13

[145] An einem sonnigen Winternachmittag trat Johanne bei Alice ein. Sie fand die junge Frau seltsam verändert. Eine nervöse Unruhe sprach aus ihrem länger und schmäler gewordenen Gesichtchen.

»Ein Wunder, daß du dich meiner noch erinnerst. Bitte nimm Platz. Was thust du immer? Man sagt, du schriftstellerst. Hast du wirklich allein das ›Gebet‹ geschrieben, oder nicht dein – Freund?«

Die kleine Zofe, kokett gekleidet wie ihre Herrin, kam herein und brachte den Theetisch in Ordnung. Als sie wieder hinausgegangen war, trat Johanne zu Alice und nahm ihren Kopf zwischen die Hände.

»Was hast du denn? Du bist ganz verändert. Wo ist Mathilde?«

»Im Spital. Sie fährt wohl nun bald ab. Er besucht sie alle Augenblicke«.

»Aber Alice, jetzt, da sie geht, sei doch nicht so böse auf sie, vergieb ihr«.[145]

»Hahaha, vergeben! Na! Es giebt Dinge im Leben, die man nie vergiebt, wenigstens eine Frau nicht. Reden wir von anderm«.

»Alice!«

Die junge Frau holte trällernd eine Schmuckkassette herbei.

»Sieh mal, wie nett. Dieses Collier hat er mir neulich geschenkt«.

»Wer?«

»Na, wer wird mir denn ein Collier schenken? Herr Schüler natürlich. Mit dem – Andern ist ja nichts anzufangen«. Sie unterdrückte einen Seufzer.

»Meinst Du Lohringer?« fragte Johanne schüchtern. Sie wußte nicht warum, aber bei der Bemerkung der Freundin jauchzte innerlich etwas in ihr auf.

»Ja, ich meine ihn«.

»Aber er kommt doch oft zu dir, nicht?«

»Gewiß. Was habe ich aber schließlich von seinem Kommen, wenn er mich ewig als Spielsache, als unmündiges Kind behandelt? Meinst du, er führte jemals ein ernsthaftes Gespräch mit mir?«

»Das thut er nicht, ich weiß wohl, aber innerlich ist er doch ein ganz ernsthafter Mensch«.

»Ach was, innerlich. Das geht mich nichts an. Wenn er nur äußerlich thäte, was ich will«.

»Was willst du denn?«[146]

»Mein Gott: was willst du? Frag doch nicht so albern«.

Johanne errötete. »Aber du bist doch eine verheiratete Frau«.

»Kommst du mir mit dem?« rief Alice heftig. »Wer hat mir denn beigebracht, daß das Band der Ehe nur zum Zerreißen da ist. Wer hat mich denn, mich, die Unerfahrene, eingeweiht in den ganzen Schmutz, die Niederträchtigkeit ›vorurteilsloser‹ Anschauungen? Wer denn? Wenn ich ihm eine gelehrige Schülerin bin, ist das kein Unrecht, nichts Wundernswertes«.

»Ich weiß nicht, eine Frau ist doch aber kein Mann« meinte Johanne. »Ein Mann kann sich besudeln, die Flecken lassen sich ausmerzen; an einer Frau bleiben sie haften«.

»Ach Gott, thu nicht so fromm, du hast doch auch Einen. Und überdies Flecken, was sind Flecken? Wenn ich das so nehmen wollte. Die ersten, die nie wieder sich ausmerzen lassen, hat mir mein eigener Mann beigebracht. Was ich jetzt thue, ist nicht mehr, als daß ich einen schönen Schleier voll gestickter Blumen über sie lege. Laß mich gehen ...«

Johanne zitterte vom Kopf bis zu den Füßen vor Scham, Aerger und Mitgefühl. Aber das Wort: »Du hast doch auch Einen« brannte auf ihr. Alice machte sich bei ihrem Theekessel zu thun; dann trat sie vor den Spiegel[147] und ordnete die kleinen, reizenden Löckchen. Johanne saß ein Weilchen still im Sessel, dann erhob sie sich.

»Adieu, Alice«.

»Wartest du den Thee nicht ab?« fragte jene, ohne sich umzuwenden.

»Nein«.

»Na, dann geh und verachte mich«. Sie kehrte sich schnell mit tragischer Geberde um und lachte höhnisch.

»Ich dich verachten! Keine Rede«.

Johanne blickte sie mit ihren blauen treuherzigen Kinderaugen an.

»Leid thust du mir«.

»Wirklich?« Die junge Frau näherte sich ihr einen Schritt.

»Gewiß, Alice. Du verkennst mich. Ich bin nicht mehr so, wie ich war«. Ihre Stimme schwankte ein wenig. »Aber das mit dem ›Einen‹ ist unrichtig. Tage ist nur mein Freund, nicht mehr. Ich –«

»Du Liebe!« Alice warf sich ihr an die Brust.

