Die dritte Szene

[130] Polizeiwache, im ersten Stock. Dienstraum. Mit Matratze des Gendarmen. Links anstoßend die Kommandantenwohnung. Rechts zwei geöffnete Fenster.

Sonntag morgen.


GENDARM sitzt brütend da.

ANNAS STIMME durch die offenen Fenster herauf. Ein seidenes Kopftuch? Einen schönen Schal? – Gehn S' a bissel her, Frau Nachbarin! – – – –

JAKOBS STIMME. – – – – Geschäft, Leutche, Geschäft! Es sin nur noch e Paar Hose da. – Gleich fängt der Gottesdienst an ... da müßt ihr bete geh! – Und nachm Gottesdienst kriegt ihr keine mehr. Da gibts'n annern schönen Artikel. – – – –


Stimmen – – – –.

Musik von Ferne. Näher kommend, Pistolenschüsse, Böller, Glockengeläute, der Festzug. Übrigens ... der fünfte Musikant soll noch immer nicht gesund sein. Macht nichts.


GENDARM steht auf und schließt das Fenster.


Frau Kommandant, hinter ihr Heinrich, treten ein.


KOMMANDANTIN mürrisch. So, hier herein. Da ist dein Herr Schandarm ...

GENDARM zu Heinrich. Was willst du?

HEINRICH. Pscht ...

GENDARM. Was willst?

HEINRICH artig und listig zugleich. Frau Kommandant ... Ich bin ja sonst Student. Heut helf als Kaufmann dem Vater ich. Und ... hab auch sonst kein Zeit. – – – – Ich muß den Herrn Schandarm unter vier Augen sprechen.

KOMMANDANTIN voller Haß. Der Rotzbub!

GENDARM sieht sie groß an. Laß ihn! Geh hinaus![131]

KOMMANDANTIN ab, die Tür hinter sich schließend.

HEINRICH ungewöhnlich laut; mit Blicken nach der Tür. Ich führe auch ein Tagebuch. Und seit gestern kommen Sie drin vor. Leiser. Das sagt ich nur so – so, damit die nicht noch an der Türe horcht. Übrigens führe ich wirklich Tagebuch. Ja ... Sehr laut. Das Geschäft? Oh danke! Sehr zufrieden! – – – Zieht einen zusammengefalteten Zettel heraus, leise. Von Innozenz ... Sie gab mirs gestern abend. Sehr laut. Empfehl mich, empfehl mich, Herr Schandarm! Steht in der geöffneten Tür. Kämpft. Wird übermannt. Dicke Tränen. Und ... nun ... die Anzeig ... von meinem Vater ... die nehmen Sie zurück?? Entspringt.

GENDARM starrt lange auf den Zettel. Legt ihn hin.

KOMMANDANTIN tritt wieder ein, vorschützend. Ich geh in die Kirche. – – – – Sie bleiben da?

GENDARM. Ja.

KOMMANDANTIN häßlich. Warum magst du mich nicht mehr? – Was hab ich dir denn getan??

GENDARM antwortet nicht.

KOMMANDANTIN ab.

GENDARM liest wieder den Zettel. Legt ihn wieder hin.

KOMMANDANT kommt nach einer Weile. Geht umher. Er trägt das Eiserne Kreuz. Er möchte gern fragen, ob seine Frau zur Kirche ist. Endlich redet er. Es kommt aber nicht so heraus, wie ers möchte. Er muß sich nach dem ersten Satz räuspern. Wir ... wir haben uns gestern abend noch ... beraten. – Der Apotheker nimmts auf sich, mit Ihnen zu reden. Da verlegt er sich auf ein anderes Thema und erlangt dadurch von Satz zu Satz mehr den alten dienstlichen Ton. – – – – Und ... was die Sache mit dem oder den Mördern des Forstassistenten anbelangt, so sieht man es an höherer Stelle nicht gern, daß dem heute noch nachgespürt wird. – Hab ich Ihnen das übrigens noch nicht gesagt? Noch nie? Das gehört mit zu Ihrer Instruktion! Verstanden!? – Vielleicht kennt man an höherer Stelle den Mörder ... Zum mindesten! ... und das längst! ... genauer wie Sie! – Die[132] Sache kam damals einem offenen Aufruhr gleich. Die Sache soll niedergeschlagen bleiben ... so wie sie ist! Verstanden!? – – – – Und ... na ich hoffe bestimmt ... daß der Apotheker und Sie ... in einer ganz gewissen andern Sache ... ebenfalls – – – – Nach hinten. Ja? – – – – Zum Gendarm. Der Apotheker ... Ich bin so lange unten auf dem Markt ... Ab.


