Neunzehntes Kapitel

[326] Es mag Ende Oktober oder Anfangs November gewesen sein, als wir in Berlin anlangten. Dank den verbesserten Posteinrichtungen fuhr man jetzt nicht mehr, wie bei meiner ersten Reise, zweiundsiebenzig, sondern nur achtundvierzig Stunden von Königsberg nach der Hauptstadt; indeß Regen und Schlackwetter hatten die Fahrt unbehaglich gemacht, und auch Berlin sah mich mit den nassen verregneten Straßen, auf denen Alles unter triefenden Regenschirmen eilig vorwärts ging, nicht so verlockend freundlich an, als vor sieben Jahren, da ich die Stadt im hellsten Sonnenschein eines frischen Frühlingsmorgens zuerst betreten hatte. Ich knüpfte auch keine besondern Wünsche und Hoffnungen an diese Rückkehr in die Residenz, und vielleicht wurde ich mir grade dadurch der Wandlung, welche diese Jahre in mir hervorgebracht hatten, deutlicher als je zuvor bewußt.

Mein Vater konnte nicht lange in Berlin verweilen. Er hatte in seinen eigenen Geschäften auswärts zu thun, und übernahm es noch auf Bitten eines Schwagers, in dessen sehr verwickelten Angelegenheiten nach Hamburg zu gehen. So mußte denn, da ich nicht allein in dem Gasthofe bleiben sollte, rasch ein Unterkommen für mich geschafft[326] werden, und derselbe Schwager bot meinem Vater ein solches für mich gegen eine geringe Entschädigung an. Die Vermögenslage dieses Onkels war bei einer einträglichen Stellung, durch eine Menge von ihm verschuldeter Umstände, keine günstige, aber er hielt es für nothwendig, den Schein guter Verhältnisse aufrecht zu erhalten, und nahm noch immer eine ansehnliche Wohnung ein, so daß der Vater und ich uns der Hoffnung getrösteten, ich würde in dem Hause wohl versorgt sein. Wir hatten auch die gutmüthige und gefällige Tante, die bedeutend jünger als ihr Mann, und nur zehn Jahre älter als ich war, Beide gern und lieb, und hätte sie in dem Hause zu bestimmen gehabt, so würde sie Alles besser für mich eingerichtet haben.

Indeß mein Onkel gehörte zu den Leuten, die eine sogenannte kalte Putzstube mit Leinwand-überzogenen Möbeln für das erste Erforderniß eines anständigen Haushaltes betrachten; und wie alle Männer, die sich zu spät verheirathet haben, mochte er in seinen Gewohnheiten keine Aenderung einführen. So fror denn in dem ungeheizten Putzzimmer ein vor Jahren höchst elegantes aber äußerst unbequemes Ameublement von schwarzem Ebenholz mit Bronzeverzierungen, an welchen Jeder, der einmal darauf zu sitzen kam, sich die Kleider zerriß; daneben fror in einer ebenfalls ungeheizten Stube der schöne Kisting'sche Flügel meiner Tante, den die musikliebende Frau auf diese Weise den Winter hindurch nicht benutzen konnte, und mich fror in der schlechten Stube des in eine Kammer verwiesenen, und deßhalb gegen mich stets übellaunigen Dienstmädchens. Und das Alles nur deßhalb,[327] weil mein Onkel sich nicht an die Vorstellung gewöhnen konnte, daß Jemand in dem heilig gehaltenen Putzzimmer wohnen, oder in der Klavierstube schlafen könne. Nichts verengt das Herz und umnebelt den Verstand schneller und mehr, als die Abhängigkeit von Gewohnheiten.

