Erster Akt

[161] Vor der Schachtöffnung. Ein rauchender Krater. Trümmer von Gebälk und Gemäuer. Um den Eingang ein Stacheldrahtzaun. Der Hintergrund eine schwarze Rauchwand. Schwaden fetten, rußigen Bauches schwer über allem. Eiserne Wintersonne sticht gelb durch.

Hinter einem grauen Schleier zu spielen.

Männer, Weiber, Kinder vor dem Drahtzaun. Rücken zum Zuseher. Erstarrte Masse, manchmal zu plötzlicher Bewegung auseinandergerissen. Kauernde, Kniende, Stehende.

Hinter der Absperrung der Ingenieur, ein Regierungsvertreter, Reporter, Aufseher und Reviergendarmen mit aufgepflanzten Bajonetten.

Schweigen. Knattern und Sausen des Ventilationsfächers.


EIN WEIB in die Knie brechend, Fäuste schlagen den Boden. Erde!


Stets gedämpfter Ton, wo nicht Anmerkung oder Rufzeichen anderes bedeutet.


MANN. Brand. Sprünge. Hitze zerreißt den Boden.

INGENIEUR. Nichts brennt!

STIMMEN vereinzelt und zusammen. Brennt!

Ihr wißt es!

Hattet Angst vor dem Fächer.

Angst vor dem Wind. Angst vor dem Atem.[161]

Brand ersticken mit Menschenseelen!

Kohle sparen! Kohle retten!

Alle erstickt!

INGENIEUR brüllt. Der Fächer arbeitet!

STIMMEN. Seit zwei Stunden. Hundertzwanzig Stunden sind sie unten.

INGENIEUR. Habt ihr den Fächer gesehen oder nicht? Dreißig Schritte weit hat ihn der Druck geworfen. Keine Schraube ganz. Stahlbrei.

EINER ganz ruhig. Man hat sich nicht beeilt mit Ersatz. Der Fächer schafft Atem. Aber der Wind, der ihre Brust speist, kann Kohle fressen. Man wartet.

STIMMEN. Man hat die Ankunft verzögert.

Die Montierung behindert.

Daß der Brand nicht mehr Kohle frißt, kommt Luftzug dazu.

Und unsre ersticken!

EINE IRRSINNIGE WEIBERSTIMME. Wieviel Kopf Bergmann darf der Meter Kohle kosten?!

AUFSCHREI. Wieviel Fleisch?! Wieviel Blut?![162]

INGENIEUR überschreit sie. Verrückt alle!! Wir haben geschuftet wie Verdämmte. Ihr wißt es. Keine Minute ist verloren. Unmöglich, ihn früher in Betrieb zu setzen. Wer hat mich schlafen gesehen, seit – –

MÄNNERSTIMME. Nein. Du hast aufgepaßt. Nichts überstürzen. Langsam.

EINE ANDERE. Was zahlt die A.G. pro Stunde Verspätung?

INGENIEUR will aus der Verdrahtung stürzen, man hält ihn. Wer sagt das?!

AUFSCHREI ALLER. Wir!!

VEREINZELTE. Vorgestern war der Fächer da.

Was ist bis heute geschehen?

Wo sind unsre?!

Ersticken. Verhungern. Saufen ihren Harn!

Absichtlich habt ihr gewartet Daß keiner kommt, sagen, was unten war.

Wo sind die Notausgänge?

Wie ist's mit der Bestreuung?

Kinder waren im Schacht.

Mörder!!

INGENIEUR wendet sich ab. Wahnsinnige. Zum Regierungsvertreter. Sie hören die Anklagen.[163]

REGIERUNGSVERTRETER. Hysterie.

INGENIEUR. Sie werden untersuchen.

REGIERUNGSVERTRETER. Wir kennen das.

INGENIEUR. Ich verlange Untersuchung.

REGIERUNGSVERTRETER. Sie haben alles getan. Wir sind Zeugen.

