Dritter Akt

[227] Der gleiche Raum. Gegen Morgen. Streifen von Dämmerung. Spuren der Versammlung: ein paar umgestürzte Teegläser, vom Platz gerückte Stühle, Zigarrenasche und Stiefelschmutz auf der Diele.

Michael in dem Sessel vorn wie zu Beginn des zweiten Aktes. Ellbogen auf die Knie gestützt, Gesicht in die Hände gelegt.


ANNA tritt aus der Kammer, die Türe behutsam hinter sich schließend, geht leise zu Michael und sieht ihn eine Zeitlang an. Schlafen.

MICHAEL hebt den Kopf. Das Kind?

ANNA. Auch. So still. Ein kleines Wunder. Von einem Stern gefallen. An alle Märchen glaubt man, sieht man solch Wesen.

MICHAEL unruhig. Du meinst, es wird leben?

ANNA. Natürlich. Gute acht Pfund schwer. Das Leben selbst.

MICHAEL. War's hart? Sie litt?[228]

ANNA. Ach was! Das ist Geschenk. Alles Lebendige wächst aus Leiden. Wer denkt daran? Schmerzt es die Erde, wenn sie birst im Drange des Wachsenden? Sind wir anderes? Ewigkeit wurzelt nur in unserem Blute.

MICHAEL. Wahr. Alles Ewige. – Und du selbst? Vergib die Frage. Daß du nie geboren hast, an der alles Mutter ist?

ANNA. Michael, meine großen Kinder, du kennst sie. Wer besser als du? Soweit die Schlote den Himmel säumen, wohnen sie. Horch hinaus. Über das finstere Land stöhnt ihr Schlaf. Ich höre ihren Atem fliegen, gehetzt fliegt ihr Atem, nicht ruhig und gelöst, ihr Puls jagt im Takt des Tages, sie werden ihn nicht los in der Nacht. Ewig Tag und Nacht gleicher, besessener Rhythmus. Horch nur, in meinem Herzen hämmert es mit. Arbeit.

MICHAEL. Liebst du sie so?

ANNA still. Ja, ich liebe sie wohl.

MICHAEL. Du bist nicht eine von unseren. Ich weiß, du kommst von den – Herren. Erwuchst bei ihnen. Warum kamst du zu uns ins Bergwerk?

ANNA. Ach – ich kam! Ich mußte eben kommen. Was kann ich dafür, daß mein Herz schwerer und[229] schwerer wurde mit jedem Tag meiner wachsenden Jugend. Bis es untersank und Grund fand, tiefsten Grund. Meerdruck über mir. Die anderen Herzen spielen weiter auf der Fläche.

MICHAEL. Und haßt du nun die anderen? Von denen du weggingst? Die oben blieben? Spielend?

ANNA. Hassen? Nein. Wie könnte ich? Ich kenne sie doch.

MICHAEL. Willst du mir nicht von ihnen sprechen? Ich bitte dich darum.

ANNA verwundert. Du hast es früher nie verlangt.

MICHAEL. Heute.

ANNA nachdenklich. Laß mich denken. Es ist lange her. Schlecht sind sie nicht, – nein, das kannst du mir glauben. Du mußt nicht meinen, daß es sie freut, sehen sie uns leiden. Viele läßt es nicht einmal gleichgültig. Die meisten wissen es übrigens gar nicht und die es wissen, haben oft nicht gute Nächte. Nur daß es ihnen so leicht gemacht ist, es immer wieder zu vergessen. Sie haben so vieles erfunden, nicht daran denken zu müssen. Und schließlich haben sie sich auch daran gewöhnt, von vornherein eine gewisse Gerechtigkeit in allem anzunehmen, – nicht aus[230] Bosheit, nein, weil sie es einfach so brauchen. Natürlich ist das erklärlich: wem es gut geht, der ist immer geneigt, sich vorzustellen, daß es ihm mit Recht gut geht. Was täten wir, denke, wenn wir nicht ebenso vom Gegenteil überzeugt wären? Vom Unrecht, das auf uns Druck übt? – Schlecht sind sie kaum, – man ist nicht schlecht, wenn man satt ist. Seltener zumindest. Nur daß die Opferkraft verbraucht ist in ihnen. Verlange kein Opfer von ihnen, sie werden es nicht leisten können. Denn gut, – gut sind sie wohl auch nicht.