Es macht mich lachen, wenn ich an jenes Winterquartier in meines Onkels Hause zurück denke. Ich hatte ein zweifenstriges, früher einmal gelb gewesenes und fast leeres Zimmer. Eine geringe Bettstelle, eine elende Kommode, zwei ordinaire, mit Wachstuch übernagelte Tische, einen kleinen Spiegel, ein paar schlechte Rohrstühle und ein aus Latten und ungebleichter Leinwand zusammengeschlagenes Gestell zum Aufbewahren der Kleider. Das war mein ganzes, oder vielmehr des Dienstmädchens Ameublement, welches mir von demselben nur mit dem größten Unmuth abgetreten wurde. In Eile und um den Raum nur einigermaßen einer Stube ähnlich zu machen, hatte die Tante weiße Rouleaux und einen Anflug von weißen Gardinen vor den Fenstern angebracht und mir eine Decke vor das Bett gelegt; aber der Abstand zwischen diesem Aufenthalte und meiner heimischen Wohnung war doch sehr groß. Ich war an eine äußerst gefällige Umgebung gewöhnt und liebte dieselbe. Wenn ich manchmal an einem der schlechten Tische saß und die alte Schwarzwälder Uhr neben dem schwarzen, stets rauchenden Kachelofen ihre schweren Pendelschläge that, wenn die Sonne, durch die weißen Rouleaux so blendend hereinschien, daß meine damals sehr leidenden Kopfnerven davon wirklich gemartert wurden; wenn ich statt meiner[328] Epheuwand, statt meiner hübschen Bilder und Statuetten, auf denen mein Auge so gern ausruhete und an welchen meine Verstimmung sich oft besänftigt hatte, nun gar Nichts vor mir sah, als die kahlen, fleckigen Wände, und die blaubeklebten Töpfe, in welchen neben dem Ofen die ganze, mir höchst widerwärtige Colonie von Mehlwürmern auferzogen wurde, die mein Onkel als Futter für seine melancholische Schwarzdrossel gebrauchte, so war ich mir ganz unwahrscheinlich in der Umgebung. Dazu kam noch, daß ich selbst diese elende Stube nicht unbeschränkt besaß. Alle häuslichen Verrichtungen, wie das Plätten und ähnliche Dinge, mußten in derselben vorgenommen werden, und da sie obenein den Durchgang von den Wohnstuben nach der Küche bildete, so war sie beständig ausgekühlt und ich keinen Augenblick vor Störungen gesichert.

Und doch fand ich mich darin, doch war ich bald mit diesem, im Grunde unerträglichen Aufenthalte ganz zufrieden, weil ich dasjenige besaß, wonach ich mich vor allem Andern gesehnt hatte. Ich war geistig ungestört mit mir allein; und wie der Kranke nach der heftigen Erregung eines Fieberanfalles kein anderes Verlangen hegt, als mit allen seinen Sinnen auszuruhen, so glaubte ich, daß mir auf der Welt Nichts fehle, nun ich mir endlich einmal selber überlassen war.

Mein Vater war sichtlich betroffen, als er mich, bei seiner Rückkehr von Hamburg, in dem mir von meinem Onkel zugewiesenen Zimmer vorfand. Es hatte allerdings Keiner von uns, weder vorher noch jemals nachher, einen solchen Aufenthalt gehabt, und er fragte mich mit seiner gewohnten Vorsorge und Güte, ob mir es nicht[329] gar zu unwirthlich sein, ob ich darunter nicht leiden würde. Da er mich aber von jeher in dem Gedanken auferzogen, daß man die Mittel wollen müsse, wo man den Zweck im Auge habe, da ich ferner auch wußte, daß die Sache nicht wohl zu ändern sei, so erklärte ich mich ganz zufrieden; und nachdem der Vater noch einige Besuche mit mir gemacht, mich ein paarmal in das Theater geführt und mich vor allen Dingen angewiesen hatte, mir für meine Stube ein Piano zu miethen, um meine täglichen Uebungen nicht zu unterbrechen, kehrte er nach Königsberg zurück, und ich hatte nun die Aussicht auf einen Winter in Berlin vor mir eröffnet.

Was ich eigentlich beabsichtigte, wußte ich selber nicht. Ich wollte mich zerstreuen, sollte mich amüsiren. Das ist aber Beides viel leichter gesagt als gethan, denn nun ich mir die Sache zu überlegen anfing, fand ich, daß man, um sich zu amüsiren, bestimmte Neigungen haben müsse, denen man nachleben, denen man Etwas zu Gute kommen lassen könne; und ich hatte weder bestimmte Neigungen, noch irgend welche bestimmte, hervorragende Kenntnisse oder Anlagen, die auszubilden mir ein Genuß gewesen wäre.

