Erste Szene


[251] Der steil' Berg

Goethe. Lenz im Reis'kleid.


GOETHE. Was ist das für ein steil Gebirg mit sovielen Zugängen?

LENZ. Ich weiß nicht, Goethe, ich komm erst hier an.

GOETHE. Ist's doch herrlich, dort von oben zuzusehn, wie die Leutlein ansetzen und immer wieder zurückrutschen. Ich will hinauf.

LENZ. Wart doch, wo willt du hin, ich hab dir noch so manches zu erzählen.

GOETHE. Ein andermal.


Goethe geht um den Berg herum und verschwindt.


LENZ. Wenn er hinaufkommt, werd ich ihn schon zu sehen kriegen. Hätt ihn gern kennen lernen, er war mir wie eine Erscheinung. Ich denk er wird mir winken wenn er auf jenen Felsen kommt. Unterdessen will ich den Regen von meinem Reiserock schütteln.


Erscheint eine andere Seite des Berges, ganz mit Busch überwachsen. Lenz kriecht auf allen Vieren.


LENZ sich umkehrend und ausruhend. Das ist böse Arbeit. Seh ich doch niemand hier mit dem ich reden könnte. Goethe, Goethe! wenn wir zusammenblieben wären. Ich fühl's mit dir wär ich gesprungen wo ich itzt klettern muß. Es sollte mich einer der stolzen Kritiker sehn, wie würd er die Nase rümpfen! Was gehn sie mich an, kommen sie mir hier doch nicht nach und sieht mich hier keiner. Aber weh! es fängt wieder an zu regnen. Himmel! bist du so erbost über einen handhohen Sterblichen, der nichts als sich umsehen will. Fort! das Nachdenken macht Kopfweh. Klettert von neuem.


[251] Wieder eine andere Seite des Berges aus der ein kahler Fels hervorsticht. Goethe springt 'nauf.


GOETHE sich umsehend. Lenz! Lenz! daß er da wäre – Welch herrliche Aussicht! – Da – o da steht Klopstock. Wie daß ich ihn von unten nicht wahrnahm? Ich will zu ihm. Er deucht mich auszuruhen auf dem Ellbogen gestützt. Edler Mann! wie wird's dich freuen jemand Lebendiges hier zu sehn.


Wieder eine andere Seite des Berges. Lenz versucht zu stehen.


LENZ. Gottlob daß ich einmal wieder auf meine Füße kommen darf. Mir ist vom Klettern das Blut in den Kopf geschossen. O so allein. Daß ich stürbe! Ich sehe hier wohl Fußtapfen, aber alle hinunter, keinen herauf. Gütiger Gott so allein.


In einiger Entfernung Goethe auf einem Felsen der ihn gewahr wird. Mit einem Sprung ist er bei ihm.


GOETHE. Lenz was Teutscher machst du denn hier.

LENZ ihm entgegen. Bruder Goethe. Drückt ihn ans Herz.

GOETHE. Wo zum Henker bist du mir nachkommen?

LENZ. Ich weiß nicht wo du gegangen bist, aber ich hab einen beschwerlichen Weg gemacht.

GOETHE. Ruh hier aus – und dann weiter.

LENZ. An deiner Brust. Goethe, es ist mir, als ob ich meine ganze Reise gemacht um dich zu finden.

GOETHE. Wo kommst du denn her?

LENZ. Aus dem hintersten Norden. Ist mir's doch als ob ich mit dir geboren und erzogen wäre. Wer bist du denn?

GOETHE. Ich bin hier geboren. Weiß ich wo ich her bin. Was wissen wir alle wo wir herstammen?

LENZ. Du edler Junge! Ich fühl kein Haar mehr von all meinen Mühseligkeiten.

GOETHE. Tatst du die Reise für deinen Kopf?

LENZ. Wohl für meinen. Alle kluge und erfahrne Leute[252] widerrieten's mir. Sie sagten, ich suche zu sehr, was zum Gutsein gehöre und versäume dar über das Sein. Ich dachte: seid! und ich will gut sein.

GOETHE. Bis mir willkommen Bübchen! Es ist mir als ob ich mich in dir bespiegelte.

LENZ. O mach mich nicht rot.

GOETHE. Weiter!

LENZ. Weiß es der Henker, wie mir mein Schwindel vergangen ist, seitdem ich dich unter den Armen habe.


Gehn beide einer Anhöhe zu.


Quelle:
Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Schriften. Band 2, Stuttgart 1965–1966, S. 251-253.
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