MICHAEL. Aber sprichst du ihnen damit nicht ihr Urteil? Sie könnten doch gut sein. Nichts wehrt ihnen Güte. Nichts an Liebe ist ihnen versagt.

ANNA. Wer sagt dir das?

MICHAEL heftig. Sie haben Zeit. Sie können empfangen und geben im Überfluß. Sind sie krank, pflegt man ihrer, bringt Blumen an ihr Bett. Ihrer Traurigkeit ist Musik geschenkt, Bücher wissen ihnen Antwort auf alle Fragen. Ihre Körper sind rein vom Bade, wenn sie sich geben. Ihre Kinder, nicht getragen in Angst um verschmachtenden Zeuger, nicht geworfen mitten unter Männern, denen der Haß von vierzigtausend anderen auf der Stirne brennt, – wachsen auf – in Gärten, in gelüfteten Schlafzimmern, reinen Betten. Knospende Blicke ruhen auf dem Frieden geweißter Wände.[231]

ANNA. Ach, Michael, – darauf kommt es vielleicht nicht so sehr an.

MICHAEL. Nicht? Doch nicht? – Worauf denn? Was denkst du davon, Anna?

ANNA einfach. Sieh, Michael, – es kommt wohl nur auf die Liebe an.

MICHAEL erregt. Anna, was du jetzt sagst, – das habe ich vor vier Stunden, als du da drinnen einer halfst, die in Wehen lag, diesen allen zugeschrien! Sie haben mir erwidert: Gib unsren Kindern Garten und Himmel, Bett und Haus, gib uns Zeit für unsere Kinder – und wir wollen lieben.

ANNA. Und du?

MICHAEL senkt das Haupt. Mir wurde ein Kind geboren. Ein Schrei flog an mein Herz, eine Stimme sprach. Weihnacht war. – Ich will meinem Kinde Bett und Haus, Wiese und Himmel geben.

ANNA. Tu es, Michael. Die oben haben gegessen und sind satt und müde geworden. Von ihnen ist nichts mehr zu erwarten. Sie waren Früchte, die Südsonne hatten, und sind reif und faul geworden. Erntetag ist da. Beschattete wollen ins Licht, Hungernde[232] wollen gesättigt werden. Sättige sie. Aber vergiß nie mehr, daß der Mensch nicht allein vom Brote lebt.

MICHAEL in tiefster Bewegung. Wovon lebt der Mensch, Anna?

ANNA. Früher hat einer, an den Versuchung trat wie an dich, gesagt: »Vom Worte Gottes.« Ich glaube, es sollte heißen: »Vom Worte des Menschen.«

MICHAEL. Aber sprachen es Menschen nicht, das Wort? Zweitausend Jahre lang?

ANNA bedeutungsvoll. Vom fleischgewordenen Worte, Michael. Laß es Fleisch werden in dir, Tat. Sei es.

MICHAEL ihre Hände fassend. Oh, Anna, Anna, – warum warst du nicht bei mir, als ich zu ihnen sprach? Du hättest verstanden. Was sage ich, du hättest mir erst Wort geliehen. Was in mir gärt, was ich vom Tode empfing in meiner Sterbenacht unten, – dir sprach es das Leben. Aus reinerer Quelle schöpftest du. Besser weißt du es als ich, in dem alles dumpf und ungeformt treibt. Du hättest mir geholfen.

ANNA. Ich weiß nicht, ob ich dir geholfen hätte.