Ich wußte Mancherlei, sogar Vielerlei und Einiges davon ziemlich genau; ich hatte sehr viel und recht scharf gedacht, das war Alles recht schön, aber damit war ich doch Nichts, und damit war auch nicht viel anzufangen. Ich mußte also zusehen, abwarten, probiren, und um doch Etwas zu thun, nahm ich mit ein paar Bekannten bei einem Engländer wieder einmal einige Monate Sprachunterricht, der uns französisch ertheilt wurde, so daß wir[330] dadurch einer doppelten Uebung genossen. Ich las daneben viel, ging viel in Gesellschaft, und gewann bald einen Anhalt an einer entfernten Verwandten meines Vaters, an Frau Sophie Bloch, deren Bild ich mir mit um so größerm Vergnügen in das Gedächtniß zurückrufe, als sie und ihr Gatte mir durch viele Jahre eine lebhafte Theilnahme und vielerlei Freundliches und Dankenswerthes erwiesen haben.

Wie wir mit ihr verwandt waren, habe ich nie recht begriffen, aber sie pflegte es gern zu erzählen, daß man sie dem schönen Vater meines Vaters stets ähnlich gefunden habe, und sie legte eine so warme Zuneigung für meine Tante Simon an den Tag, daß sie schon damit mein Herz gewann. Als ich sie zuerst im Herbste von neununddreißig sah, mochte. sie nahezu sechszig Jahre zählen, man konnte das jedoch bei ihrem Anblick nicht leicht glauben, denn sie hatte sich ungewöhnlich gut erhalten, und ihre feinen Züge, ihre sehr beweglichen Mienen waren noch eben so anmuthig, als ihr Auge hell und glänzend. Man sagte, daß sie eine große Schönheit gewesen sei, und ich glaube das gern, denn noch als sechszigjährige Frau konnte sie in großer Toilette so prächtig aussehen, daß man sie nicht nur eine conservirte, sondern wirklich noch eine schöne Frau nennen mußte, wozu ihre vornehme Haltung wesentlich mit beitrug.

Diese Haltung war aber bei ihr keine bloß äußerliche, sondern der Ausdruck eines durchweg edlen und gleichmäßig ausgebildeten Wesens. Sie hatte ungemein viel gesunde Vernunft, einen klaren Verstand, einen sehr feinen Schönheitssinn, ein durch und durch wohlwollendes Herz,[331] und eine angeborne Abneigung gegen das Geringe und Gemeine. Ueberwältigende, hinreißende Wirkungen brachte sie wohl auf Andere niemals hervor; aber ich meine, daß sie Jedem einen bedeutenden und nachhaltig wohlthuenden Eindruck machen mußte, mit dem sie in Berührung kam. Es leben gewiß noch sehr Viele, die sich ihrer eben so gern als ich erinnern.

Sie war meine Landsmännin, und wie ich aus ihren gelegentlichen Erzählungen entnehmen konnte, hatte sie sich einmal in einer ähnlichen Lage befunden wie ich. Sie war dem Kreise ihrer Familie entwachsen, ohne sich verheirathet zu haben, und dann aus demselben fortgegangen, um in Berlin sich selber zu leben. Wie die meinen, so waren ihre Mittel beschränkt gewesen, indeß Berlin hatte ihr dargeboten, was sie am Nöthigsten gehabt: die Möglichkeit zu freier Bethätigung ihrer selbst, zu der auch sie in der Familie nicht gelangt war. Das alte Sprichwort: »Der Schilling gilt Nichts an dem Orte, an welchem er geschlagen worden,« hat immer noch seine Richtigkeit. Die Menschen, in deren Nähe wir aufgewachsen sind, vergessen es nicht, daß sie uns als ein Kind, daß sie uns unfertig gesehen und gekannt haben; und weil es in unserm Leben eine Zeit gegeben hat, in der sie sich uns naturgemäß überlegen oder als unseres Gleichen gefühlt, werden sie diese trügerische Erinnerung nicht los, und halten sich berechtigt und verpflichtet, uns zu hindern, zu tadeln und zu berathen, wenn wir aus eigener Kraft uns lange von dem Boden entfernt, auf welchem wir uns einst neben ihnen befunden, und einen Weg eingeschlagen, eine Entwicklung genommen haben,[332] die sie von ihrem festen Standpunkte aus weder übersehen können noch mögen. Jeder Mensch, der Etwas aus sich machen will, muß sich deßhalb nach meiner festen Ueberzeugung, in der entscheidenden Epoche seines Lebens so nothwendig von der Familienabhängigkeit frei machen, als das junge Huhn die Eierschaale von sich stößt, wenn es auf eigenen Beinen stehen kann. Der Freigewordene mag dann seine Familie wieder an sich ziehen, oder in sie zurückkehren, wenn er sein Ziel erreicht hat, und die Stellung bestimmen kann, die einzunehmen ihm angemessen ist. Wer es aber versäumte, sich einmal völlig frei zu machen, der wird diese Versäumniß um so schwerer zu bereuen haben, je bedeutender, und je mehr er von Natur zu liebender Nachgiebigkeit geneigt ist.