INGENIEUR. Die Leute behaupten, ich habe absichtlich die Aufstellung des neuen Fächers verzögert. Ist unten Brand ausgebrochen, kann ihn der Luftzug verbreiten. Aus diesem Motiv soll ich die Schachtventilierung verhindern, die Eingeschlossenen ersticken lassen.

REGIERUNGSVERTRETER. Wahnsinn. Agitationsstoff. Wieviel sind unten?

INGENIEUR auf die Reportergruppe deutend. Offiziell zweiundfünfzig.

REGIERUNGSVERTRETER. Evident?

INGENIEUR. Mehr.

SCHACHTAUFSEHER. Nach dem Zensus zweihundertelf.


Schweigen.
[164]

REGIERUNGSVERTRETER. Ist Militär zu requirieren?

INGENIEUR. Ich glaube, noch nicht.

SCHACHTAUFSEHER bedenklich. Wenn der erste Korb nicht in zehn Minuten abgehen kann, bürge ich nicht. Sie sehen.

INGENIEUR. Er wird. Wendet sich zum Schachteingang.

EIN. Mann Der Rauch wird lichter.

ANDERER. Ja, dünner. Luft.

WEIB langgezogen. Aber – worauf – warten –?!

AUSBRUCH. Hinunter!

EIN MANN stark. Nicht mehr warten! Unsre Brüder!

STIMMEN zusammen. Die Lebendigen!

Die Toten!

Unsre Toten!

ALLE. Hinunter![165]

INGENIEUR in den Schacht geneigt. Geht noch nicht.

EIN MANN brüllt. Freiwillige!


Die Männer brechen in einem Ruck an dem Stacheldraht vor.


MÄNNER. Alle!!

INGENIEUR. Unmöglich. Verantwortung auf mir. Noch zehn Minuten.

AUFHEULEN DER MENGE. Totschlagen!! Sofort! Hinunter!


Steine fliegen.


AUFSEHER. Es wird besser sein.

INGENIEUR. Gut. Vor. Zehn Mann.

MÄNNER. Mich! Ich! Bruder unten! Der Sohn mir! Menschen unten! Wir alle!

INGENIEUR. Zehn Mann! Ordnung. Einlassen.


Eine Offnung im Zaun wird freigegeben. Zwischen Gewehren treten zehn Mann ein.


INGENIEUR. Schön. Helme.


Atemloses Schweigen. Die Leute setzen die Helme auf.


Lichter. Der Korb bereit?[166]

STIMMEN von hinten. Alles in Ordnung.

INGENIEUR nimmt einen Helm. Ich bin dabei.

OBERAUFSEHER. Gefahr, Herr Ingenieur.

REGIERUNGSVERTRETER. Ihr Ernst?

INGENIEUR. Ich muß. Sehen Sie die Leute an. Er setzt den Helm auf.


Vereinzeltes »Hurra« und »Bravo« in der Menge, dann Atemlosigkeit.


REPORTER schreibt. Mit vorbildlichem Heroismus – –


Die Mannschaft hat den Förderkorb bestiegen. Der Ingenieur gibt ein Zeichen. Der Korb wird von einer Winde herabgelassen. Außerste Stille.


WEIB auf den Knien. O Jesus – dir leb' ich – sterb' ich – – dein – tot – lebendig – –.

MANN gedämpft. Es war auch vor sechs Jahren so. Sie kommen zu spät.

JUNGES WEIB. Nicht zu spät! Was tu ich denn? In meinem Blut das Kind – –.[167]

EIN ANDERES ruhig. Wozu gebären?

AUFSEHER an der Öffnung. Der Korb ist unten.


Ein einziges Erschauern weht durch die Menge.


DAS KNIENDE WEIB. Einmal, Gott, einmal –! Immer unerhört – macht nichts, Gott, macht nichts! Hast gespart, gesammelt – bis heute. Gib! Segen, einmal Segen!

EIN ALTER leise. Es kann doch keiner mehr leben.

ANDERER. Warum nicht? Vor sechs Jahren waren es noch neun – am elften Tag.

WEIBER. Sie müssen leben! Wir haben gebetet, gewacht, geschrien. Gott ist gut!