MICHAEL. Du hättest müssen. Denke, um was es geht.[233]

ANNA. Ich denke nicht ganz wie du jetzt, Michael. Ich glaube an die Notwendigkeit des Kommenden. Wer gibt uns das Recht, unsre Brust ihm entgegenzustemmen? Mag sein, daß du dem letzten Sinn all dieses näher gekommen bist als ich – in jener Nacht, in der dir Ewigkeit anbrach. Ich bin zu sehr mit der Erde verbunden. Mit der Erde, die Korn trägt für den, der nicht baut, und Steine für den Ackernden. Ja, der Mensch lebt nicht allein vom Brote, ich weiß. Aber verachte darum das Brot nicht, Michael. Ich kann nicht sagen, ob ich dir geholfen hätte. Meine Kinder draußen – jetzt fallt der Schlaf langsam und schwer von ihren Augen, sie strecken frierende Arme, starren in bitteres, graues Licht – sind mir zu nahe. Blutsnahe. Ihre Zeit ist gekommen, Michael. Durch die Welt geht ein Klirren zerbrechender Ketten. Sie steigen hinauf. Gräber bersten. Ich höre Drommeten, Michael. Ich höre den Tritt donnernder Millionen.

MICHAEL. Über Blut, Anna. Schmerzgeschrei Zertretener.

ANNA. Ja. Michael. Aber ich glaube, auch hier ist ein Gesetz. Darüber hinaus, ja, wir müssen darüber hinauskommen. Aber erst dies: Erst müssen Hunger und Brot zu einem Ausgleich kommen in der Welt.

MICHAEL. Es ist ein Schichtwechsel, Anna. Es gibt kein Vorwärts, wo Leichen sich stauen. Blutiger Schichtwechsel! Andere werden hungern. Immer wieder.[234]

ANNA. Vielleicht nicht. Gelänge ein Ausgleich – sei er mit Blut besiegelt – viel Haß würde fortan erspart in der Welt, äußerste Abgründe überbrückt.

MICHAEL. Und was träte an die Stelle des Hasses? Liebe? Nie, wo einmal Blut geflossen ist. Bestenfalls Gleichgültigkeit. Eine Welt, die vor Verdauen die Sehnsucht nach Speisung vergäße. Nein, Anna, wollen wir bauen, nicht über Schädelstätten. Nicht Blut im Mörtel.

ANNA. Wo fändest du Boden, der nicht todgeschwängert?

MICHAEL. Anna. Drinnen wächst eine Seele. Dumpf noch vom Schlaf im Blute der Mutter, dem Tode verwandter als dem Leben. Weiß nicht, daß Gott sich in ihr spiegelt Blattgeschützter Knospenschlummer.

Tausend Kinderseelen gebar diese Nacht Keine weiß vom Fluche, keine von Haß und Schmerz.

Sie führen zum Werke! Hier ist Boden. Raum zu innerer Tat. Kein Schutt, mühsam vom Grund zu räumen – kein Feind, erst zur Seite zu stoßen, um Weg zu bekommen. Hier ist alles rein, alles bereit, sich aufzubauen, zu werden, besser zu werden.

ANNA. Baue, Michael. Aber vergiß nicht an Garten und Himmel, Bett und Haus für das Kind. Und schaff dir Zeit![235]

MICHAEL jubelnd. Ich brauche sie nicht! Nicht mehr. Das Wort! Fleischgewordenes Menschenwort. Ich kaufe meinem Kind nichts, das fremdes Blut bezahlt. Mein Wort, mein armes Wort soll Fleisch werden, liebende Tat. Zeit? Ich brauche sie nicht. Man liebt oder nicht. Ich liebe. Ist Liebe Spiel für Feierstunden? – – Ich will mein Kind ins Bergwerk führen – in die tiefsten Stollen – und ihm sagen: Horch. Und was ich vernahm nach vierzig Jahren Alterns, im tiefsten Dunkel, in äußerster Stille, wird es hören beim ersten Male, im Donnern des Berges, im Schrei der Äxte: Ewig gut alles Lebendige.

ANNA. Und dein Kind, wenn es aufwächst im Bergwerk, dem Erdkern näher als dem Himmel, glaubst du, es wird gut werden?

MICHAEL. Vielleicht nicht. Vielleicht noch nicht. Oh es kommen Rückschläge: Gier, Hunger, Empörung. Ich weiß. Aber es wird besser sein, im Ganzen ein wenig besser als ich. Denn siehst du, manchmal – nicht sehr oft, ich weiß – aber manchmal als Mann wird sein Gedächtnis zurück zu Augen finden, die über seiner Kindheit schienen, mild und ewig in Güte. Und dann wird es doch selbst ein Kind haben – und das, das vielleicht – –. Nein, auch das noch nicht. Aber einmal.


[236] Ganz leise.


Einmal steigt der Erlöser aus dem Bergwerk. Der Heiland aus Schachttiefen, aus wundem Stein – kohlenbestaubt die Füße, schwarz und schmutzig Hände und Antlitz. In den Augen die Liebe. Die vollkommene Liebe. Hörst du, Anna – vollkommene Liebe. Nicht wie ich, nicht wie mein Kind.

ANNA. Und dann, dann, Michael?

MICHAEL ruhig und heiter. Ich weiß nicht. Ich glaube, dann stirbt kein Mensch mehr in der Welt.

ANNA. Michael, wie seltsam du aussiehst. Was ist in deinen Augen?

MICHAEL lächelnd. In meinen Augen? Die sind immer entzündet vom Kohlenstaub. Das ist so bei uns Bergleuten.

Vergiß nicht, Anna. Nicht Brot noch Wein, Fleisch oder Früchte. Nicht Kleider aus Seide, laues Bad. Nicht Garten und Haus, Wiese und Himmel. Nicht Feierstunden, nicht Schlaf am Morgen. Alles haben die oben, von denen du kommst. Und die Liebe haben sie nicht. Seltsam, Anna, wie? – Und wir haben sie auch nicht. Woher sollten wir sie haben? Nun gehen wir, das alles für uns nehmen. Sind wir nicht im Recht? Sie haben lange genug geschwelgt, nun kommen wir, nicht? Die Tafel ist bereitet. Werden wir die Liebe lernen oben an der Tafel? Glaubst du, Anna?[237]

Nein, die Liebe wird erst geboren. Im Bergwerk wird sie geboren werden. In jedem von uns erzeugt und geboren. Einmal, Anna. Sie wird.

Vergiß das nicht. Ach, zu wem sprech' ich! Du weißt es ja besser als ich. Hast du mir's nicht erst klargemacht?

Wenn ich jetzt gehen muß, vergiß auch nicht, es meinem Kinde zu sagen. Nein, du brauchst nichts zu sagen. Besser nicht. Liebe es nur, Anna. Verstehst du?

ANNA. Ich will's versuchen, Michael.

MICHAEL einen Augenblick zögernd. Ob Wanda es verstehen wird?

ANNA. Sie wird. Sprich selbst zu ihr.

MICHAEL. Du kannst es besser, ich weiß. In ihr ist Kraft. Ein starker Kern. Schmilz ihn. Ich muß noch zu vielen Sprechen. Wendet sich zum Gehen.

ANNA. Es ist nicht deine Zeit, Michael. Noch nicht.

MICHAEL. Ihr Verkünder.

ANNA. Sie reißen dich nieder. Du fällst.

MICHAEL. Auferstehungstag bricht an. Röte von Himmeln in meinen Augen. Er ist an der Tür.[238]

ANNA. Willst du sie nicht mehr sehen – Wanda und das Kind?

MICHAEL zurückgewandt. Schlafen. Nicht stören. Guter Schlaf.

ANNA in den Knien. Michael! – – – Dein Reich – komme.

MICHAEL leuchtend. Kommt. Das Reich. Die Kraft. Die Herrlichkeit!


Verwandlung.

Feld, nach allen Seiten offen. Unendlicher Ausblick auf das ganze Revier. Am Horizont Konturen von Schloten (rauchlos, erstarrt) Vordergrund rechts ein umgestürzter Förderwagen. Schmutziggrauer Schnee. Kaltes Frühlicht. Nebelrauch.

Im Hintergrund eine schwarze unübersehbare Menschenmasse, einzelne Gesichter nicht zu unterscheiden, in dumpfer, drohender Ruhe. Im Vordergrund um den Karren Schmidt, Sinner, Heß, Martin und ein paar andere Streikleiter.

Äußerstes Tempo.