Frau Bloch hatte sich gegen das Ende ihrer dreißiger Jahre in Berlin mit ihrem Manne verheirathet. Er war, wie er das in guten Stunden zu erzählen liebte, als ein armer Junge mit ein paar Dukaten als einzige Mitgift in der Tasche, aus einem kleinen böhmischen Orte in die Welt gegangen, sein Glück zu versuchen. Ohne Freunde, ohne Kenntnisse, nur mit seinem scharfen Geiste und einer nicht zu ermüdenden Energie ausgerüstet, hatte er sich, während er in Berlin als Ladenbursche und dann als Lehrling und als Handlungsgehülfe diente, selbst unterrichtet und selbst in einer Weise gebildet, daß die Besten seiner Zeit ihn mit Freuden zu ihren Freunden zählten. Später war er nach Königsberg gekommen, und dort hatte er eine Liebe für die schöne Tochter seines Prinzipals gefaßt, die Anfangs nicht hoffnungsvoll geschienen hatte, endlich aber in Berlin an ihr Ziel gelangt,[333] und die Grundlage zu einer sehr glücklichen Ehe geworden war.

Durch die wechselvollsten Schicksale, durch einen ungemein großen Menschenverkehr hatte Herr Bloch sich ein sehr scharfes Urtheil und die Fähigkeit klaren Ueberblickes angeeignet. Er hatte bedeutende Vermögen erworben, verloren und wieder erworben, er war dann zum Agenten der Königlich Preußischen Seehandlung ernannt, als solcher mit großartigen Finanzoperationen betraut worden, und eben damals mit der Gründung der Anhalter Eisenbahn beschäftigt, die ganz und gar sein Werk ist. Aber wie er energisch außer dem Hause, barsch und kurz gegen Fremde, stolz und abweichend gegen Personen sein konnte, die ihm anmaßlich entgegentraten, so war er hülfreich und werkthätig, wo sich die Gelegenheit dazu darbot, und in seinem Hause hatte er offenbar nur einen Lebenszweck: das Wohlbefinden seiner Frau. Es lag etwas Rührendes in der Sorge, mit welcher er sie umgab. Er hielt sie, wie ein Kunstenthusiast das Meisterwerk seiner Sammlung. Es war ihm Nichts gut genug für sie. Sie anerkannt, geschätzt, bewundert zu sehen, war ihm die größte Genugthuung, ja die Liebe für sie war wirklich ein Cultus bei ihm, und sie machte ihn weich und gütig und liebenswürdig für alle Diejenigen, welche die Theilnahme seiner Frau in irgend einer Weise gewonnen hatten.

Beide Eheleute hatten sich durch lange Jahre in der besten Gesellschaft bewegt und die bedeutendsten Personen ihrer Zeit gekannt. Sie waren als vertraute Freunde von Zelter im Goethe'schen Hause wohl aufgenommen, und ebenso Geothe'sche Familienglieder in ihrem Hause[334] als Gäste gewesen. Sie hatten Rahel Varnhagen, Professor Gans, Heinrich Heine, die Milder, die Sontag, Hegel, die Humboldt's, und alle jene Gelehrten gekannt, welche den Ruf der Berliner Universität begründet. Herr Bloch war als ausgezeichneter Finanzmann mit den damaligen Staatsmännern unseres Vaterlandes in vielfache Berührungen gekommen, und hatte eben durch die Unternehmungen, welche ihm obgelegen, manche der deutschen Fürsten persönlich kennen lernen. Mann und Frau besaßen also einen Schatz von Erinnerungen, und daneben jene Lebendigkeit, welche den Verkehr mit der Jugend liebt und als Erfrischung anerkennt.

Die eigentliche Glanzzeit der Berliner Geselligkeit war schon vorüber, als ich zum zweiten Male nach Berlin kam. Man sprach überall noch von den Zeiten vor dem Jahre sechs, und namentlich von den Jahren, welche den Freiheitskriegen gefolgt waren, als von einer schönen Vergangenheit. Jene Zirkel, in denen man um der Unterhaltung willen zusammen gekommen war, in denen die geistig Bevorzugten aller Stände sich getroffen, und in welchen sich der Ruf der Berliner Gesellschaft, als der Ton angebenden in Deutschland, gebildet hatte, existirten nicht mehr. Der Geist des vorigen Jahrhunderts, der die Menschenrechte und die Gleichheit proklamirte, hatte die Berliner Gesellschaft erzeugt, hatte Bürgerliche, Adel, Juden, Gewerbtreibende und Gelehrte mit einander, zum größten Vortheil jedes einzelnen Standes, in Berührung gebracht, und die Noth der französischen Usurpation, die Begeisterung für die Befreiung des Vaterlandes, die Leiden und Opfer, welche Jeder für dieselbe über sich[335] zu nehmen gehabt, hatten geistig und materiell die Gleichheit und damit die Neigung zu Anschluß und Verkehr noch eine Weile aufrecht erhalten. So lange die preußischen Fürstinnen mit den bürgerlichen Damen die Sorge für die Lazarethe, die Pflege der Invaliden theilten, so lange man die verwundeten Söhne in den verschiedenen Städten dem Wohlwollen der Bürger anvertraut wußte, und alle Verhältnisse durch gleiche Noth einander angenähert blieben, so lange dauerte jene Art der Gesellschaft fort, in welcher Bildung die einzige Forderung war, die man an ihre Theilnehmer stellte. Der Friede und die ihm folgende Reaktion, hatten die Fürsten von dem Volke, den Adel von den Bürgerlichen, das Militär vom Civil getrennt. Der Gewerbtreibende hatte in Schaustellung seines Reichthums Ersatz gesucht für den Verlust des geistig befreiten Verkehrs. Die Gelehrten und Beamten, denen die Mittel zu solchem Luxus nicht zu Gebote standen, und die vielleicht nicht gern empfangen mochten, was sie nicht erwidern konnten, hatten sich in engere Kreise zurückgezogen; und da die Menschen, auf welche ein Druck ausgeübt wird, leicht zu dem unvernünftigen Verlangen kommen, an Andern zu vergelten was ihnen Böses geschieht, so gab sich die christliche bürgerliche Gesellschaft bald wieder das Vergnügen, sich ebenso von den Juden zu entfernen, wie der Adel und der Hof sich von der bürgerlichen Gesellschaft entfernt hatte.

So viel und auf so verschiedene Weise man daher auch von der Berliner Gesellschaft noch in den Provinzen zu sprechen liebte, so wenig war von ihr zu Ende der dreißiger Jahre noch vorhanden. Was davon noch[336] existirte, waren Ausläufer einer vergangenen Zeit, und ich komme auf dieselben später noch zurück. Die verschiedenen Stände waren ziemlich scharf getrennt, feste Gesellschaftsabende oder Häuser, welche den Besuchern an jedem Abende offen gestanden hätten, gab es in den bürgerlichen Kreisen wenige. Die Aristokratie hielt sich um den Hof geschaart, die Ministersoireen standen der unabhängigen bürgerlichen Gesellschaft im Allgemeinen nicht offen. Die höhern Beamten lebten das Jahr hindurch meist in genauester Beschränkung, um ein- oder zweimal im Winter eine jener ängstlich aufgesteiften, mit frostigem Ueberfluß versehenen Gesellschaften zu geben, bei denen in sonst ungeheizten Sälen die Feuchtigkeit aus den Wänden schwitzte und fremde Lohndiener sich in den Zimmern nicht zurecht fanden; und die reichen Kaufleute, Christen sowohl als Juden, gaben Bälle, Mittagbrode und Soireen, welche von hochgestellten Beamten, von Gelehrten, und von höheren und niederen Militärpersonen sehr gern, aber doch mit einer gewissen halbironischen Herablassung besucht wurden. Es war, so weit mein Blick und die Berichte reichten, welche ich von Andern erhielt, die mehr noch als ich Gelegenheit hatten, die Gesellschaft von Berlin kennen zu lernen, damals nicht anders als jetzt. Das Jahr der Revolution in Preußen, dem man gern die Schuld von allen Unbilden aufbürden möchte, von denen man zu leiden hat, fand an der Berliner Geselligkeit nicht mehr viel zu verderben und zu zerstören. Es stellte nur die lang bestandene innere Trennung der verschiedenen Klassen noch bestimmter und ehrlicher heraus, und es wird hoffentlich der Epoche einer neuen Bewegung vorbehalten sein, aus dem Gesonderten[337] das Zusammengehörende hervorzuheben und zu einer neuen Gesellschaft zu verbinden. Denn der Geist hat ein Centrum nöthig, in welchem er sich sammelt, und aus dem er durch das Zusammenströmen und Zusammenwirken Aller gekräftigt, befestigt und zur Thätigkeit erfrischt, hervorgeht.

