Zweiter Akt

[187] Zimmer bei Michael.

Niedriger Raum, zugleich als Küche dienend. Häßlich, doch rein. Die Möbel roh gezimmert, nicht angestrichen, nur der bequeme Sessel im Vordergrund und die Kommode, auf der ein paar Bücher und Zeitschriften liegen, machen einen etwas wohnlicheren Eindruck. Stehlampe. Türe rechts führt von draußen herein, Türe links in die Schlafkammer. Das Fenster blickt auf verrußten Schnee. Spätabend.

Michael (der erste Bergmann aus dem vorigen Akt) sitzt in dem Sessel vorn und hört etwas vorgeneigt aufmerksam dem vor ihm stehenden Heß zu. Wanda (Michaels Weib), nicht mehr jung, groß, blond, leicht slawischer Akzent, hochschwanger, schaffend am Herde.


HESS. Generalstreik.

MICHAEL. Gewißheit?

HESS. Um die Zeit schon entschieden, Mittag ist der Zentralrat zusammengetreten. Sinner bringt Nachricht aus der Stadt.

MICHAEL. Wie ist es möglich –?

HESS. Am Ziel! Die Katastrophe schlug ein. Zündete. Zweihundertdrei Mann! Sie haben genug.

MICHAEL. Aber was wollen sie? Was?[188]

HESS. Diesmal ums Ganze. Wir sind so weit. Es sind Vertrauensmänner von den Betriebsräten da. Aus Netze, Kardiff, Laurenzhütte. Um neun tritt bei dir das Aktionskomitee zusammen. Erwarten nur noch den Beschluß des Zentralrates. Morgen stehen sämtliche Reviere im Streik. Das ganze Land hinter uns. Zweihundertdrei Menschen.

MICHAEL. Ich glaube es nicht. Kann nicht.

HESS. Wirst hören. Wir sind in den zwei Wochen weitergekommen als in Jahren. Die Lauesten entschlossen. Die Explosion entschied. Der Grubendistrikt geht wie ein Mann los. Sämtliche Betriebe folgen, geben wir das Zeichen. Morgen rollt keine Speiche mehr. Aus das Licht. Wasserwerke ruhen. Hochöfen werden ausgeblasen. Eisen steht auf!

MICHAEL. Und ich? Um nichts zu wissen –!

HESS beruhigend. Du warst krank. Drei Tage besinnungslos. Schonung war geboten. Glaub' mir. Wissen doch, daß es ohne dich nicht geht. Bei uns geschah die Katastrophe, bei uns muß es angehen. In ihren Hirnen brennt noch das Entsetzen, die Nerven sind am stärksten gespannt, der Ruck wird elementar. Von hier muß die Bewegung ausgehen, breiter werden, Unbeteiligtere an sich reißen. Das ist logisch. Und [189] ohne dich fängt es nicht an. An dir hängt ihr Glaube, Aufblick zu dir entscheidet. Ohne dich lockt das Aktionskomitee keine Katze auf die Straße, mit dir gehen sie vor Maschinengewehre.

MICHAEL. Die Vertrauensmänner sind hier, sagst du?

HESS. Aus den Betriebsräten gewählt. Auch von den Gewerkschaften drei. Müssen diesmal mit. Zu Ende mit Opportunismus, Armenpflegesozialismus. Fahnen heraus!

MICHAEL. Wo sind sie?

HESS. Bei Timm. Verlassen das Haus nicht vor Abend. Für alle Fälle. Spitzelwirtschaft blüht wieder. Sie wittern. Gänsehaut. Aber das Letzte wissen sie nicht. Daß es um's Ganze geht. Um neun sind alle hier. Sinner kommt direkt her mit der Resolution des Zentralrates. Wir wissen die Parole im voraus.

MICHAEL. Sie lautet?

HESS. Kampf bis zum Äußersten. Entscheidung. Neue Welt.

MICHAEL. Und die Mittel?

HESS. Die du uns gelehrt. Wer riet uns, Dynamit zu sparen? Fingerhutweis? Zwanzig Jahre lang? Deine Saat – reift.[190]

MICHAEL. Zwanzig Jahre. Wie meine Worte mir widerhallen! Berge werfen sie zurück.

HESS. Die Berge fallen über sie. Lawinenkraft in den Massen.

MICHAEL. Massen – Wort. Gebirge, Strom, Sturm. Und jeder – ein Mensch.

HESS. Mensch? Insekt, Ameise. Zusammen die Macht. Ein Körper, ein Blut.

MICHAEL. Die Gesellschaft? Die oben?

HESS. Unklar. Abwartend. Wolff versuchte gestern, mit uns Fühlung zu nehmen. Sprach von neuen Schutzverordnungen, erhöhter Gewinnbeteiligung.

MICHAEL. Und? Und?

HESS. Wir kennen sie doch. Die Gänsehaut. Aber es geht um's Ganze. Um die Macht.

MICHAEL. Die Regierung?

HESS. Bis jetzt wie gelähmt. Man erwartet Gesamtdemission. Werden heute alles erfahren.[191]

MICHAEL schwer atmend. Um neun, Meine Saat.

HESS. Winter draußen. Aber in uns – das Blühen! Hingerissen. – – Bruder!

MICHAEL auf vom Sessel, preßt seine Hand, will reden.

HESS. Schone, schone dich. Es geschieht heute noch viel. Jede Stunde zum Bersten voll von Geschehnis. – Wanda ihn hüten! Deine Stunde – bald?

WANDA tief. Ich warte.

HESS scherzend. Wird's ein Junge?

WANDA leise. Nach zwanzig Jahren.