Apotheker tritt nach einer Weile ein. Sonntagsanzug.


GENDARM springt auf. Schreit, indem er durch die Fenster deutet. Jetzt ist Kirche! Jetzt darf nichts verkauft werden! – Selber müßt ich mich anzeigen, wenn ich mich jetzt Ihnen verkaufen wollte!

APOTHEKER mit einer gewissen Würde. Was heißt denn verkaufen? Ja was heißt denn das, daß »Sie sich jetzt selber verkaufen sollen«?! – Wer sagt Ihnen denn das? – Sie würden sich doch nur selber verkaufen, falls ich etwa gekommen wäre, um Ihnen zu sagen, daß wir andern etwas wie ein Verein sind, der etwa meinetwegen ... meinetwegen wie Innocentia heißt und daß wir gestern in einer außerordentlichen Versammlung beschlossen haben, daß Sie, Herr Schandarm, jetzt in unserm Verein als aktives Mitglied aufgenommen werden sollen? – Ja, wenn ich darum gekommen war und Sie auf die Mitgliedschaft eingehen würden, dann könnte man davon reden, daß Sie sich verkauft hätten, verraten und ausgeliefert – – – oder gar etwa als Ehrenmitglied – wie? – ohne jeden Monatsbeitrag – – – – Aber deswegen bin ich nicht gekommen. Nein, nein, nein. Um Sie zu bestechen – Sie mit dem Angebot einer aktiven oder gar Ehrenmitgliedschaft zum Schweigen zu bringen – dazu bin ich nicht gekommen. Daß Sie nicht zu unserm nicht eingetragenen und deshalb strafbaren Verein gehören, das sollen Sie ruhig vor uns voraushaben.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Ich bin vielmehr gekommen, um Sie etwas zu fragen, das wir von Ihnen denken müssen und doch nicht glauben wollen – – – Na kurz: ich bin gekommen, um Sie zu fragen, obs wirklich[133] wahr ist, daß Sie nun endlich offen mit Anzeige drohen? – Lassen Sie uns ruhig darüber reden –! – Daß Sie nun endlich offen mit Anzeige drohen, trotzdem oder vielleicht grade weil Sie seit gestern abend beim Stemplinger so ziemlich alle, aber auch so ziemlich alle Waffen aus der Hand gegeben haben und nur noch eine besitzen, die sich aber im Grunde gegen Sie selber kehrt – – – –

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Hm??

GENDARM schweigt.

APOTHEKER. Wie meinen Sie??

GENDARM schweigt.

APOTHEKER. Was??

GENDARM schweigt.

APOTHEKER. So zeigen Sie uns doch an?

GENDARM. Das ... tu ich!!

APOTHEKER. Also wirklich??

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Schau mal an?!

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Nachdem Sie das bestimmt vorhaben, uns anzuzeigen, sind Sie wohl nicht der Meinung, daß wir dann frei ausgehen werden ... wie? Im Gegenteil. Da sind Sie doch wohl der Meinung, daß der Kommandant dann zum Beispiel auf der Stelle ... ganz zu gleicher Zeit mit Ihnen ... davongejagt wird? Und mir? Mir die Konzession der Apotheke entzogen wird? Der Braumeister entlassen? Der Lehrer ... na, der erst! Und der alte Zirngibl seiner Ehrenstellung als Hauptmann der Freiwilligen Feuerwehr enthoben wird? Ja? Na sicher! – Sie sehen, ich nehme überall das Schlimmste an, das Sie dabei annehmen können! – Wenn Sie uns also anzeigen, dann – dann fliegen Existenzen, Ämter und Ehrenstellungen nur so! Wie? Dann ist ein ganzer Marktflecken an Ehre und Ansehn so ziemlich bankrott? Auf Jahre vielleicht. Und vier oder fünf ... sieben oder acht Familien zerstört? Von Grund auf! – – – –[134] Sagen Sie mal, glauben Sie, daß das dann so ist? Ja?

GENDARM. Ja.

APOTHEKER. Und – wollen Sie das?? Können Sie das wollen??

GENDARM. Nein ... Aber was geht mich das an? Das kann ... nebenher ... wohl der Fall sein. Ich will es eigentlich nicht ... aber ... nur ...