Eines der Häuser, in welchen die alte gute Art der Geselligkeit sich so weit möglich noch erhalten hatte, war das Bloch'sche Haus. Man lebte in demselben reichlich, aber ohne Schaustellung von Luxus. Herr Bloch war mit den Weltvorgängen beständig vertraut, und nahm an der Entwicklung der politischen Verhältnisse eben so großen Antheil, als seine Frau an den Erscheinungen in der literarischen Welt. Sie lasen Beide viel, und wenn Frau Bloch mit liebevollem Eingehen ein neues Werk weitläuftig zu erörtern pflegte, so traf ihres Mannes in eine Sentenz zusammengefaßtes Urtheil oft mit äußerst komischer Schärfe, besonders wo es Tadel galt, den Nagel auf den Kopf.

Herr Bloch bewohnte damals das erste Stockwerk des Hauses Nummer fünf unter den Linden. Die Wohnung war für die kinderlose Familie sehr geräumig, indeß eine junge schöne Engländerin, welche als Gesellschafterin in der Familie lebte, und ein paar Neffen und Nichten, die fast täglich in derselben waren, belebten die Räume, und an Gästen war niemals Mangel. Ich war um mehrere Jahre älter, als das andere junge Volk, aber Frau Bloch, die gern erziehend einwirkte, und an mir noch reichlich Anlaß dazu finden mochte, nahm mich unter ihren jungen Anhang auf, und es verging keine Woche, ohne daß ich mehrmals bei ihr war.[338]

Sie und ihr Mann billigten meine Entfernung aus dem Vaterhause auf das Entschiedenste. »Du gewinnst Jugend, das heißt, Du gewinnst Leben damit!« pflegte sie oftmals zu sagen, »und Alles, woraus Du Dir zu Hause ein großes Bewußtsein machst,« fügte sie dann wohl scherzend hinzu, »sind lauter Thorheiten. Du weißt Dir zu Hause Etwas damit, allen Leuten entgegen zu rufen, daß Du achtundzwanzig Jahre alt bist, weil das Aelterwerden Deiner Geschwister Dich daran erinnert, und Du es für nöthig hältst, Deine auf Dein Alter gegründete Anspruchslosigkeit gleich von vorn herein zu konstatiren. Das ist sehr einfältig! Es dankt Dir Niemand für Dein Alter. Die Jugend ist viel liebenswürdiger an einem Frauenzimmer. Du siehst noch jung und gut aus, habe das Alter Deiner Erscheinung. Das Alter ist ein arger Feind, gegen den man sich wehren, und dem man nicht entgegenlaufen muß. Denke nicht immerfort nach Hause, sondern denke daran, daß Du Deine Stirne nicht durch unnöthiges Runzeln derselben entstellst, und vor Allem halte die Einsicht fest, daß der Einzelne seiner Familie am besten und am wirksamsten nützt, wenn er sich selber hilft, und sich selber vorwärts bringt und versorgt. Dich selbst vorwärts zu bringen, ist Deine nächste Aufgabe; an die halte Dich, und das Uebrige daran, denke, wenn Du erst selber Etwas sein wirst!«