HESS Michael ansehend. Zwanzig Jahre. Da kamst du her. Ein Mensch unter Tiere. Trugst Feuer. Heiliges Feuer. Schüttelt seine Hand. Wir sind bald da. Guten Abend. Geht.


Schweigen. Michael geht zum Fenster, starrt hinaus.


WANDA trägt Speise auf. Komm. Iß. Trink.[192]

MICHAEL blickt auf den Blumentopf am Fenster. Warte. Geht zu dem Bord, nimmt ein Glas und begießt langsam die kümmerliche Blume.

WANDA. Du hast sie heute schon einmal begossen. Zu viel schadet.

MICHAEL. Tat ich's? Vergaß. Zärtlich. Blume.

WANDA etwas hart. Was hast du damit? – Komm.

MICHAEL setzt sich an den Tisch. Sie essen beide nicht. Sehen sich an. Er streicht ihr wortlos leicht über das Haar.

WANDA. Iß. Du mußt essen.

MICHAEL. Kann nicht. Etwas Brot. Er bricht ein Stück Brot, zwingt sich zu essen.

WANDA holt eine Flasche Wein. Es ist noch ein Rest da.

MICHAEL. Für dich.

WANDA. Nein, du brauchst Kraft. Trink.

MICHAEL. Wir beide. Nötigt sie sanft, einen Schluck zu machen, trinkt den Rest aus.


Schweigen.
[193]

WANDA sieht ihn mit großen Augen an. Glaubst du? Ist es?

MICHAEL schwer. Ich weiß nicht.

WANDA. Es ist ein Fremdes an dir. Seit Tagen entfernst du dich von mir. Wirst einsamer.

MICHAEL. Ich bin bei dir.

WANDA errötend. Was siehst du mich an?

MICHAEL leise, innig. Dein lieber Leib.

WANDA wendet sieh ab. Sprich nicht. – In mir schauert Angst. Glaubst du noch? Sag!

MICHAEL. Qual! Qual!

WANDA leise. Du glaubst nicht?

MICHAEL ausweichend. Licht.


Sie erhebt sich, zündet schweigend die Stehlampe an.
[194]

MICHAEL. Licht. Brot. Wein. Und das Leben in deinem Schöße. Weht nicht Friede um uns?

WANDA ihm hart ins Gesicht. Die Nachtschicht.

MICHAEL senkt das Haupt. Ja. Die. Es gibt Nachtschichten in der Welt. Du hast recht.

WANDA. Mann! Mann! Es ist etwas geschehen mit dir! Unten. Denk an unser Leben! Kinder waren uns versagt. Wie wir uns gaben in Haß und Verzweiflung. Mein erstarrter Schoß! Um unser Bett Hämmern und Schlotpfiff. Hochofenröte in unsere Nächte. Unser geschändeter Schlaf!

MICHAEL gebannt. Ja – – ja – –.

WANDA. Wie wir Haß sogen aus unsrem Wachen. Haß tranken aus dem Schlaf. Reinen Haß. Du gingst und lehrtest. Du lehrtest die Auferstehung. Brand kam aus deinem Munde.

MICHAEL. Und du – –.

WANDA. Kannst du sagen, daß ich nicht bei dir war? Ohne Liebe, unfruchtbar, aber stark wie du! Und jetzt, da das Reich kommt, das du verheißen hast, – wo bist du? Wo läßt du mich?[195]

MICHAEL. Liebe, nun trägst du. Sommerlich.

WANDA wild. Was soll mir die Frucht, verrätst du mich?

MICHAEL ruhig. Wen verrate ich?

WANDA. Mich. Das Werk. Du lehrtest mich. Du schufst mich nach deinem Bild. Ich bin dein Atem.

MICHAEL. Was verlangst du von mir?

WANDA. Sieh mich nicht so an. Dein Blick frißt an mir. Was willst du denn? Willst du bei mir sitzen? Fliegen von meiner Stirne klatschen, wenn ich gebäre?

MICHAEL. Das will ich.

WANDA brüsk. Ich brauche dich nicht.

MICHAEL inbrünstig. Das Kind!

WANDA. Was erhoffst du davon? Was hilft es uns? Es ist verflucht.[196]

MICHAEL entsetzt. Was sagst du?

WANDA. Zu viel Haß lief durch mein Blut. Als du unten warst – fünf Tage und Nächte – wand sich mein Leib in Angst und Haß. Qual hat es gespeist. Es zuckte – so – unterm Herzen. Ich schlug meinen Leib. Spie Fluch auf alles Lebendige! Ich habe Angst, ich werde Totes gebären.

MICHAEL mit zuckendem Antlitz. Oh – das – warum tatest du das?!

WANDA fällt schwer vor ihm auf die Knie. Liebe ich dich – –?

MICHAEL starr. Vergiftet – auch das Keimende. – Fünf Tage war ich unten, sagst du? Ja, das ist lang.

WANDA demütig. Was sind wir? Denk' an die andere Saat, die reift –!

MICHAEL. Giftig, giftig – –. Haß geht auf.

WANDA. Du warst nicht dabei, als man die zweihundertdrei begrub – –.

MICHAEL. Haß – – Haß – –.[197]

WANDA aufgerichtet. Wir werden siegen. Aus den Gräbern die Brüder – – Ostergesang –!

MICHAEL verzweifelter Aufschrei. Den Frieden! Den Frieden!

WANDA milde. Michael, er kommt. Bist du müde?

MICHAEL still, gefaßt. Nein.

WANDA. Wirst du gehen?

MICHAEL. Meinen Weg.


Sie sehen sich schweigend an.


WANDA ruhig, in anderem Tone. Sie werden gleich da sein. Ich will Tee bereiten.

