Achtzehnter Brief

[316] An ebendenselben


Sie wundern sich über die Veränderung meines Aufenthalts, und beklagen sich über mein Stillschweigen. Der Grund von diesem liegt in jener; der Grund von jener aber in hundert kleinen Zufällen, die zu klein sind, als daß ich Sie mit Erzählung derselben martern wollte. So viel können Sie gewiß glauben, daß unsre Freundschaft nichts darunter leiden soll; und wie könnte sie auch? Freunden, welche einmal getrennt sein müssen, kann es gleich viel sein, welche Raume sie trennen, wann diese nur in Ansehung der Größe ungefähr eben dieselben bleiben. Machen Sie Ihre Wohnung zum Mittelpunkte, so werden Sie finden, daß ich bloß den Ort in der Peripherie geändert habe, welches in Ansehung ihrer so etwas kleines ist, daß ich mich nicht länger dabei aufhalten werde. Mein Stillschweigen wird sich auch vergessen lassen, wenn unser Briefwechsel nur erst wieder in den Gang kommt. Ich habe aber hierzu um so viel mehr Hoffnung, weil ich hier eben so viel zu tun habe, als Sie; das ist, auf der Gottes Welt nichts, ganz und gar nichts. – – Allein wie steht es mit der Kritik über den Messias? werden Sie fragen. Wo bleibt die Fortsetzung? – – Diese, glaube ich, wird wohl wegfallen. Meine Papiere sind in eine solche Unordnung geraten, daß ich die Zettel, worauf ich meine Gedanken geschrieben, schon ganze Tage vergebens gesucht habe. Lassen Sie aber sehen, ob ich mir nicht die vornehmsten wieder in das Gedächtnis bringen kann. – –

Ich war bis auf die Anrufung gekommen. Ich fand sehr außerordentliche Schönheiten darinne, und so viel ich mich erinnere, war mir nicht mehr, als eine einzige Stelle anstößig. Der Dichter bittet den forschenden Geist, die Dichtkunst mit jener tiefsinnigen einsamen Weisheit auszurüsten, mit der er[316] die Tiefen Gottes durchschauet. Erstlich schien mir das Beiwort forschend sehr unwürdig, und mit dem Prädikate die Tiefen Gottes durchschauen in vollkommnem Widerspruche. Ich glaubte, wo ein Durchschauen Statt finde, höre das Forschen auf, und das Forschen selbst könne wohl von einem endlichen Wesen, nicht aber von dem Geiste Gottes gesagt werden. Zweitens, war ich mit der tiefsinnigen einsamen Weisheit, die eben diesem Geiste beigelegt wird, durchaus nicht zufrieden. Ich konnte mich nicht enthalten zu fragen, ob der Geist Gottes erst zu Winkel gehen müsse, wenn er nachdenken wolle? Ich gab mir selbst die Antwort, daß tiefsinnig und einsam gleichwohl das höchste wären, was man von der menschlichen Weisheit sagen könne, und daß wir von der göttlichen nicht anders als nach Beziehung auf jene reden könnten. Allein aus dieser Antwort, welches doch die einzige ist, die man wahrscheinlicher Weise vorbringen kann, schloß ich eine gänzliche Unbrauchbarkeit der wahren Dichtkunst bei gewissen geistigen Gegenständen, von welchen man sich nicht anders als die allerlautersten Begriffe machen sollte. Einem philosophischen Kopfe ist schon das anstößig, daß die Sprache für die Eigenschaften des selbstständigen Wesens keine besondre und ihnen eigentümliche Benennungen hat; wie viel anstößiger muß es ihm sein, wann der Dichter diese Armut zu einer Schönheit macht, und überall seine sinnliche Vorstellungen anzubringen sucht? Den Ausdruck die Weisheit Gottes, ist man schon gewohnt, und man kann ihn, so uneigentlich, so schwächend er auch ist, nicht entbehren; durch die Beiwörter tiefsinnig und einsam aber, wird er noch weit uneigentlicher, noch weit schwächender.

