Den 22. Februar 1773.

[188] 1.


Herr! Gott! dich loben wir!

Das Herz fliegt auf zu dir!

Du Erster! Letzter! Einziger!

Du bist, wie du ist keiner mehr!

Auf alles, was lebendig ist,

Ergießest du durch Jesum Christ

Des Lebens Odem! Alles schwebt

In dir, der ewig, ewig lebt!

Du bist, du bist allein!

Du warst! wirst seyn!

Es werden ewig dein

Sich alle Wesen freu'n!


2.


Der Engel unzählbare Schaar

Bringt dir des Lobes Jubel dar!

Propheten und Apostel steh'n

Um deinen Thron, dich zu erhöh'n!

Der Herr, der Herr ist namenlos:

Singt, wer für dich sein Blut vergoß!

Aus allen Nationen nah'n

Erlößte dir sich, beten an!

Auch stammelt in dein Vater Ohr

Dein Volk dir Preis vom Staub empor!

Wo ist ein Volk, das von dir hört,

Das, Unsichtbarer, dich nicht ehrt!
[188]

3.


Des Unsichtbaren Abglanz bist,

Du bist sein Tempel Jesus Christ!

Du kamst mit Gottes Huld und Macht

Mit seinem Licht in unsre Nacht!

Du Sohn der Liebe! Liebe kamst

Vom Himmel, aller Himmel, nahmst,

Daß wir vertraulich zu dir nahn,

Die Staub-Gestalt des Menschen an!

Barmherzigkeit war jeder Schritt!

Du littest, was kein Sünder litt!

Du starbst! unsterblich eiltest du

Verklärt der Rechten Gottes zu!

Und alles war dir unterthan,

Dich beteten die Himmel an!


4.


Und nun mit eines Bruders Blick

Schaust du noch auf die Welt zurück,

Die deines Blutes Ströme trank,

Und hörst von tausend Zungen Dank!

Ja! Schau, schau unverwandt herab!

Vom Thron des Vaters auf dein Grab!


5.


Es schmachtet unser Herz nach dir!

Voll deines Preises, Herr, sind wir;

In deiner, deiner Hand nur steht,

Steht Tod und Leben! Alles geht[189]

Nach deinem Winke nur! Bewahr

Uns vor Versuchung! vor Gefahr!

Verlaß uns, unsre Zuversicht,

Im Leben und im Tode nicht;


Quelle:
Lavater, Johann Kaspar: Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst, Leipzig 1773, S. 188-190.
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