MICHAEL abwesend. Ja. Tu das.

WANDA. Oder soll ich hinüber? Bier holen?

MICHAEL. Nein. Ich glaube nicht.

WANDA. Wie du willst. Sie stellt Wasser auf den Herd und bereitet den Tee.[198]

MICHAEL horcht, geht zur Türe, öffnet sie. Guten Abend.


Von draußen: »'Abend! 'Abend!«.

Es treten ein: Timm, alter, ruhiger Proletarier, Heß, die Vertrauensmänner Hennig, Ruschnow, Tietze, Bergleute aus verschiedenen Distrikten, dann die Vertreter der Metallarbeiter, Maschinisten und Heizer der Zechenanlagen Ledovsky, Vogler, Holsen, endlich Gewerkschaftssekretär Fabius, im ganzen neun Personen.

Begrüßungen.


HENNIG zu Michael. Alter! Doch wieder heraus. Wir haben geheult vor Wut.

RUSCHNOW. Aber zum letztenmal! Wie war das Ganze eigentlich?

HESS. Eine Dummheit natürlich von einem Jungen, der unten beschäftigt war.

TIETZE. Können nicht lassen davon. Gegen jedes Gesetz.

VOGLER. Kinderarbeit kommt billiger.

HESS. Natürlich. Ein Bremser. Die Sache soll so gegangen sein: Der Junge steckt den Stock zu spät ins Rad. Der Karren schon in Bewegung, stößt ihn an die Wand, rollt – Geschwindigkeit wächst – hinein in einen Balkenhaufen, Kohlenstaub fliegt auf, ein Beleuchtungsdraht berührt den Karren – Funke – zweihundertdrei.[199]

HENNIG. Keine Streuung natürlich?

HESS. Woher?

RUSCHNOW. Es war gut so. Mußte kommen. Jetzt sind den Letzten die Augen aufgegangen.

FABIUS. Es ist kein Unorganisierter mehr im Distrikt.

HOLSEN. Wir sind stark.

VOGLER. Stark genug. Endlich.

HENNIG drückt Michaels Hand. Daß du's erlebt hast! Unten – bös, was?

MICHAEL nickt stumm.

RUSCHNOW. Wir hätten uns nichts Besseres wünschen können.

MICHAEL. Nichts Besseres? Und die zweihundertdrei?

RUSCHNOW kalt. Pioniere. Haben uns den Weg gebahnt. Nun marschieren wir.

LEDOVSKY höhnisch. In der Regierung sitzen drei Sozialisten. Einen kannte ich. Trägt heute Gehrock, seidegefüttert.[200]

TIETZE. Wir werden ihn einen Flor anstecken machen!

FABIUS. Hat die Regierung eigentlich schon demissioniert?

HESS. Weiß noch nicht. Sinner bringt Nachricht aus der Stadt.

FABIUS. Wo bleibt er?

HESS. Der Zug ist schon eingefahren. Muß jeden Augenblick da sein.

LEDOVSKY. Kann ihm nichts unterwegs passieren? Ist Vorsorge getroffen?

HESS. Sie wagen nichts. Sind wie gelähmt. Zehn Mann erwarten ihn an der Station.


Während des folgenden treten ein: Zwei Gewerkschaftler, Kaffka und Lersner, einige weitere Vertrauensmänner der Bergarbeiter und anderer Betriebe, unter ersteren der junge Martin (der dritte Bergmann aus dem vorigen Akt) und eine Frau Anna (unschönes, knochiges Gesicht) die sogleich Wanda begrüßt.


HENNIG zu Heß, auf Michael deutend. Was ist mit ihm?

HESS. Noch krank. Delirierte drei Tage.

HENNIG. Er wird doch auf Posten sein? Wir brauchen ihn.[201]

HESS. Kennst du ihn nicht? Und dann – sein Tag. Zwanzig Jahre Arbeit. Ein Leben. Und jetzt Erfüllung. Das macht schwer.

HENNIG. In seinem Gesicht etwas. Er hat noch nicht zwei Worte gesprochen.

HESS. Redet, wenn's Zeit ist. Verlaß dich. Wir kennen ihn.


Die Neuangekommenen werden begrüßt.


LEDOVSKY spöttisch. Die ganze Gewerkschaft. Streikkassen retten gekommen?

KAFFKA ruhig. Wir sind bereit.

HOLSEN wortkarg. Zeit ist's.

FABIUS. Daß wir bremsten, als ihr vorzeitig losschlagen wolltet – war's gut oder nicht? Heute sind wir anders gerüstet. Wem dankt ihr's?

MARTIN schroff. Wir zahlen fortan Blutbeitrag.


Das Wort wirkt. Man flüstert.
[202]

TIETZE zu Timm. Wer ist der Junge?

TIMM. Sohn des alten Martin. Unten umgekommen. Vor seinen Augen. Die Leute haben ihn zum Vertrauensmann gewählt. Sehen die paar Geretteten wie Erzengel an.

TIETZE beifällig. Guter Schlag. Wir schaffen es.

TIMM. Früher hinter Mädels her. Scherte sich den Teufel um die ganze Organisation. Weigerte sich zu zahlen. Heute entbrannt Angefacht in allen Adern.

TIETZE. Gut so.

LERSNER. Sind wir alle?

HESS. Sinner fehlt noch. Wir können ohne ihn beginnen. Michael leitet.

MICHAEL. Ich nicht. Entschuldigt.

HESS. Natürlich. Schon dich. Morgen mußt du beisammen sein. Timm also.

MICHAEL. Setzt euch.