Dieser Anmerkung ungeachtet unterstand ich mich zu behaupten, daß wenn der Verfasser des Messias auch kein Dichter wäre, er doch ein Verteidiger unsrer Religion sein würde, und dieses weit mehr als alle Schriftsteller sogenannter geretteter Offenbarungen oder untrüglicher Beweise. Oft beweisen diese Herren durch ihre Beweise nichts, als daß sie das Beweisen hätten sollen bleiben lassen. Zu einer Zeit, da man das Christentum nur durch Spöttereien bestreitet, wer den ernsthafte Schlüsse übel verschwendet. Den bündigsten[317] Schluß kann man zwar durch einen Einfall nicht widerlegen, aber man kann ihm den Weg zur Überzeugung abschneiden. Man setze Witz dem Witze, Scharfsinnigkeit der Scharfsinnigkeit entgegen. Sucht man die Religion verächtlich zu machen, so suche man auf der andern Seite, sie in alle dem Glanze vorzustellen, in welchem sie unsre Ehrfurcht verdienet. Dieses hat der Dichter getan. Das erhabenste Geheimnis weiß er auf einer Seite zu schildern, wo man gern seine Unbegreiflichkeit vergißt und sich in der Bewundrung verlieret. Er weiß in seinen Lesern den Wunsch zu erwecken, daß das Christentum wahr sein möchte, gesetzt auch, wir wären so unglücklich, daß es nicht wahr sei. Unser Urteil schlägt sich allzeit auf die Seite unsers Wunsches. Wann dieser die Einbildungskraft beschäftiget, so läßt er ihr keine Zeit, auf spitzige Zweifel zu fallen; und alsdann wird den meisten ein unbestrittner Beweis eben das sein, was einem Weltweisen ein unzubestreitender ist. Ein Fechter faßt die Schwäche der feindlichen Klinge. Wann die Arznei heilsam ist, so ist es gleich viel, wie man sie dem Kinde beibringt. – – Diese einzige Betrachtung sollte den »Messias« schätzbar machen, und diejenigen behutsamer, welche von der Natur verwahrloset sind, oder sich selbst verwahrloset haben, daß sie die poetischen Schönheiten desselben nicht empfinden. Besonders wenn es zum Unglücke Männer sind, die bei einer Art Leute, welche noch immer den größten Teil ausmachen, ein gewisses Ansehen haben.

Ich habe oben gesagt, daß ich hier völlig müßig bin. Es ist also kein Wunder, daß ich auf die allerwunderlichsten Einfälle gerate. Über einen werden Sie gewiß lachen, wo nicht gar mit den Achseln zucken. Ich weiß nicht, ob ich oder mein Bruder zuerst darauf kamen; wir müssen aber wohl beide zugleich darauf gekommen sein, weil wir unsere Kräfte zu Ausführung desselben vereinigten. Wir mußten es oft genug hören, der Messias sei nicht zu verstehen, und ich mußte mich oft genug auslachen lassen, wenn ich sagte, ich wollte, daß er noch ein wenig dunkler wäre. Man zeigte mir Stellen, gegen welche Orakelsprüche verständlicher sein sollten. Ich gab mir Mühe, sie zu erklären, und mußte hier und da die[318] lateinische Sprache mit zu Hülfe nehmen; da es sich denn dann und wann fand, daß man keine Mühe hatte, das in einem römischen Ausdrucke zu verstehen, was man in einem deutschen nicht verstehen wollte. Was konnte also natürlicher sein, als daß wir darauf fielen, ob es nicht möglich sei, diesen unsern gelehrten Landsleuten zum Besten, das ganze Gedichte in lateinische Verse zu übersetzen. Gedacht; versucht: und ich wollte, daß ich hinzusetzen könnte: versucht; gelungen. Wir sind schon ziemlich weit damit gekommen, und wenn Sie wollen, so können Sie ehstens eine Probe davon sehen. Ich bin etc.

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 3, München 1970 ff., S. 316-319.
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