachen entgegen gingen. Es dauerte auch gar nicht lange, so kam das Ungetüm auf sie los und brüllte vor Wut, dass die Prinzessin noch nicht am Platze sei. Schnell nahm der Prinz die Löwenhaare in den Mund, und sofort stürzte er sich als Löwe auf den Drachen los und riss ihm nach langem Kampfe drei Häupter vom Rumpfe herab. Dann sprang der Rekrut herbei und goss ihm drei Flaschen Wein in das Maul und steckte ihm drei[349] Napfkuchen hinein. Darauf riss er ihm die Haare aus dem Rachen heraus und wies ihm das Mäuseloch, das er unter einem Eichbaum gegraben hatte. Schnell steckte der Prinz die Mäusehaare in den Mund, und, hast du nicht gesehen, war er auch schon als Maus in das Loch gekrochen.

Nachdem er sich dort ein wenig ausgeruht hatte, kroch er wieder hervor, verwandelte sich in einen Löwen, und der Kampf begann von neuem. Er riss dem Drachen diesmal wieder drei Köpfe ab, und nachdem ihn der Rekrut, wie das erste Mal, mit Wein gestärkt und ihm die Haare aus dem Rachen genommen und er sich als Maus in das Loch unter dem Eichbaum verkrochen und dort ausgeruht hatte, ging er zum dritten Male als Löwe auf das Ungetüm los. Das sprühte Feuer und Flammen aus seinem Maule heraus, aber all seine Wut half ihm nichts, der Löwe riss ihm den siebenten und den achten Kopf vom Rumpfe herab und endlich auch den neunten. Kaum war derselbe jedoch auf den Erdboden gefallen, so sprang ein Hase daraus hervor, und der Rekrut hatte seine liebe Not, dass er die Flinte ergriff und ihn niederstreckte. Inzwischen hatte sich der Prinz aus dem Löwen wieder in einen Menschen verwandelt; und als aus dem Hasen eine Taube flog und sich in die Lüfte schwang, hatte er auch schon die Büchse in der Hand und schoss sie nieder. Wie sie auf dem Sande lag, verlor sie ein Ei; das ergriff der Prinz und schlug es entzwei, und das Schlüsselbund, das er darin fand, steckte er zu sich, dass er es nicht verlieren konnte.

Nachdem das alles geschehen war, kehrten sie zu der Kutsche zurück, und der König und seine Tochter wollten gar nicht glauben, dass der Drache schon tot sei. Als sie aber hinfuhren und die neun Köpfe besahen, da war freilich kein Zweifel mehr, und mit Freude und Frohlocken fuhren sie wieder in die Stadt zurück. Dort wollte der alte König den Prinzen sogleich Hochzeit feiern lassen mit der Prinzessin. Der bedankte sich aber schön und sagte: »Ich bin schon versehen, ich habe sogar schon mit meiner Prinzessin einen kleinen Sohn. Wenn es aber einer verdient hat, so ist's der tapfere Soldat, denn ohne ihn würde ich nimmermehr den Drachen bezwungen haben!« Das sah der alte König ein; und da seine Tochter nun einmal den Prinzen nicht bekommen konnte, so wurde sie mit dem Rekruten verlobt, und bald darauf ward eine fröhliche Hochzeit gefeiert.

Der Prinz sollte auch dabei sein; er konnte aber nicht, denn die Sehnsucht nach Frau und Kind trieb ihn nach Hause. Er nahm die drei Federn in den Mund und flog als Vogel über das grosse Meer. Dann lief er, wie bei der Hinreise, abwechselnd als Hund und als Löwe, bis er am neunten Tage, nachdem ihn die Seejungfrau freigelassen, wieder in seinem Königreich anlangte. Da war die Freude gross; aber er liess sich keine Ruhe, bestieg mit seiner Frau einen Wagen und fuhr hinaus an den Meeresstrand. Kaum war er da, so stiegen alsbald wieder dicke Blasen aus dem Grunde auf, und noch ein Weilchen, so tauchte die Seejungfrau aus den Wellen empor.[350] »Bist du in Schwarzland gewesen? und hast du die Prinzessin erlöst?« fragte sie hastig. »Ja,« sagte er. »Nun, dann gieb das Schlüsselbund her,« rief die Seejungfrau ungeduldig. »Ich werde mich hüten,« antwortete der Prinz, »zuvor verlange ich die Verschreibung, die dir mein Vater gegeben.« Nachdem sie die Verschreibung geholt hatte, fasste die Seejungfrau die Schlüssel und der Prinz die Verschreibung, da einer dem andern nicht traute. Kaum hatte er aber die Schlüssel fahren gelassen, so gab es einen gewaltigen Knall, und der grosse See verwandelte sich in ein mächtiges Königreich, in Städte und Dörfer, Höfe und Mühlen, Land und Sand, und die Seejungfrau war die Prinzessin darin. »Nun solltest du eigentlich mein Mann werden,« sagte sie, »denn du hast mich erlöst!« – »Ja, ich kann doch aber nur eine heiraten,« antwortete der Prinz, »und die hab' ich schon; die Prinzessin von Schwarzland hat auch schon einen andern nehmen müssen.« – »Das ist richtig,« versetzte die erlöste Seejungfrau stolz, »und wer eine so reiche Königin ist, wie ich es bin, wird auch wohl so einen Mann bekommen.« Dann drehte sie dem Prinzen und seiner Frau den Rücken zu; die aber kehrten zurück in ihr Königreich und lebten dort vergnügt und fröhlich bis an ihr seliges Ende, und wenn sie nicht gestorben wären, so lebten sie heute noch.[351]

Quelle:
Ulrich Jahn: Volksmärchen aus Pommern und Rügen l, Norden/Leipzig 1891, S. 339-353.
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