Das war ein Zuspruch, dessen ich noch nöthig hatte, und da meine Beschützerin mich den Personen, welche in ihr Haus kamen, in wohlwollender Weise vorstellte, so fand ich mich von ihnen sehr gut aufgenommen, und[339] gewann, was ich beinahe gänzlich eingebüßt, wieder ein Gefühl von Jugendlichkeit und mit ihm Lebenslust und Zuversicht zum Leben. Nebenher fing ich, durch sie aufgemuntert, auf die Bildung meiner Sprache im mündlichen Verkehr, auf meine Haltung und auf die Beobachtung dessen, was man den Ton und die Haltung der Gesellschaft nennt, mehr zu achten an, als ich bisher für gut und nöthig gefunden hatte. Wir waren in dieser Beziehung von Hause aus leidlich geschult, aber das enge Familienleben bringt dem Menschen mit seiner Eigenart manche Unart, mit seiner Vertraulichkeit manche Nachlässigkeit, und da der Deutsche im Allgemeinen ohnehin wenig Sinn für die schöne Form in Sprache und Erscheinung besitzt, ja sogar geneigt ist, sich aus seinen Mängeln Tugenden zu machen, so hatte ich mich bis zu einem bestimmten Grade in dem billigen Glauben gewiegt, daß wir »bieder und natürlich« seien, und daß damit genug gethan wäre. Indeß es ging mir mit dieser sogenannten Naturwüchsigkeit, wie es den Meisten, ja Allen denen ergeht, die sich ihrer befleißigen: sie ließ mich im Stiche, wenn ich mich formvoll gebildeten Menschen gegenüber befand. Wo diese sich im Besitz der schönen Form völlig frei und ohne irgend ein Scheinenwollen bewegten, fühlte ich mich noch stets unfrei, und gerieth, weil sich nun das Bedürfniß, ebenfalls das Richtige und Schöne zu thun, meinem Verstande und meinem Geschmacke unwiderleglich aufdrängte, entweder in Verlegenheit oder in Ziererei, was mir Beides gleich widerwärtig war.

Meiner gütigen Freundin entging das nicht und sie bot mir eines Tages ohne meine Bitte ihre Hülfe an.[340] »Sieh wie ich es mache, und wie Frau W. und Frau M. es machen,« sagte sie, »und wenn mir Etwas an Dir störend auffällt, will ich es Dir bemerken.« Ich nahm das dankbar an, und die Erinnerungen blieben denn auch nicht lange aus. Bald war ein Ausdruck zu stark, bald zu familiär, bald nicht üblich. Heute saß ich schlecht, und morgen brauchte ich vor einem Manne, der sich mir empfahl, nicht aufzustehen. Bald war ich zu dienstbeflissen, bald nicht zuvorkommend genug gewesen; kurz, es waren lauter Kleinigkeiten, die ich nicht verstand, die ich bisher gering geachtet hatte, an die zu denken mir oftmals langweilig schien, wie es mir denn überhaupt gar lästig war, beständig über mich und mein Erscheinen wachen zu sollen. Indeß was mir Anfangs ein Zwang gewesen war, wurde mir bald geläufig und zur natürlichen Gewohnheit, und als ich nach einigen Monaten mir in dem Begegnen mit Fremden von guten Manieren nicht mehr innerlich die Frage vorzulegen brauchte: ist das was du sagst und thust, und wie du es sagst und thust, auch das Richtige? als ich mir zutrauen durfte, nicht eben etwas Unschönes oder Ungeschicktes an den Tag zu legen, da erst fing ich an, mich frei und sorglos unter Fremden, und im Vollbesitze meiner geistigen Kräfte zu fühlen. Denn wer noch damit zu thun hat, wie er sich zur Erscheinung bringt, der ist nie im Stande, sich ganz unbefangen hinzugeben, und dadurch eben so wenig fähig, das Bild eines Andern rein in sich aufzunehmen, als Andern ein wahres Bild von sich selbst zu geben. Der gebildeten und auf Convention gegründeten Form können nur große Menschen, nur jene seltenen Naturen[341] entbehren, die in sich selbst ihr Maß und ihr Gesetz besitzen. Für jeden Andern ist Beherrschung der üblichen Formen der sicherste Weg, die innere Freiheit auch äußerlich zu gewinnen und zu behaupten.