EIN MÄDCHEN hysterisch. Engel sind in den Berg gestiegen! Ich habe in der Nacht Engel hinuntersteigen gesehn. Blaugeflammte!

WEIBER durcheinander. Hört ihr? Engel! Engel!! Mit Wein. Mit Brot. Wind von ihren Schwingen. Sie leben! Ungeheure Bewegung. Umarmungen.[168]

REGIERUNGSVERTRETER besorgt. Die Leute sind am Irrsinn. Wir müssen Militär haben. Jetzt eine Enttäuschung und sie zerreißen uns.

REPORTER. Sie meinen wirklich? Ich muß auf's Telegraphenamt.

OBERAUFSEHER. Bei den ersten zwei Leichen tumultuieren sie. Dann werden sie von selbst ruhig. Stumpfen ab. Das ist immer so.

DIE MENGE äußerste Ungeduld. Was ist denn?! Was ist?! Signal?!


Glockenzeichen von unten.


AUFSEHER am Schacht. Herauf den Korb. Die Winde arbeitet.


Bewegung. Erstarren.


DIE MENGE. Herauf!! Zerreißender Aufschrei. Gott!! Vollkommene, furchtbarste Lautlosigkeit.


Der Korb erscheint. Der Ingenieur taumelt heraus, reißt den Helm herab.


INGENIEUR ringt nach Worten. Brandender Schrei um ihn. Tote –!

STIMMEN. Was? Er hat gesprochen?! Was sagt er?![169]

EINE GANZ HOHE, SCHRILLE STIMME. Er sagt, daß alle tot sind!


Einen Augenblick vollkommenes Schweigen. Dann wirft sich die ganze Menge gegen den Stacheldraht.


DIE MENGE. Nieder!!!

REGIERUNGSVERTRETER zum Ingenieur. Fassung! Wir sind verloren! Reden Sie!

INGENIEUR zwingt sich eisern zusammen. Leute!!! Man hört auf ihn. Stollen A verschüttet. Ist vielleicht gut. Schützt die Leute drinnen vor dem Gas. Sie leben wahrscheinlich noch. Jetzt ist nichts zu machen. In einer Stunde werden wir einfahren und uns durchhacken. Wir bekommen sie.

Leute, Ihr müßt Ruhe halten, sonst können wir nicht arbeiten. Am Eingang haben wir Tote gefunden.


Zitternde Bewegung in der Menge. Rufe: »Wie viel?«.


INGENIEUR. Ich habe elf gezählt.

DIE MENGE. Lüge!! Schuft!!

INGENIEUR wild zu der anderen Mannschaft, die inzwischen langsam und erschöpft aus dem Korb klettert. Redet ihr!

EIN ÄLTERER BERGMANN. Wir haben elf gezählt. Die Stichflamme hat sie im Rücken gepackt.[170]

RUFE. Habt ihr erkannt? – Wen habt ihr erkannt? – Wen?!


Namen schwirren durch die Luft.


DER BERGMANN. Niemand. Einer lag in einer gasfreien Nische. Atmete noch.


Neue ungeheure Bewegung.


RUFE. Wo ist er?!

DER BERGMANN. Bringen ihn.


Zwei Bergleute haben den Körper aus dem Korb gehoben und schleppen ihn mühsam nach vorn. Stille. Mies starrt auf den Körper, der in der Mitte

des Drahtverhaues auf einen Mauerrest gelegt wird.


INGENIEUR. Er ist schon tot. Unbegreiflich, daß er bis jetzt –.

REGIERUNGSVERTRETER. Schrecklich.

REPORTER schreibt. Völlig unkenntliches Aussehen – –.

EIN WEIB wirft sich mit einem Satz gegen das Verhau, bleibt mit Händen, Haar und Kleidern an den Stacheln hängen. Mann!!


Aus einem verbrannten Antlitz öffnen sich zwei Augen. Ein Stöhnen fliegt durch die unsägliche Stille.


DER STERBENDE. Schmerz. Zuckt und stirbt.[171]

DAS WEIB am Drahtzaun hängend. Meine Hände! Haar! Stacheln! Sie haben Stacheln zwischen uns gespannt! Du! Oh –!