Sie nehmen um den langen Tisch Platz. Einige bleiben stehen. Wanda hat Gläser mit Tee auf den Tisch gestellt.
[203]

TIMM. Wir konstituieren uns also als Aktionskomitee, oberster Rat des Distriktes, frei gewählt aus Betriebsräten und Gewerkschaften. Wie viele sind wir?

HESS. Siebzehn.

LEDOVSKY. Vierzehn Vertrauensleute aus den Betriebsräten, drei Gewerkschafter.

TIMM. Der ganze Distrikt ist also vertreten. Vierundzwanzig Zechen und fünf Hüttenwerke.

LEDOVSKY. Ich stehe für die Metallarbeiter der Zechenanlagen.

VOGLER. Maschinisten.

HOLSEN. Heizer.

TIMM. Wir sind also beschlußfähig. Vorsitz?

ALLE einstimmig. Du.

TIMM. Gut. – Genossen. Reden ist unnötig. Wir stehen hier für über vierzigtausend Arbeiter. Keiner unter uns, den nicht das Vertrauen seiner Genossen trägt. Wir sind das oberste Exekutivorgan des ganzen Revieres. Hat der Zentralrat, wie vorauszusehen ist, den Streik beschlossen, ist es an uns, ihn durchzuführen. Die Verantwortung ist erdrückend. Vierzigtausend[204] Proletarier blicken auf uns. Über ihr Blut und Brot entscheiden wir. Letzte Hingabe ist notwendig. Auslöschen alles Eigenen. Vierzigtausend Menschen! Und diese nur ein Teil von Hunderttausenden, Millionen. Entscheidendes kann von uns ausgehen. Sind wir bereit?

EINSTIMMIG außer Michael. Ja.

TIMM. Jedes Bedenken muß geäußert, jeder Einwand erwogen werden. Greift nicht Rad in Rad mit letzter Präzision, sind wir verloren. – Wir gehen in's Detail, sobald der Entschluß des Zentralrates vorliegt. Eines voraus. Es geht um so Ungeheures, daß wir mit Blut rechnen müssen. Sind wir auch darauf gefaßt?

HENNIG. Es liegt an denen drüben, zu welchen Methoden wir greifen müssen.

TIMM ernst. Es könnte sein, daß es diesmal an uns liegt.

MARTIN. Wir wollen angreifen.

HESS. Wir sind entschlossen. Wir zahlen jeden Preis. Zweihundertdrei Opfer stehen hinter uns.

RUSCHNOW. Und hinter denen?[205]

WANDA die am Herde stehend allem gespannt gefolgt ist, wankt stöhnend.

HESS. Wanda!

WANDA schwankt mit geschlossenen Augen zur Türe.

MICHAEL ist aufgesprungen, ihr in den Weg. Wanda! Ist es?

WANDA nickt, sieht ihn einen Augenblick schweigend an. Bleib.

MICHAEL tritt zurück. Wanda in die Kammer.

HESS leise. Ihre Stunde.

TIMM. Willst du zu ihr, Michael? Geh ruhig. Zur Abstimmung rufen wir dich.

MICHAEL schüttelt den Kopf. Ihr hörtet Hier mein Platz.

ANNA steht auf. Ich gehe hinein. Meine Stimme wißt ihr im Voraus.

MICHAEL reicht ihr die Hand. Danke, Anna.[206]

ANNA. Frauen. Werdet schon ohne mich fertig. Bin drinnen nötiger. Folgt in die Kammer.

MICHAEL. Laßt euch nicht stören.

LERSNER. Wenn's ein Junge wird, soll's ein gutes Zeichen sein.

VOGLER. Hast lange genug gewartet, Michael. Na Prost – Kein Bier?

HESS auf. Sinner!


Sinner herein, mit ihm ein Fremder. Er wird umringt, begrüßt.


SINNER vorstellend. Schmidt vom Zentralrat.

STIMMEN. Bravo. Willkommen.

SINNER zu Schmidt. Wir kommen recht Das Aktionskomitee. Der Ausschuß des Grubendistriktes. Alle Vertrauensmänner.

SCHMIDT. Um so besser.

SINNER. Timm. Heß. Michael.[207]

SCHMIDT zu Michael. Wir kennen uns. Vom Oktoberstreik neun. Wir durften zusammenarbeiten.

MICHAEL nickt. Was bringen Sie?

SINNER am Tisch, ein Abendblatt vorweisend, sehr lebhaft, alle gruppieren sich um ihn. Die Regierung zurückgetreten.

VEREINZELTE RUFE. Bravo.

LEDOVSKY. Die seidengefütterten Sozialisten!

SINNER. Die Kammer hat sich anläßlich der bevorstehenden Ereignisse vertagt.

RUFE. Auf Nimmerwiedersehen!

RUSCHNOW. Räte! Räte!

TIETZE. Weg mit der Koalition! Sozialbourgeois!

HESS. Wichtigeres!

SINNER. Geduld! Korn bildet das neue Kabinett!

STURM DER ENTRÜSTUNG. Nein! – Ein Sozialdemokrat will gegen den Streik[208] regieren! – Ein Verräter! – Ein Gekaufter! – Sozialpatriot! – Wieviel Proletarierblut klebt schon an ihm?!

SINNER überschreit sie. Heute Mitternacht wird der Belagerungszustand über die Stadt und das Kohlenrevier verhängt!

ALLGEMEINER AUFSCHREI. Verrat!!

SINNER zu Schmidt. Ist es so?

SCHMIDT ruhig. Der Erlaß ist seit gestern Nacht schon vorbereitet. Wir haben ihn heute früh in die Hände bekommen – noch ehe der Zentralrat zusammentrat. Hier ist eine Kopie.