APOTHEKER. Nur ist das sozusagen eine Begleiterscheinung, wollen Sie sagen?

GENDARM antwortet nicht.

APOTHEKER ohne viel Spitze. Das wissen Sie nicht, Mit dem Ton auf nicht. – Kleine Pause. – was das ist? Eine »Begleiterscheinung« ist also ... wenn Sie uns anzeigen ... eingesperrt täten wir natürlich deswegen nicht werden ... ist also ... wenn Sie uns anzeigen ... daß wir dann, ohne eingesperrt zu werden, dennoch alle ins tiefste Unglück kommen. Nicht?

GENDARM. Ja.

APOTHEKER. Und das, sagten Sie soeben, wollten Sie selber nicht? Das wäre nicht Ihre Absicht? Das käme ... nur nebenbei so ... von selber?

GENDARM. Ja. Ob das aber so kommt oder nicht ... das soll mir gleich sein ... das ist mir gleich. Anzeigen ... anzeigen tue ich es deswegen doch!

APOTHEKER wird ungeduldig und spitzig. Vielleicht ist es Ihnen doch nicht so ganz gleich, wie Sie da sagen. Denn sonst täten Sie ... mit Rücksicht auf diese Begleiterscheinung ... die Anzeige doch wohl unterlassen.

GENDARM denkt angestrengt nach. Es ist eine verteufelte Sache mit diesem Apotheker. Der redt fast wie ein Staatsanwalt oder Verteidiger. Endlich. – – – – Nein. Damit fangen Sie mich nicht. Ich laß mich nicht mit solchen Fragen fangen. Sie sind ... gegen mich ... ein studierter Mann; aber deswegen fangen Sie mich mit so etwas doch nicht.

APOTHEKER schwenkt, ein wenig absichtlich, vom Thema ab. – – – So. Ja ... aber ... wenn Sie es deswegen nicht tun ... dann müssen Sie doch einen andern Grund haben?[135]

GENDARM vorsichtig-trotzig. Nun natürlich! Hab ich auch!

APOTHEKER. Darf ich fragen ... was für einen?

GENDARM. Das sag ich nicht.

APOTHEKER. Wie?

GENDARM. Das ... sag ich natürlich nicht!

APOTHEKER. Ich denke aber, soviel müßten wir Ihnen doch wenigstens wert sein, daß Sie uns den Grund sagen!

GENDARM. Wieso? Das brauch ich doch nicht! Der Grund, den ich hab, der ist und gilt doch nur für mich und braucht für ander Leut nicht zu gelten. – Wenn ich als Schandarm jedem Landstreicher oder Bettler genau meine Gründe auseinandersetzen müßte –

APOTHEKER. Landstreicher oder Bettler? – Na aber hören S', Herr Schandarm. Ein Landstreicher oder Bettler, da ists doch ganz was anders! – Einen Landstreicher oder Bettler verhaften S' und zeigen S' doch net aus – Eifersucht an? Läßt das Wort fallen, wie eine halbseidene Dame ein Taschentuch fallen läßt, auf daß es der hinter ihr gehende Herr, die Wurzen, aufhebt.

GENDARM lacht gequält. Eifersucht?

APOTHEKER. Nun ja, das ist doch Ihr Grund.

GENDARM. Eifersucht?

APOTHEKER. Sie wollen – – – – – die Innozenz ganz allein für sich haben.

GENDARM stumm.

APOTHEKER. Sie wollen um keinen Preis, daß sie nicht noch uns andere hat ... den Kommandanten, mich, den Braumeister, den Lehrer, na und schließlich auch noch den alten Zirngibl ...

GENDARM scharf. War das so unrecht, wenn ich das um keinen Preis wollte?

APOTHEKER sieht ihm offen ins Gesicht. Nein. Aber – – – was haben Sie für ein Recht dazu? Sagen Sie mir um Gottes willen – was haben Sie für ein anderes Recht dazu als wie – – – als wie dies bißchen Notizbuch, das Ihnen vorschriftsmäßig-blöd zwischen dem vierten und sechsten oder dritten und fünften Knopf Ihres Waffenrocks steckt?[136]

GENDARM. Wenn ich kein anderes Recht dazu habe, dann habe ich wenigstens immer noch dieses Notizbuch.