ENTSETZTE RUFE. Herunterreißen! Sie zerfetzt sich. Blutet. Man hat die Ohnmächtige vom Zaun gerissen.

EIN MANN furchtbar. Herr Ingenieur, – die Frau zu ihrem Mann lassen –!

INGENIEUR eisern. Er ist tot. Niemand darf das Verhau betreten. Wir müssen arbeiten. Es sind Menschen unten.

AUFSCHREI DER MENGE. Leichen! Leichen! Mörder!!

INGENIEUR winkt. Plache. Forttragen. Es geschieht.

Nehmt Vernunft an! Die Weiber fort. Formt euch zu Abteilungen. Wir haben Arbeit. Die Leichen werden ausgestellt, ihr wißt es. Hier muß Ruhe sein. Sinne Energie ist so furchtbar, daß die Menge verstummt. In einer halben Stunde können wir vielleicht schon beginnen. Es wird alles getan. Wendet sich wieder zum Schachteingang, erteilt Befehle.

DIE MENGE wieder in dumpfer Erwartung. Warten.

Warten.

Sie haben den Fächer zu spät aufgestellt.[172]

Absichtlich.

Daß der Brand erstickt.

Sie sind Mörder.

Alle Mörder.

Warten.

EIN WEIB schlägt stumpf den Boden. Erde!


Verwandlung.

Untertage. Ein halbverschütteter Seitenstollen. Dunkelheit. Verglimmender Docht einer auf den Boden gestellten Lampe wirft schwachen Kreis von Helle. Links der erste und vierte Bergmann in tiefem Dunkel, in der Mitte der zweite und fünfte ganz schwach beleuchtet, am Schuttkegel rechts der dritte wieder im Finstern. Der zweite (Vater des dritten) liegt im Sterben. Langes völliges Schweigen.


DER VIERTE. Mein Mund ist voll Staub. Als wäre man schon eingebuddelt. Zäher, schwarzer Staubbrei. Pfui!

DER ERSTE. Ich weiß nicht. Ich schmecke Blühendes auf meiner Zunge.

DER VIERTE faßt ihn an. Du! Nicht phantasieren. Du nicht!

DER ERSTE. Nein. Gar nicht. Kohle. Staub. Stollen A römisch III. Hundertzwanzig Stunden. Ich weiß alles. Sterbenmüssen. Aber auf meiner Zunge ist ein Geschmack von Klee. Rot und klebrig süß. Kennst du Kleeblumen?[173]

DER VIERTE nachdenklich. Die kleinen roten meinst du? Ja. Ich denke.

DER ERSTE. Meistens rot. Aber es gibt auch weißen. Und andere Farben. Es gibt junge Wiesen – –. Überwältigt. Blühende.

DER VIERTE. Ja, ja. Das ist auch gleichgültig. Du mußt dich zusammennehmen. Du mußt denken. Du bist unser Kopf. Seit Jahren hast du für uns gedacht.

DER ERSTE. Haben wir nicht alles gedacht?

DER VIERTE. Ja. Ich meine wohl.

DER ERSTE. Wir haben so gedacht: Ist die Ventilierung in Ordnung geblieben, sind sie in vierundzwanzig Stunden da. Kamen aber nicht. Also ist sie hin. Bis ein Fächer da ist, vergehen noch vierundzwanzig Stunden. Dann aufmontieren: zwölf, vierzehn Stunden. Ist der A-Stollen frei, kann es alles in allem noch zwölf Stunden dauern, macht zweiundsiebzig. Kamen aber nicht. Folglich ist er verschüttet. Wie weit ist er verschüttet? Das können wir nicht berechnen. Das kommt darauf an. Jetzt sind es hundertzwanzig Stunden. Wir werden demnach sterben.

DER VIERTE sachlich. Ja. Das stimmt.[174]

DER ERSTE. Wir haben am zweiten Tag, als wir noch bei Kräften waren, versucht, uns herauszuhauen. Es ging nicht. Heute können wir nicht mehr stehen. Es würde noch weniger gehen.