MARTIN eben angekommen, atemlos. Auf starken Widerstand gefaßt machen! Eben gekundschaftet. In der Nacht fünfhundert Mann herein. Dreihundert allein in der Kraftzentrale. Verbarrikadiert. Maschinengewehre, Minenwerfer.

SCHMIDT. Wie angenommen. Stimmung bei unsren Leuten?[239]

HESS. Kein Mann eingefahren. Alle Betriebe stehen. Zusammenrottungen.

SINNER Geste. Sie sehen.

SCHMIDT. Weiß man, wieviel Militär aufgeboten?

SINNER. Wir haben zweihundert mitgeteilt. Genügt. Erbitterung reißend.

SCHMIDT. Für Verbreitung des Manifests gesorgt?

HESS. In der Nacht über zweitausend Exemplare hergestellt. Gehen von Hand zu Hand.

SCHMIDT. Zustimmung?

SINNER. Rausch. Irrsinn.

SCHMIDT. Werden sie losgehen?

HESS. Michael.

SCHMIDT. Läßt warten.

MARTIN. Nicht mehr nötig.

HESS. Noch sechs Minuten laut Verabredung.[240]

SCHMIDT. Überzeugt von seiner Zuverlässigkeit?

HESS. Fieber gestern. Nachwirkung der Krankheit.

SCHMIDT. Wenn sie anhielte?

HESS. Lassen Sie ihn die Massen spüren. Ruck ihrer Leiber, Aufblitz ihrer Stirnen. Sein Blut schleudert ihn vorwärts.

MARTIN. Wie immer! Er verdirbt nichts mehr. Überschätzung seiner Macht Ihrerseits.

SCHMIDT. Sie glauben, auch ohne ihn?

MARTIN. Über ihn, wenn es sein muß. Ich bürge. Sehen Sie. Hier sind Schranken gefallen. Das Element selbst.

SCHMIDT. Wäre es so! Ich bin unruhig. Der Mann schien entwurzelt.

HESS. Ohne Michael – nie! Er hat Prophetisches in Geste und Blick.

MARTIN. Zukunft ist da. Wir brauchen keine Propheten mehr. Sehen Sie![241]

SINNER bedenklich. Mag sein. Der Ansprung scheint gesichert. Aber dreihundert Mann hinter Barrikaden – mit Maschinengewehren –!

MARTIN. Eine Welle fetzt Barrikaden in Splitter. Glaubt!

SCHMIDT. Handgranaten verteilt?

HESS. Den Verläßlichsten.

EIN STREIKLEITER tritt hastig auf.

SINNER. Nachrichten.

STREIKLEITER. Meldung vom Bahnhof. Eisenbahn, Post, Telegraphen ruhen.

RUFE. Bravo. Gut so.

STREIKLEITER. Soldaten versuchen, einen Kohlenzug ablaufen zu lassen.

SCHMIDT. Und?

STREIKLEITER. Drohende Haltung der Leute, Zusammenstoß unmittelbar bevorstehend.[242]

SCHMIDT. Kein Zug geht ab. Wenn nötig, Schienen aufreißen.

STREIKLEITER. Gut. Ab.

SINNER. Es geht vorwärts.

SCHMIDT ungeduldig. Die Kraftzentrale! Dort liegt Entscheidung. Alles andere nebensächlich. Noch läuft Strom durch die Drähte.

MARTIN. Vertrauen Sie mir den Sturm.

SCHMIDT. Noch Geduld. Wir müssen sicher gehn.

MARTIN. Mein Kopf bürgt Sieg.

SCHMIDT. Er wiegt nicht genug.

MARTIN. Verdammnis! – Sie werden sehen, was kommt. Ich war unten mit ihm in entscheidender Stunde. Gleiches Erlebnis hat mich entflammt, ihn überwunden. Er ist fertig. Über ihn!

SINNER unruhig. Zeit. Höchste Zeit! Unruhe in der Menge.


Man hört »Hoch«- und »Vivat« rufe näherkommen, anwachsen, zum Sturm werden.
[243]

HESS. Michael.

SCHMIDT. Endlich.

MARTIN. Entscheidung.

SINNER. Sie tragen ihn.


Ekstase, Sturm.