APOTHEKER bezwingt sich, wenn auch mit sichtlicher Mühe. Es gelingt ihm nur vorerst nicht ganz. Dieses Notizbuch! – Dieses Notizbuch, das – das ist wohl Ihr Wappen, was? Das ist das Bündel mit dem Beil, das die ... die Liktoren ... aber was verstehen Sie von Liktoren! – – – – Dieses Notizbuch, das nennen Sie »von Gott und Gesetz wegen«, was? – – – – Nur glaub ich nicht, daß weder »Gott« noch »Gesetz« allzusehr mit Ihnen zufrieden sein dürften! – – – Mir scheint nämlich, daß Ihnen Ihr Notizbuch ein bißchen gar zu sehr am Herzen liegt – grad als ob Ihr Herz und Ihr Notizbuch ein Geschäftchen miteinander machen möchten. – – – – – Passen Sie nur auf, daß es Ihnen dabei nicht geht als wie demselbigen kleinen Kind mit dem scharfgeschliffenen Rasiermesser. Erst jetzt gelingts ihm ganz. – – – – – – Also – – – – also – – wenn wir nun täten, was der junge Lehrer gestern in unserer Versammlung vorgeschlagen hat? Nämlich, der junge Lehrer, der hat gestern in unserer Versammlung vorgeschlagen, wie das wohl wäre, wenn wir Ihnen die Innozenz freigeben würden? Nun ja doch, die Innozenz ist absolut nicht an uns gebunden ... und der Lehrer meint, Sie versuchten all das vielleicht nur mit uns, damit wir Ihnen helfen, die Innozenz zu Ihnen herüberzubringen? Wenn ... wenn Sie sie also ganz allein hätten? Was glauben Sie, was da würde? – Überrumpelt ihn, wie er ein überraschtes Gesicht macht. Das ist aber komisch! Ich hab von gestern abend bis zu diesem Augenblick mehr als in einem gerade über diesen Punkt nachgedacht – und Sie noch nicht, Sie selber noch gar nicht im geringsten. Denn das seh ich Ihnen an. Das sieht man doch! – Also ... denken Sie mal darüber nach! Und was glauben Sie ... Sie würden sie also heiraten ... was glauben Sie, daß das würde? Nun??

GENDARM schweigt.

APOTHEKER. Wie meinen Sie? Ich kenne die Innozenz besser wie Sie. Glauben Sie das?[137]

GENDARM ihm fällt der Zettel ein. Mag sein ...

APOTHEKER brutal. Also ... so heiraten Sie sie doch!?

GENDARM geht vorsichtig umher. Er ist im wahrsten Sinn des Wortes in die Enge getrieben. Und dann der Zettel. Er bleibt zuletzt in einer Ecke stehn.

APOTHEKER wie mitleidig. Mensch, Mensch, Mensch –

GENDARM starrt zu Boden.

APOTHEKER wieder ganz sachlich. Rekapitulieren wir ... Erstens die Begleiterscheinung, die ... die ... die ... die ans Unmenschliche grenzt. – Bitter. Was Begleiterscheinung ist, hab ich Ihnen bereits erklärt. Soll ich Ihnen jetzt auch noch erklären, was unmenschlich ist?

GENDARM. Wenn Sie auch meinen ... aber für so dumm brauchen Sie mich doch nicht halten. Ich hab Ihnen schon gesagt, daß mich das nichts angeht. Das ist eben das Gericht. Wenns zur Verhandlung kommt. Das ist die Verhandlung.

APOTHEKER. Ah ... das »Gericht«, Herr ... Herr Notizbüchel! »Wenns zur Verhandlung kommt«! »Das ist die Verhandlung«! Kleine Pause. – Wie oft soll ich Ihnen denn noch sagen, daß die Begleiterscheinungen genau dieselben sind, auch wenn uns das Gericht freispricht? Und das Gericht würde uns ... nicht zuletzt Ihretwegen ... mehr oder weniger freisprechen. Das Gericht müßte uns sogar freisprechen ... und trotzdem würde der Kommandant – gleich hinter Ihnen – davongejagt werden; trotzdem mir die Konzession der Apotheke entzogen; trotzdem der Braumeister entlassen; und der Lehrer – na der erst; und trotzdem der alte Zirngibl seiner Ehrenstellung als Hauptmann der Freiwilligen Feuerwehr enthoben werden. – Sie reden fortwährend vom »Gericht«, verschanzen sich fortwährend hinter »Gerechtigkeit« – nur um zu verdecken, daß Sie nix wie den Skandal wollen!

GENDARM starrt.

APOTHEKER. Erstens also die Begleiterscheinung, die ans Unmenschliche grenzt. Zweitens – wenn wir Ihrer Eifersucht Ja sagen – Ihre Ehe mit einem Weib, das Sie zum mindesten[138] nicht kennen. – Kleine Pause. Sehen Sie sich die unglückliche Ehe des Kommandanten an, die seit Sie hier sind, eine noch siebenmal unglücklichere geworden ist. – – – – Übrigens – warum schreiben Sie das nicht in Ihr Notizbuch – wenn Ihr Notizbuch so ... so objektiv ist, wie Sie sich anstellen, Herr Schandarm? – – – – Sie haben den Kommandanten ... Sie allein ... wenn wir uns schon allein auf diesen Standpunkt stellen wollen ... mit viel mehr Unrecht betrogen als wir Sie alle miteinander mit Innozenz ... Ich ... begreife Sie einfach nicht – – – –

GENDARM steht immer noch in der Ecke.

APOTHEKER. Oder ... ja ... ich begreife Sie! Ich durchschaue Sie ganz genau! Ich weiß, warum Sie sich hier an den Tisch gepflanzt haben und die Anzeige formuliern – – – – Sieht den offenen Zettel. Nimmt ihn, liest, und liest dann laut. »Ich hätte dich noch lange lieb gehabt – Innozenz.«

GENDARM verspielt. Der ist für mich!

APOTHEKER blitzend. Der Zettel da? Is nur gut, daß Sie mirs sagen. Denn ... er ist ja nicht adressiert. Wie könnte ich da wissen, daß er an Sie ist? Hätte ebensogut doch auch für mich gewesen sein können ... du lieber Gott ... nicht? Sie hätte Ihnen ja den Zettel auch für mich geben können? Aber ... da Sie mirs selber gesagt haben, da wird er wohl ... hm ... da dürfte er wohl an Sie ... hm ... Liest noch einmal. ›Ich hätt dich noch lange lieb gehabt.‹ Unterschrift: ›Innozenz‹. – – – – Na also ... Geben Sie die Anzeige jetzt auf? Oder aber ... geben Sie gerade deswegen die Anzeige nicht auf??

GENDARM der sich bislang an seinem Platz festhalten mußte, um nicht auf den Apotheker loszuspringen, kann sich nicht länger halten. Er springt mit einem Satz als wie ein Tier auf den Apotheker los. Und heulend. Der ist für mich, daß Sie's wissen, der ist für mich! Packt ihn an einem Arm.

APOTHEKER spannt den angegriffenen Arm aufs äußerste und stößt so den Gendarmen ein paarmal zurück. Der andere Arm hält ebenso ausgestreckt den Zettel. Beinah lustig. Das weiß ich, daß er für Sie ist.[139]

GENDARM zerrt am Arm. Den Zettel her –

APOTHEKER. Willst du erst meine Hand loslassen –


Einen Augenblick Stille. Dann diese beiden letzten Sätze noch einmal, doch so schnell aufeinander, daß sie fast gleichzeitig gesprochen scheinen.


GENDARM. Den Zettel her –

APOTHEKER. Willst du erst meine Hand loslassen?

GENDARM fährt dem Apotheker an die Kehle. Kampf. Ihr habt ihn wohl ... diktiert??


Der Zettel flattert nieder.


APOTHEKER droht anfangs zu unterliegen. Mit einem Male kriegt er Oberhand. Er ist auch von Statur der Stärkere. Nun hat er den Gendarmen an der Kehle. Würgt ihn, doch nur so weit, als es nötig ist, um sich den Gendarmen vom Leibe zu halten. Dann aber drückt er allgemach fester zu und stößt folgende Sätze in ganz kurzen Zeitabständen hervor, die aber dem erstickenden Gendarmen Ewigkeiten sein müssen. Hast du noch Luft? Gar keine mehr? Nein? Nein? Brüderle? Bürschlein? Gar keine mehr? Nicht ein bißchen? Verehrliche Staatsgewalt? Herr Notizbüchel? Plötzlich, mit einer ungeheuren Wut. Alles bisher Verhaltene scheint in einem einzigen Sturz hervorzubrechen. – – – – Und du willst einen ganzen Marktflecken in Grund und Boden – – – – Da hält er inne ... um Gottes willen nicht verraten ... er läßt los.

GENDARM taumelt. Halb ohnmächtig. Ein feiner Blutfaden über Stirn und Nase. Ist wohl wo ein Äderchen geplatzt.

APOTHEKER da ist weder Eingelerntes noch Vorsätzliches mehr. Da ist Qual, Ekel, Hölle. Aber keineswegs pathetisch, sondern bauernhaft schimpfend, lärmend. Und falls Dialekt möglich ist, mehr dialektische Färbung denn je. Bauernkerle, Quadratschädel. Stücker Holz, noch unlebendiger als wie der Wald über uns und um uns, der das Leben von draußen nicht herein – und die Dummheit nicht hinauslassen will. Was weißt du von[140] allem? Von allem nichts, das weißt du. Denken, denken, denken. Er schlägt ihn vor die Stirn. Da ist ein Kerl wie du, der kaum das Abc begriffen hat und vielleicht einmal ein kurzes Vaterunser gedankenlos auswendig gelernt hat ... aufgestellt als Auge des Gesetzes. Mit dem Brett vorm Hirn, mit dem blau und weiß angestrichenen Brett, das mit einem jeden von uns hierzuland wächst und so groß wird, daß man am End bequem den eigenen Sarg daraus machen könnt. Mir haben sies einigermaßen vom Kopf gerissen ... einmal ... weit draußen in der Welt ... Und soll keine kleine Müh gekostet haben. Und hat weh getan ... Die von der Stadt sagen nicht umsonst, gleich hinter uns war die Welt mit Brettern vernagelt. Ich hab Mitleid mit dir, grenzenloses Mitleid, sonst ... Soll ich dir die Augen aufmachen? Könnt ich dir nur die Augen aufmachen! Wenn mir einer eine Latte von meinem Zaun stiehlt, dann mag es deine Pflicht sein, den Dieb zu halten. Wenn ich mir aber – mit andern zusammen – für ein gutes Geld ein Weibwerkzeug kauf und es vor dem blinden Vorurteil so viel wie möglich versteck – und mich daran aus meiner eigenen Dumpfheit erlösen möcht ... was schnüffelst du da und steigst mir über meinen eignen Zaun? Das ist Mein ... Mein Grund und Boden. Da bin Ich Gesetz. Und pfeif auf Deinen Paragraphen, der entweder so blöd ist, daß sogar du ihn in deinem eckigen Schädel behältst ... oder den du nie begriffen. Er geht auf ihn zu. Wer ... bist ... du ... denn ...

GENDARM mit Haß. Immer noch der Stärkere. Denn nun zeig ichs erst recht an.

APOTHEKER. Warum? Doch nur, weil dir das Blut ins Maul rinnt. Auswurf du. Immer dieselbe dumme verbrecherische Boshaftigkeit, die uns allen zum Verhängnis werden soll ... und alle fünf Minuten einen andern Grund. Ach was, Paragraphen. Da hast du mal läuten hören, daß das gegen ... heute vielleicht noch ... gegen das Gesetz ist ... und nun beutest du das aus ... für dich Mensch im Operettenkostüm. Idiot. Bestie. Das müßten die Richter mal vor Augen haben. Du gehörst gesteinigt.[141] Du bist weder kalt noch warm. Pfaffen und ihr, Blüten des Bayerlands. Die einen falsch, die andern dumm. Holz alle beide. Die einen, die haben so wenig mit dem wahren dreieinigten Gott zu tun, an den ich glaube und vor dem ich mich einst ohne Gericht ganz allein zu rechtfertigen wissen werde ... als ihr mit dem Gesetz. In euern Händen kann der friedlichste Paragraph zum schlechtesten werden. Weißt du, was gut und böse ist? Nein, und woher auch sollst du das wissen? Aber was dein Vorteil ist – was? Das weißt du ... Ja. Volkes Stimme, Gottes Stimme. Warum mißachtet euch der einfachste Bauernknecht und setzt sich nicht mit euch zusammen an einen Tisch: Dem Scharfrichter tat man zu frühern Zeiten damit unrecht ... euch zu allen Zeiten recht. Da drüben ist Messe. Hier war heiligere Messe. Da drüben ist Amt und Predigt. Es wird hl. Wandlung geläutet. Da drüben ist Wandlung ... hier sollte heiligere Wandlung sein.


Sie bekreuzigen sich alle beide, schlagen dreimal an die Brust und bekreuzigen sich wieder.

Stille.

Sie messen sich.

Apotheker stößt mit dem Fuß an den Zettel, daß es zischt. Er nimmt den Zettel auf – steckt ihn in die Tasche, geht ab.


Quelle:
Heinrich Lautensack: Das verstörte Fest. Gesammelte Werke. München 1966, S. 130-142.
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