DER VIERTE. Ja, das ist so. – Was ist also noch zu tun?

DER ERSTE. Ich denke, nichts. Sterben. Aber vorher – – Kleefelder. Inbrünstig. Auf Wiesen spielen – –.

DER ZWEITE schwach den Kopf hebend. Sohn.

DER FÜNFTE zum Dritten, der unbeweglich am verschütteten Ausgang kauert. Er ruft dich.

DER DRITTE. Was will er?

DER FÜNFTE. Er macht's nicht lang.

DER DRITTE. Er ist zäh. Ich muß Kraft sparen. Ich will hinauf.

DER ZWEITE. Kommt er nicht?

DER DRITTE. Ich bin müd.

DER ZWEITE. Hast recht. Wozu. Kann's auch allein.[175]

DER ERSTE zum Vierten. Weißt du, was das ist um uns?

DER VIERTE. Ich denke. Stein. Ich weiß wenig anderes. Steinkohle.

DER ERSTE. Nein, nicht Stein. Nicht wie anderer, – keimlose entgötterte Erde. Das ist Wärme. Die Wärme der Erde. Das sind Herde, gute, gnädige, speisespendende, – Friede von Zimmern, beruhigtes Atmen Rastender, – der Atem steiler Schlote und die Kraft von Millionen Rädern, – der Herzschlag der Erde, – da, da hör' ihn!

DER VIERTE. Kohle.

DER ERSTE. Daß ich das nie dachte! Wir hämmerten und hämmerten – unsre Hacken bissen in den Berg – Lärm war – und ich sah nur den Tod. Unser Altern, unser Sterben. Und nun, da alles still wird, weiß ich, daß wir am Herzen der Erde sind, höre ihren Puls donnern, tauche Hände in ihr strömendes Blut und schöpfe Leben –!

DER VIERTE. Ich verstehe nicht. Du hast uns gelehrt, daß die Kohle unser Fluch sei. Die Maschinen sind unsre Herren, sie haben uns entmannt, aus Werkenden zu Knechten gemacht – und wir sind die schlimmsten Sklaven, denn wir müssen unsre Herren füttern[176] mit unreiner Speise, mit Kohle – –. Hast du uns das nicht gelehrt?

DER ERSTE. Ja. Aber ich hatte so vieles vergessen. Ich habe vergessen, daß alles Lebendige gut ist, weil es lebt.

DER VIERTE kopfschüttelnd. Das kann nicht sein. Dann müßten auch die Herren gut sein – oder wir selbst, denn wir leben doch.

DER ERSTE leise. Vielleicht sind die Herren gut. Vielleicht – weißt du es? – sind wir selbst gut.

DER VIERTE. Von den Herren weiß ich nichts. Du hast uns gesagt, daß sie uns die Haut abziehen. Aber es kann ja wirklich sein, daß sie nicht wissen, wie es tut, wenn einem die Haut abgezogen wird. Das kann ja sein. Ich war in der Stadt, habe ihre seidenen Mädchen gesehen. Die wußten es bestimmt nicht. Vielleicht sind sie gut. Aber wir – wir sind doch nicht gut. Wir haben doch keine Zeit dazu.

DER ERSTE. Ja, das ist schlimm, daß wir keine Zeit haben. Aber ich habe jetzt fünf Tage Zeit gehabt. Ich habe so vieles gedacht. Oder nein, ich denke nicht. Ich liege da und aus der Erde strömt es in mich. In den Ohren saust es. Ich glaube, ich werde versuchen, jeden Tag zehn Minuten gut zu sein, dann eine halbe Stunde, dann mehr – – es muß doch gehen.[177]

DER VIERTE. Ja, das ginge vielleicht. Nur daß man müde ist. Den ganzen Tag. – Übrigens du glaubst also, daß wir hinaufkommen werden?

DER ERSTE. Ich weiß nicht – – Oben – es wäre noch so vieles – –.

DER VIERTE. Wann soll deine niederkommen?

