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[207] Allmählich wuchs Johanne in ihre neue Stellung hinein.

Sie lernte manches Nützliche und hörte von Vielem, das sie verblüffte, das sie aber nicht enträtseln konnte. Sie hörte von Spiritismus, Magnetismus, Okkultismus, Magie sprechen, ohne auch nur den geringsten Begriff von all diesen Dingen zu haben. Mit der Zeit nahm sie sich ein Herz und fragte Johannes nach diesem und jenem. Er erklärte ihr vieles. Er sagte ihr, daß all diese Dinge Mittel wären, den Menschen die Blindheit zu nehmen und sie sehend zu machen. Er sagte ihr, daß die Zeit vorüber sei, wo ein alter weißbärtiger Gott im Himmel saß und Regen und Sonnenschein machte, daß man sich unter Gott mehr als Menschenform denken müsse, Geist, Willensäußerung, Kraft, die nicht über den Sternen, sondern in den Sternen regiere. Daß man Gott umso[207] näher trete, je mehr man sich diese Kraft zu eigen mache und den eigenen Willen sowie den der Anderen beherrsche. Zu diesem Zweck seien all diese übersinnlichen Manipulationen, die ihr so unbegreiflich erschienen, nötig. Später würde sie übrigens selbst alles verstehen, selbst mitwirken in diesen Vorgängen, die sie auf eine höhere Stufe der Vollendung brächten. Schließlich sagte er ihr noch, daß die Welt ein kaltes, graues Loch sei, und nur unser Geist, unsere Vorstellung Leben und Gestalten in sie hineinzaubere – unser Geist, der allmächtige Gott. Sie, mit ihrer Phantasie und Liebe zu allem Ungewöhnlichen, war bald ganz für seine Anschauung gewonnen. Sie war ihm grenzenlos dankbar, daß er sich ihr, dem armen, unbedeutenden Mädchen so offenbarte und sie in seine schöne Welt hinaufzog. Sie durchschaute nicht die große Klugheit dieser Art Menschen, die wissen, daß die kleinen Kinder am meisten Geschrei machen, und sich deshalb zuerst an diese mit ihren Lehren wenden. Hier, im Viertel der »Geringen«, die mit der Welt und ihren Gesetzen unzufrieden waren, wo die Jugend mit unterdrückten Wünschen und unmöglichen Zukunftsplänen umherging, fielen alle, selbst die tollsten Verkündigungen auf fruchtbaren Boden.

Der Meister scheute es nicht, sich manchmal zu bücken, um eine oder die andere unbedeutende Menschenpflanze aufzuheben und sie in seinen Garten zu setzen,[208] wo sie unter seiner Pflege zum mächtigen Baum emporwuchs. Und Johanne dachte an Angelus, dies blonde, rührende Kind, der mit seinen nackten Füßen und seinen ehrlichen Augen mehr Reklame für Johannes machte, als es der gefeiertste Name hätte thun können.

Paulus wirkte nicht wie der sanfte Bruder. Bei ihm wars der wilde, unbändige, herrische Mut, der bezwang, jedem Widersacher seiner Ideen zu Leibe rückte und ihn sich eroberte.

Man konnte diesen Menschen, der in so rauher Unmittelbarkeit sich gab, nicht für unehrlich halten. Der Meister war klug gewesen in der Wahl der Beiden. Es erschienen übrigens die mannigfaltigsten Leute bei ihm: Junge Mädchen, die kaum der Schule entwachsen waren und den Drang zu Märtyrerinnen in sich zu spüren meinten, junge Leute, die vom Genuß blasiert waren und nach neuen Erregungen dürsteten, alte Frauen und Männer, denen vor dem Tode graute und die eine Lebensversicherungspolice für ihren Astralleib vom Meister begehrten. Er hatte für alle eine gütige Verheißung, ein aufmunterndes Wort, einen Blick, einen Händedruck, der sie beruhigte, froh machte.

Einigen ganz herabgekommenen Leuten half er aus dem Geldschatz, der manchmal reicher, manchmal spärlicher für ihn einlief. Diese Menschen, die er von physischem Untergang errettete, waren des Lobes für[209] ihn voll und riefen ihn als den edelmütigsten Helfer und Menschenfreund aus.

Und Johannes ließ sie schreien und seine Verherrlichung in die Welt tragen.

Er sah keinen Gott in Christus, aber das Ideal des besten Menschen, dem er ähnlich werden wollte. Des halb machte er auch keinen Unterschied im Verkehr mit den Leuten und scheute sich nicht, tauben Gräfinnen Privatvorträge über Okkultismus und ähnliches zu halten, junge Mädchen in magnetischen Schlaf zu versetzen, um sie wenigstens vorübergehend hellsehend zu machen, Eines oder des Andern Gebreste zu heilen, geliebte Verstorbene herbeizucitieren. (Das war eigentlich Paulus' Stärke). Johanne sah mit wachsender Ehrfurcht, wie dieser Mann alles konnte und alles voll immergleicher Würde und Sanftmut that. Und wenn sie überlegte, was schließlich sein Gewinn war? Er lebte wie ein Eremit, aß Früchte und Gemüse, trank Wasser und ging in einem elenden Wollkleid mit nackten Füßen herum. Er schlief ohne Matratze. Er hatte kein anderes Bestreben, als seinen Mitmenschen nützlich zu sein. Johanne betete ihn an. In jedem Augenblick hätte er ihr Leben fordern können, sie würde es ihm einwandlos hingegeben haben. Er hatte ihre Seele, die krank geworden war im Schmutz der Welt, wieder aufgerichtet, ihr den Glauben an die Menschen und ihren eigenen Wert zurückgegeben.[210]

Ohne Schmerz hatte sie dem alten Christengott im weißen Bart gekündigt und war in das mystische Reich der indischen Philosophie hinübergezogen. Es war kalt dort; es gab keine Musik, keine Engel, keine Festmähler, woran weißgekleidete Märtyrer teilnahmen; aber man brauchte auch keinem »Herrn« Reverenzen zu machen, denn im Reiche des »Nichts« war jeder Mensch sein eigener Gott und trug seine eigene Krone. Freilich, bis man so weit war und sich durch hunderttausend Verkörperungen durchgearbeitet hatte! Aber immerhin, das Ziel war des Ringens wert.

Mit ganzer Inbrunst gab sich Johanne der Lehre ihres Meisters hin. Hier brauchte sie keinen Argwohn zu haben, keine Enttäuschung zu befürchten. Der Mann trog nicht. Man brauchte nur einen Blick in das ehrliche, junge Gesicht des kleinen Angelus zu thun.[211]

Quelle:
Maria Janitschek: Ninive. Leipzig 1896, S. 207-212.
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