ALLE drängen sich um Schmidt. Lesen. Lesen!

SCHMIDT reicht Timm einen Zettel. Ich bitte Sie.

TIMM. Haltet Ruhe. Man versteht sein eigenes Wort nicht. Er liest öfters unterbrochen vor.

»Angesichts der terroristischen Haltung einer kleinen, aber um so tatkräftigeren Minderheit, deren Programm dem wahren Willen der arbeitenden Klasse völlig fern steht, angesichts bereits einsetzender[209] Gewaltakte in einzelnen Distrikten –« Ruf: Kern Haar ist gekrümmt worden! »über die authentisches Material vorliegt, sieht sich die Regierung genötigt, zum Schutz aller, die gewillt sind, Ruhe und Ordnung zu halten, zum Schutz aller Arbeitenden und Arbeitswilligen den Belagerungszustand über die Hauptstadt und die Distrikte Netze, Kardiff und Bitterndorf, zu verhängen. Gezeichnet Korn.«

RUSCHNOW. Das ist Provokation.

LERSNER. Das ist Angriff!

MARTIN. Das sind Maschinengewehre!!

SCHMIDT. Ich bitte Sie, sich stets vor Augen zu halten, daß Wehrminister Korn diesen Erlaß schon gestern, als unsrerseits noch gar nichts Definitives beschlossen war, vorbereitet hatte. Da die Regierung die Verantwortung nicht auf sich nehmen wollte – oder vielleicht aus einem letzten Rest von Schamgefühl – trat sie heute vormittags zurück. Darauf hat der ehemalige Proletarier Korn die Kabinettsbildung übernommen.

RUFE. Schmach!

KAFFKA. Das ist einfach die Diktatur.

SCHMIDT. Dies alles – bitte zu merken – immer noch, ehe der Beschluß des Zentralarbeiterrates vorlag.[210]

HOLSEN. Ein Sozialist. Pfui Teufel!

STIMMEN. Der Beschluß? Der Beschluß?!


Höchste Spannung.


SCHMIDT. Generalstreik.


Einmütige Zustimmung.


MARTIN mit trennenden Augen. Was heißt das »Generalstreik«? Die Revolution!

SCHMIDT ruhig. Wir können es auch so nennen.


Einen Augenblick ernstes Schweigen.


SINNER. Das Manifest des Zentralrates.

RUFE. Verlesen.

TIMM. Sinner verliest die Resolution des Zentralrates.

SINNER zieht ein Dokument hervor und liest. »Der Zentralausschuß aller Arbeiterräte des Landes beschließt: Die gesamte Arbeiterschaft, soweit sie im Ausschuß der Arbeiterräte vertreten ist, tritt am 17. Dezember 12 Uhr nachts in den Ausstand.


Bewegung.
[211]

Wir fordern:

Alle politische und wirtschaftliche Macht den Arbeiterräten.

Sofortige Sozialisierung unsrer gesamten Wirtschaft, durchzuführen durch die Betriebsräte.

Entschädigungslose Enteignung von Grund und Boden sowie aller Produktionsmittel.

Abschaffung des Privatvermögens.


Ungeheure Bewegung.


Wir erkennen als Mittel zur Durchsetzung unserer Forderungen:

1. Den Generalstreik.

2. Angesichts des drohenden Belagerungszustandes, mit dem eine angeblich sozialistische Regierung das Proletariat provoziert hat, – die bewaffnete Massenaktion.


Einen Augenblick Stille, dann rasender Sturm durch die Versammlung.


Proletarier. Arbeiter und Soldaten. Unsere Stunde ist gekommen. Eine blutbefleckte Gesellschaft steht vor den Schranken des Weltgerichtes. Ihr Urteil ist bereits gesprochen, es gilt nur mehr, es zu vollziehen. Es ist zu Ende mit der Kompromißwirtschaft, zu Ende mit der Koalitionspolitik. Als der Absolutismus abgewirtschaftet hatte, haben wir ihm den Gnadenstoß gegeben. An seine Stelle aber trat Verabscheuungswürdigeres: eine Demokratie, zusammengesetzt aus Kapitalisten, die uns erwürgten, und Sozialisten, die uns verrieten. Wir haben nur einen Weg mehr: den der Diktatur. Die Massen haben sich erhoben und werden nicht ruhen, bis das Ziel erreicht ist: die Herrschaft des Proletariates.[212] Nur diese verbürgt uns die wahre Freiheit, den allgemeinen Wohlstand, das Glück der Gesamtheit. Proletarier, es wird Kämpfe kosten, Blut wird fließen. Es muß fließen. Unser Kampf ist der Kampf der Menschheit, unser Haß ist die Liebe zur Menschheit!

Soldaten, schießt nicht auf eure Brüder. Wir wollen das Ende der Kasernen, in denen eure Jugend geknechtet wird. Niemand soll mehr lernen, nach Scheiben zu schießen, um Menschen treffen zu können. Soldaten, kehrt eure Waffen gegen die, die euch heißen, auf eure Brüder, Weiber und Kinder zu schießen. Die solches befehlen können, haben ihr eigenes Urteil gesprochen. Es muß vollzogen werden.

Brüder, die Menschheit reckt sich vom Totenbette auf. Auferstehung, Brüder! Es lebe die Revolution!«


Vollkommene Stille.


MARTIN gellend. Es lebe die Revolution!

ALLE fortgerissen, bis auf Michael. Die Revolution!

TIMM nachdem wieder Beruhigung eingetreten ist. Ihr habt die Resolution gehört, Genossen. Ist eine Abstimmung nötig?

RUFE. Nein. Wir schließen uns an.

MICHAEL macht eine Geste, als ob er sprechen wollte.[213]

TIMM. Michael?


Aus der Kammer ein unterdrückter Schrei der Kreißenden Michaels Gesicht verzerrt sich. Die Menschen verstummen.


Geh, geh hinein. Du hältst es nicht aus.

MICHAEL. Ich will weiterhören.

TIMM. Wir gehen, nachdem der Streikbeschluß zur Kenntnis genommen ist, zur Besprechung unsrer technischen Aufgaben über. Hat der Zentralrat diesbezüglich Weisungen erlassen?

SCHMIDT. Einstweilen geheim. Auf das Revier sind Truppen im Anmarsch. Morgen früh dürfte ein Teil der Zechen schon besetzt sein.

SINNER erklärend. Ingenieur Thiele hat sich heute schon an die Regierung um militärische Hilfe gewandt Wir haben eine Telegrammkopie.

LEDOVSKY. Schufte!

SCHMIDT. Der Zentralausschuß betrachtet es als höchst wichtig, daß der Streik mit aller Wucht hier an Ort und Stelle ausbricht. Erstens kommt das psychologische Moment in Betracht. Durch die letzte Katastrophe erscheint es naturgemäß, daß der Funke gerade hier bei euch aufspringt. Der Boden ist für radikalste[214] Aktion am besten bereitet. Dann befindet sich auf der hiesigen Zeche die Kraftzentrale, die siebzehn Nachbarzechen, das Hüttenwerk »Union« und die Straßenbahn Netze-Gelsersdorf mit Strom speist. Bei Stillegung müssen alle diese Werke feiern, ob sie wollen oder nicht.

Korn ist uns mit seinem Erlaß ein paar Stunden zuvorgekommen. Wir müssen eventuell damit rechnen, daß die Kraftzentrale morgen früh bereits von Regierungstruppen besetzt ist und in Betrieb gehalten wird.

HESS. Das ist wahrscheinlich.

SCHMIDT. Ihre Besetzung ist für uns von entscheidender Bedeutung. In der »Union« scheint es noch Unentschlossene zu geben. Sperren wir den Strom, müssen sie sich automatisch anschließen.

VOGLER. Die Zentrale ist wichtig. Sie haben recht.

SCHMIDT. Es ist also wahrscheinlich, daß es hier zuerst zum Zusammenstoß kommt Wir müssen für den Sturm absolut verläßliche Leute haben.


Stille. Alle sehen sich schweigend an.


HESS. Für Bewaffnung wäre einigermaßen gesorgt. Wir haben seit Jahren Sprengstoffe gespart Handgranaten sind vorhanden.[215]

SINNER hastig. Wir haben heute zwei Maschinengewehre zerlegt in die Zeche geschmuggelt.

HOLSEN bedächtig. Alles in allem dürften achtzig Gewehre mit Munition aufzutreiben sein.

SCHMIDT. Gut. Die Agitation bei der Mannschaft drüben ist in der letzten Zeit so intensiv betrieben worden, daß ernsterer Widerstand nicht zu erwarten ist. Auf den ersten energischen Ansturm gehen sie über. Es wird keinesfalls viel Blut kosten. In der Stadt haben wir ganze Bataillone, auf deren Abfall wir uns verlassen dürfen. Aber wie immer – wir müssen auf drei-, vierhundert Leute zählen können, die zu allem entschlossen sind. Können Sie mir diese garantieren?


Kurzes Schweigen.


MARTIN. Ich.

SCHMIDT sieht ihn an. Ihre Energie ist lobenswert. Aber Sie sind sehr jung. Ich weiß nicht, wie weit ich Ihren Einfluß auf die Massen kalkulieren darf.

TIMM. Die Erregung ist ungeheuer.

SCHMIDT. Mißverstehen Sie mich nicht. Ich zweifle nicht, daß die ganze Zeche wie ein Mann in den Ausstand[216] treten wird. Wir sind diesbezüglich informiert. Man wird Steine werfen, vielleicht Bomben. Aber es handelt sich immerhin darum, nötigenfalls ungedeckt gegen eingebaute Maschinengewehre vorzugehen.


Schweigen.


SCHMIDT entschlossen. Genossen, ich will das Versteckenspiel lassen. Die Regierung ist uns zuvorgekommen. Das Zentralkraftwerk und sämtliche wichtigen Anlagen des Reviers sind derzeit schon von Regierungstruppen besetzt. Die Truppen sind unzuverlässig, gewiß. Aber ein erster Erfolg ist nötig. Sonst ist der Streik verloren. So steht die Sache. Ich habe mit Ihnen gerechnet. Drei- bis vierhundert Mann.


Schweigen. Bestürzung.


HESS klar. Das kann nur Einer. Michael.


Bewegung. Alle blicken auf ihn.


FABIUS. Er hat die Leute in der Hand. Mit ihm stürmen sie.

TIMM. Ja. Das ist kein Zweifel. Er bringt sie vor die Maschinengewehre.

SINNER zuversichtlich. Michael macht es.[217]

SCHMIDT zu Michael. Ich bitte Sie, uns Ihre Ansicht – –

STIMMEN. Sprich, Michael – –.


Erwartung auf allen Gesichtern.


MICHAEL wächst langsam von seinem Sessel auf. Steht aufrecht, leicht schwankend. Dann ruhig. Ich werde morgen einfahren.


Erstarrung.


MARTIN zwischen den Zähnen. Wußte es.

HESS. Michael, Bruder! Du fieberst.

MICHAEL blickt ihn mit verzerrtem Lächeln an. Ich bin gesund.