DER ERSTE sieht ihn an. In zwei Wochen wird es wohl sein. Aber – ich dachte nicht daran –.

DER ZWEITE röchelnd. Wasser.

DER FÜNFTE. Der Urin ist alle.

DER ZWEITE wild auffluchend. Tot sein! Fünfzig Jahre gelebt – unter der Erde – krummen Rückens – Affenhände – nackt – Kinder gezeugt, wenig geliebt, aber doch zu essen gegeben – gegraben nach Brot – und endlich liegen, nackt, schwarz, geschunden, blutig – und kein Urin ist da – Fluch!

DER FÜNFTE. Ach, stirb. Sag ein Gebet.

DER ZWEITE verfallend. Das tägliche Brot.[178]

DER ERSTE grübelnd. Das hier unten – um uns – du weißt doch, daß das Wälder waren. Stämme, saftdurchbrauste, Wipfel, lichtdurchspielt. Kannten das Kreisen von Sonnen, Tierschrei in der Nacht. Waren Welt. Ihr Atem – wohin?

DER VIERTE. Erstickt, verkohlt. Wie wir.

DER ERSTE triumphierend. Wie wir. Erstickt, verkohlt Aber nicht tot! Lebendig. Wärme. Weltatem, Lichtschauer, tausendjähriges Zeugen und Absterben zusammengepreßt zu wärmendem Stein. Speicher neuen Lebens für Jahrhunderte. – Wären wir auch nichts anderes? Sag', ich bitte dich –! Vor meinen Augen funkt es!

DER VIERTE. Warte. Warte. – Nein, ich glaube nicht Was sind wir morgen. Staubhaufen. Kaum als Dung verwendbar.

DER ERSTE. Du hast Hunger. Du denkst nur an das in dir, das Hunger hat. Mir ging es zwanzig Jahre so. Ich lehrte die Allmacht des Brotes. Ihr alle glaubtet mir. Aber es ist noch Anderes da. Sieh, seit der Hunger von mir abfällt, spüre ich es immer wachsender. Unser Körper – ja, Dung, Staubhaufen. Aber unausgewirkt, fast unberührt ist Anderes in uns, das über uns hinaus unendliche Bedeutung hat Ich fühle das. Ich kann es noch nicht sagen. Aus[179] unserer Armut, unsrem Sterben, unserer kleinsten Güte wird vielleicht Wärme gewonnen, vielleicht sind wir der Wald, fühllos, dumpf, versunken, der die Welt speist mit warmem Licht – –.

DER VIERTE. Ich hungere, dürste, friere.

DER ERSTE hastig. Ja, ja, ich weiß. Das ist furchtbar. Das scheint unlösbar. Aber ich glaube, daß hier doch ein Weg führt. Ich kann ihn nur noch nicht sehen. Du mußt Geduld haben.

DER VIERTE. Wir haben nicht Zeit, Geduld zu haben. Finde mir das oder ich verfluche dich.

DER ERSTE verzweifelt. Ich habe so fest geglaubt! Es war alles klar. Wir müssen uns schinden für den Überfluß anderer. Sie nehmen den Überfluß von uns, obgleich sie den Preis wissen – also sind sie schlecht. Weil sie aber schlecht sind, müssen sie auch uns schlecht machen, um vor sich selbst bestehen zu können. So sind wir denn schlecht geworden – nun sind beide Parteien gleich – also Kampf, Haß, Gewalt! Und unsere Gewalt ist Recht, weil es uns schlechter geht. Das war doch klar?

DER VIERTE. Ja, das war klar.

DER ERSTE. Und ich habe gekämpft Erst aus Lust, dann aus[180] Haß, zuletzt aus Verzweiflung. Und nun bin ich dort, wo die Qual eines Lebens noch einmal vertausendfacht zusammengepreßt ist in glühende Sterbestunden – habe mein letztes Brot gefressen, mein Wasser gesoffen – mein Sterbelicht niederbrennen gesehn – und siehe, siehe, im Finstren weht es über meine Stirne, Augen tun sich auf, dunkler als das Dunkel – und etwas spricht zu mir – –

DER VIERTE erschüttert. Was spricht es? Sag es mir.