Es thut mir daher immer wehe, wenn ich es gewahre, wie häufig diese Erziehung zur guten Form bei uns versäumt wird, und es kommt mir oftmals vor, als würde es damit immer ärger und ärger, als würden die Begriffe Freiheit und Formlosigkeit immer mehr verwechselt. Ich kenne Personen, denen es höchst auffallend ist, wenn ein Schriftsteller einen nicht klassischen Ausdruck braucht, oder einen bezeichnenden Provinzialismus, oder ein selbstgeschaffenes Wort in die Schriftsprache einer lebendigen, also fortbildungsfähigen Sprache einzuführen unternimmt; Andere, die von dem falschen Accent, mit dem ein Ausländer seine eigene Sprache redet, sich unangenehm berührt fühlen, und die es doch sammt und sonders ruhig hinnehmen, wenn ihre eigene Muttersprache in ihrem Beisein in einer Weise mißhandelt wird, die gradezu der gesunden Vernunft entgegen ist. Namentlich unter den Frauen ist diese Unsitte in nicht zu entschuldigendem Grade verbreitet; und es wäre wirklich zu wünschen, daß sie auf die Zusammengehörigkeit ihrer Worte nur halb so viel Gewicht legten, nur halb so viel Achtsamkeit verwendeten, als auf die Harmonie der Farben an ihren Kleidungsstücken. Eine Schleife, die nicht zur Farbe des Kleides stimmt, ist für einen halbwege gebildeten Sinn lange nicht so beleidigend, als ein Adjectiv, das nicht zu seinem Hauptwort, ein Adverbium, das nicht zu seinem Verbum paßt, sondern demselben auf das Entschiedenste[342] widerspricht. Solche Zusammenstellungen kommen aus der Tiefe des Wesens. Sie sind unwiderlegliche Zeugnisse von Unkultur, und wirken wieder zurück, wenn sie einmal ausgesprochen worden sind. Wie mit der Sprache, so ist es aber auch mit der Haltung und mit den Manieren überhaupt. Mich jammert's, wenn ich ein schönes sauber gekleidetes Mädchen erzählen höre, daß sie sich »ganz schrecklich auf den morgenden Ball freue«. Mich jammert's, wenn ich junge Männer von edlem geistigen Streben, von tüchtiger Bildung in einen Saal eintreten sehe, ohne zu wissen, wie sie sich verbeugen, wie sie gehen und stehen sollen. Sie thun dann immer bald zu viel, und bald zu wenig. Sie nicken herablassend mit dem Kopfe wie ein Pascha, oder verbeugen sich wie ein Sclave, sie winden sich ängstlich durch die Zimmer, oder stolpern blitzschnell auf die Hausfrau zu, um sich sobald als möglich der Verlegenheit zu entreißen, mit welcher das Bewußtsein, beobachtet zu werden, sie dann zu ihrem Erstaunen erfüllt. Sie sind lächerlich auf eine oder die andere Art, und mein gutes bürgerliches Gefühl empört sich dann gegen die Eltern und Erzieher, die, weil sie selber formlos sind, ihre Kinder und Zöglinge durch Vernachlässigung einem Mangel aussetzen, welcher alle Vorzüge derselben beeinträchtigt, und dem schwächsten Kopfe, der auf einem wohlgeschulten Körper sitzt, mindestens für den Anfang ein entschiedenes Uebergewicht über jenen giebt. Der Zauber, welchen die sogenannten Vornehmen auf die andern Menschen üben, beruht auf den guten Formen, mit welchen und in welchen sie sich kund geben; und nach meiner Ueberzeugung ist es eine der[343] großen Aufgaben des Bürgerstandes und der Demokratie, sich und ihre Jugend zur guten Form zu gewöhnen, um sie an Freiheit der Erscheinung und damit an Freiheit in der Kundgebung ihrer selbst, den Bestgebildeten gleich zu machen. Man kann nivelliren, indem man das Eine erniedrigt oder das Andere erhebt; und in unserm Falle möchte das Letztere sich als das Wirksamere beweisen.[344]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 2, Berlin 1871, S. 326-345.
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