Die Menge, Michael auf den Schultern tragend, flutet aus dem Hintergrund vor. Ungeheurer tobender Jubel.


DIE MENGE. Michael!! Revolution!! Hoch die Revolution!!


Die Masse hält vor dem Karren. Es gelingt Michael, sich von den Schultern der ihn Tragenden auf den Karren zu schwingen, den die Menge jubelnd umringt. Er steht oben, drei Köpfe über allen, blickt um sich.


DIE MENGE. Michael! Führ uns! Hoch Michael!!


Er macht ein Zeichen, daß er zu reden wünscht.


RUFE. Stille. Michael redet. Hört Michael.

HESS frohlockend. Er hat sie. Zwei Worte – dann Sturm.

RUFE. Hört Michael. Hört.


Es tritt einigermaßen Ruhe ein.
[244]

MICHAEL Stimme aus Erz. Genossen! Brüder!

Es ist Revolution!

Man hat mich erwählt, in dieser Stunde zu euch zu sprechen. Man hat mir gesagt: »Die alle hier im Bergwerk kennen dich. Die alle glauben dir. Die alle werden dir folgen. Sag ihnen also, sie sollen Gewehre auf den Rücken laden, sie sollen Handgranaten packen, sie sollen Messer zwischen die Zähne nehmen, sie sollen Steine aufheben zum Wurfe. Sag ihnen, dort, hinter Balken und Gemäuer verschanzt, stehen Soldaten. Diese Soldaten sind Satelliten einer verräterischen Regierung. Daß der eine oder andere vielleicht ihr leibhaftiger Bruder oder Sohn ist, tut nichts zur Sache. Sie sollen auf diese Soldaten schießen wie diese auf sie schießen werden. Sie sollen ihre Leiber mit Ekrasit zerfetzen und sich selbst von Ekrasit zerfetzen lassen. Das ist der einzige Weg zur Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Das sollst du ihnen sagen, Michael!«


Die Menge ist zuerst der Rede begeistert gefolgt und nach jedem Satz in phrenetische Hochrufe ausgebrochen. Allmählich merken einzelne, daß in Michaels Worten ein noch unverstandener Unterton mitschwingt. Die Rufe ebben ab, betroffenes Schweigen greift um sich.


Soll ich es tun, Genossen? Nein. Ich will ein Anderes. Ich will euch ein Anderes sagen.

Brüder, ihr kennt mich wirklich. Ein Leben haben wir gelebt. Wer von euch trüge Schwielen, die ich nicht trage? Wer von euch litt, was ich nicht gelitten habe? Vor vierzehn Tagen wurde ich im[245] Bergwerk verschüttet. Eurer Hilfe danke ich, daß ich bin. Haltet euch dies alles vor Augen, wie es vor meinen steht. – So will ich zu euch sprechen: Ruhig wie ich's in ruhigeren Tagen tat. Wer von euch kam nicht zu mir, hing Not über ihm, an Seele oder Leib? Heute muß ich zu euch kommen. Meine Seele ist in Not. Anderes werdet ihr hören, als ihr verlangt Aber wenn ihr mir glaubt, heute – wie ihr mir immer geglaubt habt, werdet ihr meine Botschaft anhören.

RUFE. Sprich, Michael. Wir wollen hören. Was hast du uns zu sagen?

VEREINZELTE RUFE. Wozu Worte? Zum Schluß!

HESS. Was ist das?

MARTIN. Verrat.

SINNER. Was tun?

MICHAEL noch um einen Ton stärker, mit aufgehobenen Armen. Genossen! Brüder! Menschen!

Was ich euch zu sagen habe, ist kurz. Die Revolution ist da. Am Ende dieser Viertelstunde sollen die ersten Schüsse fallen. Wißt ihr, was das heißt? Die Soldaten, auf die ich euch feuern heißen soll, sind unsere Brüder.


Betroffenes Schweigen. Einzelne Zurufe: »Was sind sie? Weißgardisten!« Von da an langsam steigernde Opposition.
[246]

Die vom Weibe Geborenen haben einen Namen: »Mensch«. Wir sind Menschen.


»Tiere sind wir! Geschundene Tiere!«.