HOLSEN. Dann bist du ein Verräter.

STIMMEN. Was hat er gesagt? – Unmöglich. – Michael! – Er ist krank. – Er soll reden!

MICHAEL. Wollt ihr mich hören?

MARTIN heftig. Er ist ein Verräter. Ich weiß es.[218]

HESS UND TIMM. Sprich.

STIMMEN. Er soll reden.

MICHAEL. Brüder. Menschen.

Ihr kennt mein Leben. Es war euer. Ich will nicht Worte machen. Was ihr mir heute sagen könnt, sind immer wieder meine Worte. Ich sprach sie zu euch. Wie oft? Tag und Nacht sprach ich zu euren Herzen. Feuer warf ich in eure Herzen. Ich lehrte euch den Haß – großen, reinen Haß. Ein Geschlecht wuchs auf unter Steinen. Ich faltete seine Hände um Eisen. Ich riet euch, Sprengstoffe fingerhutweise zu entwenden und aufzubewahren für die Stunde. Ich weiß.

Ich habe euch leiden gesehen. In zwanzig Jahren – wie viele Sterbende hielt ich und schrie ihnen Trost zu. Brüllte ihnen Botschaft ins versagende Ohr, Botschaft vom Sieg.

Und mein Glaube schlug Wurzeln. Ich sah eine Jugend werden, die Augen licht vor Haß, Rebellion auf der Stirne. Mein Werk. Ich weiß.

Menschen, meine Brüder. Ich werde morgen einfahren in die Grube und meinen Hammer singen lassen im Gestein. Wie durch zwanzig Jahre.

Ich war unten im Finstern. Ich habe alles Letzte gekostet! Brot, Wasser, Öl in der Lampe. Um mich war Sterben. Der laute Berg schwieg.

Aber es waren Augen aufgeschlagen, dunkler als das Dunkel. Es war eine Stimme, stiller als die[219] Stille. Leise. Gott war. Sein Herz schlug im Takt mit meinem Herzen. Zum erstenmal.

Ich habe mit Gott gesprochen. Nun will ich morgen einfahren.


Schweigen. Der Eindruck, der von ihm ausgeht, ist zwingend.


HESS leise. Phantasiert.

MARTIN Michael ins Gesicht. War das in der gleichen Stunde, Genosse Michael, in der mein Vater – verreckte?

MICHAEL sieht ihn ernst an. In der gleichen.

TIMM ruhig. Höre, Michael, sag uns doch, was dieser Gott zu dir gesprochen hat?

MICHAEL überströmend. Gesegnet, was lebt! Wunder ohne Gleichen. In der Tiefe verschütteter Stollen noch grenzenloser Reichtum. Lauschen in sich hinein.

TIMM. Was hörst du?

MICHAEL. Das Gesetz: Liebe.

SCHMIDT gelassen. Ideologie. Tolstoi.[220]

FLÜSTERN. Wovon spricht er? Was sagt er? – Ausflüchte. – Entscheidung!

MICHAEL. Ihr müßt mich verstehen. Was ich erlebt, kann ich euch nicht zum Dogma machen. Ihr müßt euren Weg gehen. Ich weiß keinen für euch. Sucht. Wollt ihr den meinen wählen, kommt.

HENNIG. Wohin führt deiner?

MICHAEL. Ins Bergwerk. Am Morgen in den Schacht hinunter. Staub, Stein, Schlamm und Tod um mich. Nackt und schmutzig dem Ewigen gegenüber. Am Abend herauf. Sternenlicht um meine Schläfen. Das Ewige über meinem gebeugten Haupte. Ich – ein Mensch. Und etwas zu lieben versuchen. Versuchen.

HESS langsam. Das heißt kurz: nachdem du uns bis hierher gebracht hast, verläßt du uns?

MICHAEL. Ich will nicht drei- bis vierhundert Menschen vor Maschinengewehre führen!

SCHMIDT. Hören Sie eines: Ich kann mich in Ihren Gedankengang hineinversetzen. Von diesen vierhundert Mann werden vielleicht zwanzig fallen, wahrscheinlich eher weniger. Vor zwei Wochen biß eine Stichflamme[221] zweihundertdrei Menschen tot. In zwei Wochen kann sich das Gleiche wieder holen. Sind Sie bereit, diese Verantwortung zu tragen?

STIMMEN. Ja. Bist du bereit? Rede!

MICHAEL. Ich bin bereit, zu leiden. Nicht leiden zu machen.

SCHMIDT. Sie selber, schön. Und die zweihundertdrei?

MICHAEL verzweifelt. Du sollst nicht töten!

HESS erbittert. Aber getötet werden dürfen wir?

MICHAEL nach furchtbarem Kampfe. Ja. Eher.


Wachsende Empörung.


TIETZE. Das schmeckt nach Pastorengewäsch am Sonntag.

SCHMIDT. Merken Sie nicht, daß Sie einfach die Phraseologie des Christentums anwenden?

MICHAEL einfach aber stark. Christentum? Mag sein. Aber dann jenes, das in den Katakomben wuchs. Das im Dunkel empfangen[222] wurde, wie ich empfing. Sklaven kamen zusammen und drückten wunde Hände, wuschen einander Striemen aus, teilten ihr Brot. Und lernten Liebe, bauten sich auf, wurden stark.

SCHMIDT. Sie verlangen also von uns das Martyrium?

MICHAEL. Ich verlange die innere Revolu tion.

SCHMIDT. Halten Sie diese möglich ohne die andere?

MICHAEL. Versteht mich! Einmal noch, Brüder! Ich verlange von euch nur dies: Ehrt den Menschen! Blickt ihn an. Schaut doch in das Lebendige seiner Augen – und ihr werdet wissen wie ich, daß er heilig ist.