DER ERSTE ganz leise. Was lebt, ist gut.

DER VIERTE plötzlich milder. Ich verstehe dich nicht Du gehst neuen Weg. Geh, geh nur –.

DER ERSTE. Du sollst mitgehen. Bruder. Lauschen – –.

DER VIERTE. Müde. Aber es hört sich gut Kannst es mir noch ein paar Mal sagen zum Einschlafen.

DER ERSTE. Schläfst schon ein?

DER VIERTE. Weiß nicht – – –[181]

DER ERSTE schaudernd in den Knien. Ich will das Leben ehren, Gott! Ich will wachsen. Wachsen in meine Kindheit zurück. Ich will Wurzeln schlagen. Ich will aufgrünen. Segen soll von mir träufen. Ich ahne Gutes!

DER FÜNFTE hat sich zum Dritten geschlichen. Du. Er wird bald tot sein.

DER DRITTE nickt, ohne sich zu rühren.

DER FÜNFTE. Ich wollte dich fragen: Wenn er tot ist, nicht wahr – dann ist er doch eben tot. Lebendig ist er ja wohl dein Vater, zugegeben. Aber tot – tot könnte er doch auch ein anderer sein. Man kann es an gar nichts merken. Drehst du ihn um, daß du sein Gesicht nicht siehst, kannst du es überhaupt nicht merken. Er kann es dir nicht zeigen.

DER DRITTE. Nein, das kann er dann nicht mehr.

DER FÜNFTE. Siehst du, du bist vernünftig. Er könnte auch ein anderer sein. Wir müßten ihn gar nicht gekannt haben. Tot ist tot. Wir wissen nichts davon. Und Tote sind Fremde. Nicht wahr?

DER DRITTE. Fremd.

DER FÜNFTE. Siehst du. Wenn wir aber – ich meine dich und[182] mich – es noch vierundzwanzig Stunden – aushielten – sagen wir, vierundzwanzig – müßten sie doch kommen, das ist doch klar.

DER DRITTE. Ich will hinauf.

DER FÜNFTE. Sie kommen bestimmt. Aber diese vierundzwanzig Stunden, das ist es eben. Wirst du sie erleben?

DER DRITTE. Muß.

DER FÜNFTE. Mit dem Hunger ginge es noch. Man kann das. Es gibt Beispiele. Aber da ist nun der Durst. Plötzlich stöhnend. Oh – Durst – –!

DER DRITTE hart. Was willst du?

DER FÜNFTE jammernd. Bitte – – wenn er tot ist – – ganz tot – nicht vorher, nicht vorher eine – – Ader öffnen, schnell, ehe das Blut stockt – trinken – –! Einmal trinken!

DER DRITTE auf, starrt ihn an.

DER FÜNFTE heulend auf den Knien vor ihm. Trinken – – trinken – –!

DER DRITTE schlägt ihn mit einem Faustschlag auf die Stirne nieder. Tier! Er auch!!

– – – – – – – – – – – – – – – – – –[183]

Ich habe daran gedacht. – Vater! Er tastet steh zu dem Sterbenden. Über ihn gebeugt. Vater. Sag etwas.

DER ZWEITE schlägt die Augen auf. Sohn.

DER DRITTE. Gutes. Etwas Gutes. Sag's.

DER ZWEITE. Mutter – –

DER DRITTE. Hast du sie – – war sie dir lieb? Sag.

DER ZWEITE. Keine Zeit. Nächte im Bett. Ach ja, warm. Aber Angst – Angst vor Kindern. Zu furchtbar.

DER DRITTE. Nicht Liebe? Nie Liebe?!

DER ZWEITE. Schon. Es war wohl da. Als Mädchen. Sonntage. Einmal Hutsche und Ringelspiel. Wiese. Papierfahnen. Aber dann – keine Zeit, keine Zeit.

DER DRITTE. Aber dann – ich? Als ich kam? Freude?

DER ZWEITE. Fünfter. Zu viel. Hunger. Böses Wochenbett. Medizin.