Ihr seid keine Tiere! Dies, was ich in euch wecken will. Menschen seid ihr, unglückliche, hungernde, verdammte Menschen, aber Menschen! Was wollt ihr nun werden? Wozu rüstet ihr euch mit Haß? Das Reich, in das ihr eingehen wollt, worauf wollt ihr es gründen? Auf anderer Menschen Blut und Gebein? Ich sehe Waffen in euren Händen. Ist das der Anfang der Erlösung.


»Freiheit! Freiheit!«.


Könnt ihr frei sein, gebunden an Schuld? Mord auf der Stirne? Blut an den Händen?


»Über uns! Über uns und unsere Kinder!«.


Nein!! Nicht über unsere Kinder! Über die nicht! Was wollt ihr tun an den Kindern? – Haben wir nicht miteinander gesprochen, hundertmal, tausendmal? Was wollten wir denn? Nur das Kapital aufteilen? Essen, trinken, huren? War es nicht anderes?


»Habt ihr gehört? Er spricht für das Kapital!« Vereinzelte Rufe: »Nieder!«.


MARTIN. Gut so. Er ist ein toter Mann.

MICHAEL mit äußerster Kraft. Gut werden wollten wir! Gute Menschen! Nicht Herren – Brüder! Ist dies der Anfang? Brudermord am Beginn? Wollt ihr morden, um erben zu können?!


»Wer riet uns den Anfang? Wer war es?!«.
[247]

Ich! Ich weiß es. Straft mich! Rächt euch an mir! Aber hört auf mich! Noch einmal!


»Nicht weiter! Verrat! Er ist gekauft!« Pfiffe.


Was ich euch lehrte, war falsch! Steht ab von Gewalt! Verflucht der Mord! Heilig das Leben.


Gellender Aufschrei: »Wessen Leben?!« Pfeifen und Johlen.


Alles Leben! Ein Weg nur: Abtun den Haß. Ausbrennen das Böse in uns selbst! Erneuerung in Liebe! Brüderlichkeit!


Wildester Ausbruch: »Gegen Aktionäre und Weißgardisten!!«.


Gegen Menschen!! Alle Menschen!! Liebe!! Eure Kinder lehren! Geht zu den Kindern – –!


Martin hat einen Schuß gegen ihn abgegeben. Er bricht nieder. Plötzliche Erstarrung.


MARTIN den Revolver hochhebend. Genossen! Unten im Bergwerk ist mein Vater verreckt. Ich habe von ihm essen wollen vor Hunger. Folgt mir!!


Ein einziger rasender Aufschrei aus allen Kehlen. Er stürzt ihnen voran. Hintergrund rechts. Die Masse drängt ihm nach, erst tumultuarisch ungeordnet, dann langsam von selbst sich formierend, endlich in Achterreihen und Gleichschritt. Aus dem tobenden Geheul ballt sich langsam die Marseillaise und schlägt flammend zum Himmel auf.

Michael hat sich auf dem Karren noch einmal aufgerichtet und umfaßt mit seinem Blick den ungeheuren Zug.

Tief im Hintergrund marschiert in geschlossenen Reihen, taktmäßig donnernden Schrittes das Heer der Proletarier zum Sturm. Die »Marseillaise« und das »Lied der Arbeit« branden immer von neuem aus ihren Mündern empor. Rote Fahnen bauschen sich riesig über ihren Häuptern.

[248] Michael steht aufrecht. In seinem Antlitz ist ungeheures Licht, sein Mund schreit ein Wort, das im Dröhnen des Marsches untergeht. Sein ausgestreckter erhobener Arm beschreibt eine große Geste, deren Sinn ist: »Weiter. Darüber hinaus.« Dann bricht er zusammen.

Entferntes Knattern von Maschinengewehren. Der Gesang bricht ab, der stampfende Rhythmus der Menge bleibt unverändert. Durch zerreißende Nebelfetzen bricht rote Wintersonne. Der endlose Zug marschiert schweigend weiter über die Szene.

Vorhang.


Quelle:
Hans Kaltneker: Dichtungen und Dramen. Berlin, Wien, Leipzig 1925, S. 227-249.
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