»Ich denke nicht mehr so streng, das heißt über – die Anderen. Es muß wohl so sein müssen, daß keiner ganz und rein bleiben kann, weil Alle nur halb und – nicht lauter sind. Weißt du, ich komme eben vom Lande; bei uns sind sie anders. Wenn sie fallen, geschieht es so plump und ehrlich, das jeder mit dem Finger auf sie zeigen, sie verachten, meiden kann, je nachdem er will.[148] Hier vollzieht sich alles unter dem Schleier des Scheins. Der blendet einem die Augen, man weiß schließlich nicht mehr, was echt, was unecht, was häßlich, was schön ist. Leb wohl, Alice«.

»Komm doch bald wieder, hörst du?«

»Ich wills«.

Auf dem Nachhausewege dachte Johanne über sich und die Freundin nach. Hatte Alice im Grunde genommen so unrecht? Ihr Mann hatte sie betrogen; sie suchte bei einem Andern Trost für das ihr zugefügte Leid. Dieser Andere war ebenfalls kein Schurke; er nahm vom Leben, was es ihm bot.

Er wie Tage, beide verlachten ihre strengen bäuerlichen Grundsätze. Und die Andern, Mink, Wewerka, Babinsky, alle, deren Gestalten in deutlichen Umrissen in ihrem Gedächtnis hafteten, diese ganze Gesellschaft war einer Ansicht. Sie stand allein mit ihrem Protest gegen die herrschende Sitte. War es eigentlich nicht lächerlich? Wenn sie eine große Schriftstellerin werden wolle, müsse sie den Mut haben, dem Leben, wie es war, ruhig ins Auge zu sehen, sagte ihr Tage beständig vor. Sie wollte es auch thun. Es gehörte eben dazu. Schließlich, wenn man sie, das kleine Landmädchen, auf die eine, und die ganze Gesellschaft auf die andere Seite stellte, mußte doch die Mehrzahl recht behalten gegen sie. Lag nicht vielleicht viel Selbstüberhebung in ihr?[149]

Sie ging nach Hause und begann eine kleine Geschichte zu schreiben. Sie schickte sie Tage. Er erwartete sie draußen auf den Baugründen und sagte ihr, diese Geschichte sei nicht so gut wie die erste, aber er wolle sich doch bemühen, sie unterzubringen. Er hätte zwar rasend viel zu thun, aber ihr zu liebe ... Draußen war es einsam, fast niemand ging hier. Er bot ihr den Arm. Sie hing sich an ihn. Sie plauderten von Litteratur. Manchmal sprach sie so kluge, schöne Worte aus, daß er innerlich staunte. Sie hatte unleugbar viel Begabung. Nur ihre dumme Unerfahrenheit und die bornierten Ansichten hinderten sie. Es sprach so viel Schulmädchenhaftes aus ihr. Ihre orthographischen Fehler waren etwas Natürliches und ließen sich verbessern. Aber das andere zu ändern war ein schweres Stück Arbeit. Nun, mit etwas Geduld würde es schon gelingen.

»Ich habe eine Bitte an Sie, Johanne« sagte er, ihren Arm inniger an sich drückend, »wollen Sie ja dazu sagen?«

Sie nickte.

»Sagen Sie mir: Du. Ja? Es ist so lieb, brüderlich. Wenn ich einem Menschen Sie sage, kann ich nie warm neben ihm werden, auch nie ganz herzlich zu ihm sprechen. Also, ja?«

»Aber es schickt sich doch gar nicht. Sie sind ein berühmter Mann und ich – mein Gott!«[150]

»Du bist ein Närrchen; du wirst mich bald weit überflügelt haben«.

»Nein ...« Sie lachte kindisch.

»Nun, Johanne?«

War es nicht unhöflich gegen ihn, der so gut mit ihr war, wenn sie seine Bitte abschlug?

»Meinetwegen« sagte sie leise.

Sie schüttelten einander die Hände. Hinter ihnen lag die große Stadt mit ihrem Trubel, ihrer Gemeinheit, ihrem Strebertum, ihrem Elend. Vor ihnen weiße, unbetretene Schneeflächen, von denen dann und wann ein einzelner Rabe aufflog.

»Warum plötzlich so einsilbig?« fragte er nach einer Pause.

»Das thut so wohl« sie deutete auf die freien Felder. »Das erinnert mich an Sienenthal, an die liebe Stille dort, an die alten verkrüppelten Weiden«.

»Liebst du Sienenthal sehr?«

»Ich würde es noch mehr lieben, wenn ich Jemand dort besäße. Aber ich habe niemand da, der mir nahesteht. Trotzdem ist mir der Ort das liebste auf Erden«.

»Aber hier hast du jemand, der dir nahesteht, Johanne«. Er zog ihre Hand an seine Lippen. »Glaubst du, daß ich dich von Herzen liebhabe, Johanne?«

»Ja, Sie sind sehr gut gegen mich«.[151]

»Ich bin weder der Herr Sie, noch ein guter Kerl. Lieb haben sollst du mich. Das ist unabhängig vom Gutsein«.

Sie erschauerte leicht unter seinen Worten und hing sich fester an ihn.

Als sie zurückkehrten, war es Dämmerung. Vor ihrem Hause nahm er Abschied. Sein Gesicht neigte sich nah zu dem ihren. Sie erschrak. Er lachte und sagte ihr: gute Nacht.[152]

Quelle:
Maria Janitschek: Ninive. Leipzig 1896, S. 145-153.
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