DER DRITTE. Und später. Nie Freude? Da ich wuchs? Stark ward?

DER ZWEITE. Bis du vierzehn warst, war's schwer. Dann konntest du einfahren. Da wurde es besser.[184]

DER DRITTE. Hölle! Es muß doch noch anderes gewesen sein! Denk nach. Etwas Gutes! Es muß doch Gutes gegeben haben!

DER ZWEITE. Selten – Bier – –.

DER DRITTE. Wir haben nie gesprochen. Keine Zeit, ich weiß. Aber du mußt mich doch geliebt haben! Schreiend. Sag' es! Ich bin dein Sohn!

DER ZWEITE streckt sich. Sohn. Tot.

DER DRITTE über ihn gebeugt. Ganz leise. Ich habe Hunger nach etwas Liebe. Zum erstenmal. Gib mir.

Ich habe es nie gesagt. Nackter, schmutziger Körper –. Vater. Arme Lenden, verfallene Brust. Nur die Arme gewaltig. Gute, starke Riesenhände.

Dein Altern wird nicht durch mein Haus dämmern. Ich hätte deinen Abend gefristet. Vielleicht dir Vorwürfe gemacht Aber es doch gern getan. So gern. Starrt in das Antlitz. Fremd. Könnte es wirklich auch ein anderer sein? – Doch nicht. Vater. Ein tiefes Schluchzen. – – Mit einem Sprung bei dem Ersten. Du. Der ist tot.

DER ERSTE sieht ihm voll ins Gesicht. Was willst du von mir?[185]

DER DRITTE. Ich – gehöre dir. Du weißt, ich stand abseits. Spottete über dich. Sonntags Schnaps und Mädchen. Lau. A, Ekel! Nimm mich!

DER ERSTE schwer. Was willst du?

DER DRITTE. Kampf. Bis auf's Messer.

DER ERSTE erschüttert. Junger. – Weißt du den Weg? Ich irre, tappe im Finstern – –.

DER DRITTE rauh. Was soll das? Du warst voran – immer – –.

DER ERSTE. War ich es? Ich bin der Letzte. Hilf du mir, Junger. Was willst du?

DER DRITTE. Hinauf. Gewalt setzen gegen Gewalt. Stärkere Gewalt, heißere Gewalt. Morden. Es ist einer gestorben und wußte kein Wort der Güte, hörst Du? Ich will hinauf. Ich will das Blut aus seinen Adern saugen, um Kraft zu behalten. Brüllend. Ich will von ihm fressen, um zu leben!! Hinauf!

DER ERSTE. Feuer geht von dir aus. Was ist in dir?

DER DRITTE. Haß!![186]

DER ERSTE. Und mir – Ewigkeit! – wuchs etwas wie Liebe im Herzen – –!

DER DRITTE rüttelt ihn. Was schwatztst du? Was kommt dich an?

DER ERSTE verfallend. Laß – – Vielleicht ist es besser – – Vielleicht hast du recht. Und doch – einer spricht – aus dem Dunkel geballte Worte – tief in mein Herz – – gut sein.

DER DRITTE. Allein. Finsternis. Der Lichtstumpf ist endlich erloschen.


Schreiend.


Hinauf!!


Antwortrufe, gedämpft: »Hallo – – Hallo – –«.


Mensch!!


Näher: »Hallo – Glück auf –!«.

Er tastet sich, mehrmals fallend, nach dem verschütteten Ausgang.


Menschen!!


Spitzhackenschläge krachen gegen die Schuttwand.


Hackt! Hackt! Fünf sind wir! Fünf Tote sind Lebendige! Ich lebe! Ich! Hackt! Hackt! Ich will hinauf! Stärker! Hunde! Menschen!


Durch einen Spalt fällt der grelle Lichtkegel einer Blendlaterne in sein Gesicht. Er bäumt sich auf.


Licht! Haß!!


Schlägt hin.

Vorhang.


Quelle:
Hans Kaltneker: Dichtungen und Dramen. Berlin, Wien, Leipzig 1925, S. 161-187.
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