SCHMIDT. Eines noch: Verlangen Sie diese Ehrfurcht auch vor jenen, die den Fächer um zwei Tage zu spät in Gang gesetzt haben, um Ausdehnung des Grubenbrandes profithalber zu hindern? Rufe: »Ja, sprich! Antworte darauf!«. Haben Sie Mitleid mit denen im Bergwerk oder mit denen in der Aktiengesellschaft?! Rufe: »Antworte!«.

MICHAEL stark. Mitleid mit der Kreatur, nicht mit der Klasse!

MARTIN. Was haben sich die Aktionäre dieses Mitleid kosten lassen?

[223] Zugleich.

RUSCHNOW. Gekauft.

HESS bei ihm. Michael, besinn dich!

TIMM. Nein, krank.

SCHMIDT. Ein Irrsinniger oder ein Verräter!

KAFFKA sachlich. Ich glaube, wir haben keine Zeit mehr, zu debattieren. Ich frage den Genossen Michael, ob er bereit ist, seinen Einfluß im Sinn des Manifestes zu gebrauchen oder nicht?

MARTIN ihm ins Wort fallend. Wir fragen den Genossen Michael, ob er morgen unsere Leute zum Sturm, auf die Kraftzentrale führen wird oder nicht?!

LEDOVSKY ebenso. Wir fragen den Genossen Michael, ob er den Streik brechen will oder nicht?!

ALLE. Antwort!!

MICHAEL leise. Ich habe geantwortet.[224]

SCHMIDT kalt. Dann dürften wir verloren sein.

RUSCHNOW. Mit Verrätern wird nach Revolutionsrecht verfahren.


In alle Gesichter ist ein drohender Ausdruck gekommen.


MICHAEL öffnet ohne jede Pose das Hemd über seiner Brust. Verfahrt. Ich fürchte nichts.


Aus der Kammer ein langer, furchtbarer Schrei.


MICHAEL fährt zusammen und sieht irren Blicks nach der Kammertür.

TIMM ist aufgestanden und zu ihm getreten. Michael. Drinnen wird ein Mensch geboren. Dein Kind.


Michael wendet ihm schwer sein Gesicht zu.


Michael. Wir wollen morgen hinausgehen, für dein Kind einen Platz in der Welt suchen. Für alle Kin der. Eine Wiese. Über die nicht Kohlenschwaden kriechen. Grünes mit reinem Himmel darüber. Einen Garten, in dem es spielen kann. Dein Kind mit allen Kindern. Hier ist das Gras spärlich und rußig. Michael, wer hat uns von dem Garten für unsere Kinder gesprochen? Wer hat uns gelehrt, uns nach Wiesen für unsere Kinder zu sehnen? Wo soll denn dein Kind schlafen, Michael? Bei euch in der Kammer? Wenn es größer wird – vier, fünf Jahre alt – soll es zusehn, wie ihr euch[225] paart? Du hast es sicher bei deinen Eltern gesehn, wir haben es alle gesehn bei unsren. Oder hier in der Küche? Im Geruch von Speise und Spülwasser? Michael, wir wollen den Kindern reine, gelüftete Schlafsäle bauen. Gut ventilierte mit einfachen, federnden Eisenbetten. Wer hat uns denn von den Schlafsälen erzählt und der reinen Wäsche? Michael, ich verstehe, was du von der Liebe sagst. Ich bin alt genug geworden, nach etwas Liebe zu verlangen. Aber du weißt doch, wie wenig Zeit wir haben. Nun wollen wir uns Zeit verschaffen, um unsere Kinder etwas lieben zu lehren. Was glaubst du, Michael, wird es uns gelingen?

Es hängt von morgen ab. Und es hat sich so gefügt, daß es in deine Hand gegeben ist, was aus deinem Kind, was aus unsren Kindern werden soll. Du, der mit Gott gesprochen hat, glaubst du an Zufall?

Michael, sieh uns an. Ich habe sechs Kinder, Heß drei, der vier, der dort sieben, eins starb ihm gestern, nicht?


Ein neuer, doch gedämpfter Laut aus der Kammer. Er klingt wie Freude.


Und du hast ein Kind.

MICHAEL bricht qualvoll schluchzend zusammen. Ich kann – nicht – töten –!

TIMM über ihn gebeugt, stark. Nicht töten! Zeugen! Leben schaffen![226]

MICHAEL. Ein Weg –!

TIMM. Dort durch die Kammer. Zukunft.

MICHAEL blickt in inbrünstigem Ringen um sich. Tiefstes Schweigen. Zeichen! Zeichen, Gott! Meine Schwäche ringt zu dir.


Schweigen.


ANNA tritt aus der Kammertür. Auf ihrem häßlichen Antlitz seltsame Verklärung. Ein Kind ist uns geboren, ein Knäblein ist uns geschenkt.


Stille. Die Männer sind aufgestanden. Einer, der die ganze Zeit seine Mütze aufbehalten hat, nimmt sie verlegen ab. Unsichere Blicke auf Anna und Michael.


MICHAEL das Antlitz emporgehoben, als horchte er. Hört ihr nichts?

EINER am Fenster stehend. Schnee stiebt herab.

FABIUS verlegen. Ein Knabe, ein Sohn? Das ist gut.

MICHAEL macht ein paar Schritte gegen die Kammertüre. Dann wendet er sich zu den Männern. Mit euch.


Vorhang.


Quelle:
Hans Kaltneker: Dichtungen und Dramen. Berlin, Wien, Leipzig 1925, S. 187-227.
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