Dritter Auftritt


[246] Sittah. Saladin.


SITTAH.

Eilt

Er doch, als ob er mir nur gern entkäme! –

Was heißt das? – Hat er wirklich sich in ihm

Betrogen, oder – möcht' er uns nur gern

Betriegen?

SALADIN.

Wie? das fragst du mich? Ich weiß

Ja kaum, von wem die Rede war; und höre

Von euerm Juden, euerm Nathan, heut'

Zum erstenmal.

SITTAH.

Ists möglich? daß ein Mann

Dir so verborgen blieb, von dem es heißt,

Er habe Salomons und Davids Gräber

Erforscht, und wisse deren Siegel durch

Ein mächtiges geheimes Wort zu lösen?

Aus ihnen bring' er dann von Zeit zu Zeit

Die unermeßlichen Reichtümer an

Den Tag, die keinen mindern Quell verrieten.

SALADIN.

Hat seinen Reichtum dieser Mann aus Gräbern,

So warens sicherlich nicht Salomons,

Nicht Davids Gräber. Narren lagen da

Begraben!

SITTAH.

Oder Bösewichter! – Auch

Ist seines Reichtums Quelle weit ergiebiger

Weit unerschöpflicher, als so ein Grab

Voll Mammon.

SALADIN.

Denn er handelt; wie ich hörte.

SITTAH.

Sein Saumtier treibt auf allen Straßen, zieht[246]

Durch alle Wüsten; seine Schiffe liegen

In allen Häfen. Das hat mir wohl eh

Al-Hafi selbst gesagt; und voll Entzücken

Hinzugefügt, wie groß, wie edel dieser

Sein Freund anwende, was so klug und emsig

Er zu erwerben für zu klein nicht achte:

Hinzugefügt, wie frei von Vorurteilen

Sein Geist; sein Herz wie offen jeder Tugend,

Wie eingestimmt mit jeder Schönheit sei.

SALADIN.

Und itzt sprach Hafi doch so ungewiß,

So kalt von ihm.

SITTAH.

Kalt nun wohl nicht; verlegen.

Als halt' ers für gefährlich, ihn zu loben,

Und woll' ihn unverdient doch auch nicht tadeln. –

Wie? oder wär' es wirklich so, daß selbst

Der Beste seines Volkes seinem Volke

Nicht ganz entfliehen kann? daß wirklich sich

Al-Hafi seines Freunds von dieser Seite

Zu schämen hätte? – Sei dem, wie ihm wolle! –

Der Jude sei mehr oder weniger

Als Jud', ist er nur reich: genug für uns!

SALADIN.

Du willst ihm aber doch das Seine mit

Gewalt nicht nehmen, Schwester?

SITTAH.

Ja, was heißt

Bei dir Gewalt? Mit Feu'r und Schwert? Nein, nein,

Was braucht es mit den Schwachen für Gewalt,

Als ihre Schwäche? – Komm vor itzt nur mit

In meinen Haram, eine Sängerin

Zu hören, die ich gestern erst gekauft.

Es reift indes bei mir vielleicht ein Anschlag,

Den ich auf diesen Nathan habe. – Komm![247]


Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 2, München 1970 ff., S. 246-248.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Nathan der Weise
Nathan der Weise
Nathan der Weise: Studienausgabe
Nathan der Weise: Handreichungen für den Unterricht. Unterrichtsvorschläge und Kopiervorlagen
Nathan der Weise: Ein dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen (Suhrkamp BasisBibliothek)
Nathan der Weise

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Reigen

Reigen

Die 1897 entstandene Komödie ließ Arthur Schnitzler 1900 in einer auf 200 Exemplare begrenzten Privatauflage drucken, das öffentliche Erscheinen hielt er für vorläufig ausgeschlossen. Und in der Tat verursachte die Uraufführung, die 1920 auf Drängen von Max Reinhardt im Berliner Kleinen Schauspielhaus stattfand, den größten Theaterskandal des 20. Jahrhunderts. Es kam zu öffentlichen Krawallen und zum Prozess gegen die Schauspieler. Schnitzler untersagte weitere Aufführungen und erst nach dem Tode seines Sohnes und Erben Heinrich kam das Stück 1982 wieder auf die Bühne. Der Reigen besteht aus zehn aneinander gereihten Dialogen zwischen einer Frau und einem Mann, die jeweils mit ihrer sexuellen Vereinigung schließen. Für den nächsten Dialog wird ein Partner ausgetauscht indem die verbleibende Figur der neuen die Hand reicht. So entsteht ein Reigen durch die gesamte Gesellschaft, der sich schließt als die letzte Figur mit der ersten in Kontakt tritt.

62 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon