Zwanzigstes Kapitel

[345] Ich hatte noch nicht lange in Berlin gelebt, als es mir auffiel, wie verschieden das Gemeingefühl seiner Bewohner in Bezug auf die politischen Verhältnisse und die Regierung unseres Vaterlandes von dem über jene Dinge bei uns, in der Provinz Preußen, herrschenden Gemeingefühl sich kund that. Natürlich gab es an beiden Orten Männer, welche dem Gange der Ereignisse sorgfältig folgten; aber die Theilnahme an denselben war in Berlin lange noch nicht so verbreitet, wie bei uns, und man konnte Wochen hindurch in der Berliner Gesellschaft leben, ohne von jenen Vorgängen und Thatsachen sprechen zu hören, welche bei uns so sehr den Gegenstand der Unterhaltung unter den Männern ausmachten, daß die Frauen gezwungen waren, sie kennen zu lernen und sich, wenn auch nicht dafür zu interessiren, so doch mindestens bis zu einem gewissen Grade darüber zu unterrichten.

In der Berliner Gesellschaft herrschte noch eine gewisse patriarchalische Harmlosigkeit. Man sprach wohl von den Welthändeln, insofern das Königshaus und die Ansicht der einzelnen Glieder desselben dabei in Betracht kamen, aber von den Vorgängen im eigenen Lande war wenig die Rede. In der Residenz beschäftigte man sich[345] vorzugsweise mit dem Leben des Hofes, bei uns in Preußen mit den Maßregeln der Regierung. Wie fern die Kreise, in welchen ich mich damals in Berlin bewegte, dem Hofe auch standen, so waren sie doch voll von höheren Beamten, welche ganz entschieden den Ton angaben und natürlich sehr geneigt waren, Alles vortrefflich zu finden.

Bei uns war das anders. Freilich liebte man dort den König auch, und erinnerte sich enthusiastisch jener Zeiten, in welchen das fliehende Königspaar mit seinen Kindern Zuflucht in Preußen und in der damaligen Hauptstadt seiner Monarchie gesucht hatte, aber man sagte sich gleich daneben, daß jene Zeiten in Berlin vergessen, daß die Energie und der Opfermuth der alten Provinzen nicht genügend anerkannt worden sei. Man konnte oftmals den Ausspruch vernehmen, daß die Berliner es gar leicht hätten, an dem Königshause zu hängen und mit der Regierung zufrieden zu sein, da Alles für die Residenz geschehe, während die Ostprovinzen wie Stiefkinder behandelt würden, deren Klagen und Bedürfnisse man keineswegs nach Gebühr beachte. Man nannte die Summen, welche die Oper und das Ballet, die Lieblingsvergnügungen des alten Königs, in Berlin verschlangen, und berechnete, wie viel Nothwendiges damit geschehen, welchen wesentlichen Mängeln damit in den Provinzen abgeholfen werden könne; und da man sich von jeher bei uns Etwas mit dem nüchternen Sinne unserer Provinz gewußt hat, und die Kaufleute in Danzig, Elbing und Königsberg gute Buchführung zu halten gewohnt waren, so rechneten sie auch mit der Regierung, und ihre Unabhängigkeit ließ[346] sich nicht so leicht von der Meinung der Büreaukratie und des Militärs unterjochen, als es damals in Berlin geschah.

Das bürgerliche Element des Kaufmannsstandes behauptete bei uns die Herrschaft, und unsere Kaufleute, deren überseeische Geschäfte ihren Blick erweitert und sie selbst vielfach in der Welt umhergeführt hatten, sahen in jenen Tagen mit Geringschätzung auf die Bank- und Papiergeschäfte von Berlin herab, die ihnen, mit Recht oder Unrecht, weniger ehrenvoll, weniger des großen Kaufmanns würdig erschienen. Trat in Königsberg irgendwo eine Anmaßung von Seiten der Beamten oder des Militärs hervor, so fand sie sicherlich bald ihre Abfertigung, und wer ihr dieselbe angedeihen ließ, konnte der allgemeinsten Zustimmung versichert sein.

Der hannöversche Verfassungsbruch, die Entsetzung der sieben Göttinger Professoren, von denen Albrecht früher in Königsberg gewesen war, hatten eine große Aufregung verursacht. Herrn von Rochow's Hinweis auf den »beschränkten Unterthanenverstand«, der direct gegen die Elbinger Bürgerschaft gerichtet worden war, lebte als schwer empfundene Beleidigung in dem Gedächtniß der Ostpreußen, und selbst Kinder brauchten gegen einander spottend diese Redewendung, weil sie dieselbe immer und immer wieder zu hören bekamen. Vor Allem aber war man gegen die Art der Frömmigkeit eingenommen, welche in Berlin zum guten Ton gehören sollte. Nach den Erfahrungen, die man mit dem pietistischen Sektenwesen bei uns zu machen gehabt, war es nicht auffallend, wenn man jedem religiösen Scheinwesen,[347] jeder schwärmerischen überspannten Gläubigkeit und orthodoxen Tyrannei im Gebiet des Protestantismus äußerst abgeneigt und sehr begierig auf den Ausgang des Streites und der verschiedenen einzelnen Conflikte war, in welche die Regierung durch ihr Verfahren gegen den Kölner Bischof mit der katholischen Geistlichkeit gerathen war. Bei uns nahmen alle diese social-politischen Ereignisse die Geister bereits mächtig hin, während man in Berlin sich noch tief in der Ruhe dilettantischer Kunstliebhabereien wiegte.

Ich war oft ganz erstaunt darüber, welche Wichtigkeit man einer Theateraufführung, einem Concerte beilegte. Ich sah mit Verwunderung, daß Personen, die nicht selbst ausübende Künstler waren, ihren ganzen Sinn auf das Theater oder das Concert, oder gar auf das Ballet gerichtet hatten; und wenn es mir äußerst lächerlich vorkam, daß man sich über den und jenen Pas und über die Mimik und den Ausdruck einer Tänzerin, die mir bei Allen ziemlich gleich nichtssagend und conventionell abgeschmackt erschienen, mit Eifer und Begeisterung unterhielt, so machte es mir einen nicht minder komischen Effekt, das Gebahren der Musikliebhaber von Profession zu betrachten. Es waren das bisweilen ganz alte Männer. Einmal saßen in einem Concerte zwei solche eingefleischte Dilettanten neben mir. Sie hatten, wie das damals gar Viele thaten, ihre Partituren mitgebracht, und blätterten in denselben herum, während man ihnen ihre Unzufriedenheit ohne Weiteres ansehen konnte. Ich überlegte, was ihnen fehlen möge, war aber unfähig es zu ergründen. Da sagte endlich der[348] Eine: »was das nur heute wieder für eine Anzeige gewesen ist. Symphonie von Haydn aus X-dur! als ob's nur Eine gäbe!« – »Ja!« meinte der Andere, »es ist unverantwortlich! man kann sie doch nicht alle viere mit sich nehmen.« – »Welche haben Sie denn mit?« – »Die mit dem Paukenschlag! wenn's die nur wäre!« – Und als es dann wirklich »die mit dem Paukenschlage« war, da hatte der alte Herr eine Freude, daß er sich immer wieder darüber aussprach, und sie lasen nun Beide die Musik nach, als ob sie taub wären, und sahen nicht auf von den Noten, und rechts und links taktirten andere Leute mit den Köpfen, und die Leistungen der einzelnen Instrumente wurden durchsprochen, als hinge von einem falschen Tone das Heil der Welt ab. Grade so verhielt man sich auch in den Theatern, und ähnlich auch gegenüber der schönen Literatur. Die Zeiten, welche Börne so richtig mit den Worten: »Sonntag, Häring, Hofrath, göttlich!« charakterisirt, waren für Berlin noch nicht vorüber; und jene Art von Eitelkeit, welche dasjenige am höchsten schätzt, was sie selbst besitzt, machte sich in Bezug auf alle Leistungen in den Kunstgebieten und auf die Künstler selber geltend, welche, namentlich die Schauspieler, wie es mir scheint, damals mehr in der bürgerlichen Gesellschaft gesehen wurden, als das jetzt der Fall ist.

Die ganz veränderte Atmosphäre, in welcher ich mich bewegte, that mir aber wohl. Ich war mehr mit Betrachtung der Andern als mit mir selbst beschäftigt, indeß es gab dazwischen doch kaum einen Tag, an dem ich mir nicht die Frage vorgelegt hätte: was soll dir dieser Aufenthalt[349] in der Fremde? kaum einen Tag, an welchem ich es nicht empfunden hätte, wie alle diese Zerstreuung mich eigentlich nur äußerlich berührte, und im Innern nicht viel damit gewonnen war. Ein Ausspruch Goethe's der mich gleich als ich ihn zuerst gelesen, sehr lebhaft getroffen hatte, wollte mir gar nicht aus dem Sinne. Er lautete: Es ist mit der Ferne wie mit der Zukunft, unsere Empfindung verschwimmt sich darin, und wenn das Dort nun hier wird, ist Alles nach wie vor, und das Herz sehnt sich nach entschwundenem Labsal! – Wo ich auch war, was ich auch trieb, ich konnte mich nicht frei machen von Erinnerungen und Wünschen, die mich immer wieder in das alte Leidensgefühl zurückwarfen, und die mich theils unempfindlich, theils undankbar gegen das Gute machten, das sich mir darbot.

Das Jahr ging so zu Ende, das neue Jahr begann, es war Alles dasselbe, und »das Herz sehnte sich nach entschwundenem Labsal«. Mit dem Gedanken saß ich eines Abends einsam in meinem Zimmer. Es war grade ein Jahr her, daß ich Heinrich's Geständniß seiner Liebe für eine andere Frau erhalten. Onkel und Tante waren in einer Gesellschaft, ich hatte es abgelehnt, sie zu begleiten, weil ich sehr niedergeschlagen war, und mir den Zwang einer affektirten Heiterkeit nicht auferlegen wollte. Ich dachte meine Vergangenheit durch, ich suchte nach einem Punkte, auf dem ich fußen, von dem aus ich meine Zukunft erbauen konnte, und ich fand ihn nicht.

Ich hatte mich gewöhnt, mich für alt, für fertig mit dem Leben zu halten, diesen Glauben nahm man mir in meiner jetzigen Umgebung; aber wenn ich nun noch[350] jung war, wenn ich noch zehn, noch zwanzig, noch dreißig Jahre vor mir hatte, was sollte mit diesen werden? was sollte ich mit ihnen machen? Sie hinzubringen, wie die letzten Jahre, war eine Aussicht, die mir Entsetzen einflößte. Sollte und wollte ich leben, so mußte es ganz anders werden als bisher; und aus der tiefen Muthlosigkeit, welche sich meiner bei diesen Betrachtungen bemächtigte, erwuchs mir ein Widerstreben gegen längeres Leiden, erwuchsen mir der Glaube und die Gewißheit, daß es eine Thorheit, ja ein Verbrechen sei, sich dem Leide zu überantworten, ehe man nicht Alles versucht hätte, sich davon zu befreien. Zu einer solchen Einkehr in mich selbst war ich früher nie gekommen. Wenn man sich wehren, sich vertheidigen muß, um sich zu behaupten, wird man des richtigen Blickes in die Ferne beraubt, und sieht nur das Nächste, das uns dabei in der Regel über die Gebühr groß und wichtig erscheint. Zu Hause, wo ich in Bezug auf mein Verhältniß zu meinem Vetter, die Ansicht meiner ganzen Familie gegen mich hatte, weil man diese Liebe in Eins zusammen warf mit allem Uebrigen, was mich leiden machte, hätte Nichts mich bewegen können, an meine Befreiung zu denken, obschon Niemand es so gut wußte, als ich selbst, was der Briefwechsel mit Heinrich mich jetzt kostete, und wie hart es mir ankam, ihm eine Ruhe und Fassung vorzuspiegeln, von denen ich Nichts wußte, und mit denen ich ihm nur zu beweisen wünschte, daß mir für ihn Nichts zu schwer sei.

Ein Jahr lang hatte ich das nun ertragen; aber Unwahrheit, auch die in bester Absicht über mich genommene[351] Unwahrheit, aufrecht zu erhalten, das war das Einzige, was auf die Länge stets über meine Kräfte gegangen ist. Und nun kein Widerstand von außen mich zu eigensinniger Selbstverblendung anreizte, wurde der Gedanke in mir immer lebhafter: lieber ganz einsam und ganz verlassen, aber in der Wahrheit zu leben, als auf Kosten der Wahrheit in einer für den Augenblick nur künstlich erhaltenen Gemeinschaft mit dem Geliebten.

Ein heißes Verlangen mich zu erretten, mich einmal frei und leicht zu fühlen, wachte in mir auf. Ich war lebenslustiger als seit langer Zeit, ich wollte genießen, mich freuen, und ich traute mir die Fähigkeit dafür zu, nur mußte ich neue Pfade gehen. Wo diese für mich zu finden wären, von wo mir Licht und Luft und Leben kommen würden, das ahnte ich freilich nicht; aber ich wollte sie suchen, und damit mir dieses möglich würde, mußte ich mit der Vergangenheit brechen.

In gewissen Naturen bereiten Entschlüsse sich langsam vor, aber ihre Ausführung ist dann eine plötzliche und man bereut sie niemals, weil sie die Folge langer Erwägungen und langer Kämpfe ist. Und so setzte ich mich denn noch an demselben Abende nieder, und schrieb dem geliebten Manne, was ich auf der Seele hatte.

Ich sagte ihm, es gehe jetzt noch über meine Kräfte, ihn als meinen Freund zu betrachten und seine Freundin zu sein. Ein Herz, das sich ihm gegenüber beständig in Zwang und Unwahrheit verhülle, könne ihm Nichts sein. Er, das fühle ich, bedürfe meiner in diesem Augenblicke auch nicht. Es sei Mitleid, das ihn jetzt an mich fessele, nicht Nothwendigkeit, die ihn mir verbinde, und ich müsse[352] und wolle es lernen, ohne ihn meinen Weg zu finden. Ich bat ihn, meine Briefe alle zu verbrennen, und wenn das Leben uns irgendwo zusammen führe, mich zu vermeiden, bis ich selbst ihm sagen würde, daß ich ihn ruhigen Herzens, in Frieden und mit Freuden wiedersehen könne. Es sei dies das Einzige und zugleich Alles, was er für mich zu thun vermöge, und ich bäte ihn, mir selbst diesen Brief nur mit der Zusicherung zu beantworten, daß er meinem Verlangen hinsichts meiner Briefe nachgekommen sei, die ich nicht zurückfordere, weil ich mich davor bewahren wolle, sie etwa selbst zu lesen, und sie dadurch noch einmal zu durchleben.

Nach wenig Tagen erhielt ich die von mir gewünschte Antwort; und in der selbsterschaffenen Leere, die sich jetzt plötzlich grauenerregend vor mir aufthat, richtete ich mich empor, um vorwärts zu gehen.

Das war aber gar nicht leicht. Ich hatte Zeiten voll tiefer Versunkenheit, in denen ich mir wieder gewaltsam ein Interesse an den verschiedensten Dingen aufzunöthigen strebte. Das nahm jedoch höchstens meinen Kopf und einen Theil meiner Gedanken hin, und im Herzen blieb es dunkel und leer. Ich fing wieder an Verse aus dem Englischen zu übersetzen, ich besah die Gemälde- und Antikengallerien, ich besuchte Fabriken, wenn sich mir die Gelegenheit dazu bot, ich las und excerpirte, es häufte sich allerlei Wissen planlos in meinem Kopfe an, weil ich für planmäßiges Lernen und systematisches Arbeiten nicht geschult war, und ich dachte bisweilen: wozu das Alles? – Tüchtig vorgebildet, wie die jungen Männer es durch ihren Gymnasialunterricht[353] in der Regel sind, hätte ich diese Muße anders zu benutzen verstanden, und hätte mir neben einer wirklichen Beschäftigung eine Menge gründlicher Kenntnisse erwerben können, die mir später in hohem Grade nützlich gewesen sein würden.

Indessen solch ein gewaltsames Heranziehen von neuen Eindrücken hat, wie planlos es auch sein möge, doch auch sein Gutes. Sie legen sich wie ein Verband über die wunde Stelle in unserm Innern und halten uns ab, diese in jedem Augenblicke selbstquälerisch aufzudecken und zu berühren. Sie treten in den Vordergrund unseres Bewußtseins, sie drängen das früher Erlebte zurück, und wenn sie es auch nicht verschwinden machen, – denn was wir erlebten wird ein Theil von uns selbst und kehrt uns, wenn auch nur in unsern Träumen wieder, – so stumpfen die neuen Eindrücke doch die Macht des bestimmenden Einflusses ab, welchen die alten Eindrücke auf uns ausübten, und man hat deßhalb sehr Unrecht zu behaupten, daß die sogenannten Zerstreuungen sich gegen ein wahrhaftes Leid nicht wirksam beweisen. Sie thun in erhöhtem Maßstabe an uns die Arbeit der Alles besiegenden Zeit. Die Masse der neuen Eindrücke verstärken heißt die Zeit und ihre Gewalt über uns intensiv verdoppeln, und der Leidende, welcher sich geflissentlich dieser Hülfe entzieht, gesteht damit ein, daß ihm nicht darum zu thun sei, sich herzustellen, daß ihm sein krankes Dulden lieber sei als ein gesundes Thun. Es sind auch immer nur sehr egoistische Naturen, welche den Schmerz in sich zu bewahren und zu erhalten suchen, der sie von[354] dem thätigen Lieben entbindet und ihnen nach ihrer Meinung ein Anrecht giebt, geschont und ertragen zu werden.

Ich ging nach meinem neuen Entschlusse in einer Weise an das Vergnügen, die mir in der Erinnerung jetzt sehr komisch erscheint, denn ich verhielt mich dazu, und zu meinem ganzen auf etwa fünf Monate berechneten Berliner Aufenthalte, wie die Badegäste in den Brunnenorten zu ihrer Kur. Jeder Tag sollte mir Etwas leisten, meine täglichen zwölf oder vierzehn Stunden sollten mir so gewiß Etwas helfen, als die Becher Mineralwasser den Kurgästen, und wie diese sich Diät auferlegen, so legte ich mir Vergnügen und Heiterkeit auf. Dennoch hat kaum irgend eine Epoche meines Lebens mir weniger sachliche Erinnerungen zurückgelassen als eben diese. Es fällt mir mitunter plötzlich eine Person ein, die ich damals in Berlin gesehen, eine Gesellschaft bei gleichgültigen Leuten, in welcher ich mich mit Onkel und Tante befunden; es kommt mir bisweilen im Traume mein eigen Bild in einem Anzuge vor Augen, den ich damals getragen, und an den ich sicherlich nicht wieder gedacht habe, und nur wenige hervorragende Einzelnheiten aus jener Zeit stehen mir immer klar und deutlich zu Gebote.

Unter diesen zählt ein öffentlicher Ball im Schauspielhause, der, ich weiß nicht bei welchem Anlasse gegeben wurde.

Der König Friedrich Wilhelm der Dritte erschien auf demselben mit seinen sämmtlichen Söhnen in bürgerlicher Kleidung, und schon an dem Abende machten Personen, welche den König früher und in der Nähe gesehen hatten,[355] die Bemerkung, daß er verändert sei. Er trug sich jedoch noch fest und aufrecht, sah in dem braunen Frack und mit einem runden Hute noch ansehnlich und wohlerhalten aus, und sprach mit verschiedenen Kaufleuten, mit einigen Künstlern und ein paar Schauspielerinnen längere Zeit sehr freundlich, so daß man jene Bedenken und Befürchtungen über das Befinden und das nahe Ende des Königs nicht gelten lassen wollte. Man schrieb sie dem Aberglauben, oder vielmehr einem chronologischen Wunderglauben zu, welcher dem vierzigsten Jahre jedes Jahrhunderts eine besondere Bedeutung für Preußen beizulegen gesonnen war.

Leute, die sich sonst nicht eben viel mit der Geschichte und mit ihren Jahreszahlen zu schaffen machten, hatten jetzt die bedeutenden Ereignisse aus der preußischen Vergangenheit wie am Schnürchen bei der Hand. Ueberall hörte man die Frage: »Was wird dieses Jahr uns bringen?« – Und verlangte man zu wissen, weshalb es denn etwas Besonderes bringen müsse, so erhielt man die Antwort, daß seit fünfhundert Jahren die Zahl vierzig für die Dynastie der Hohenzollern, und damit auch für das Vaterland, eine entscheidende gewesen sei. Tausendvierhundertundvierzig sei der erste Hohenzollern'sche Kurfürst von Brandenburg gestorben; fünfzehnhundertvierzig seien die Hohenzollern protestantisch geworden; sechszehnhundertvierzig sei der große Kurfürst und siebzehnhundertvierzig Friedrich der Große zur Regierung gekommen, also werde dies Jahr sicherlich auch ein entscheidendes werden.[356]

Gab man sich die Mühe, gegen das Unlogische dieser historischen Logik eine Einwendung zu machen, so lautete die Antwort: der König ist siebenzig Jahre alt! – Und wenn man auch das als keinen Grund dafür gelten lassen wollte, daß er eben in diesem Jahre sterben müsse, so rückte als letztes Argument eine Chronik mit prophetischem Anhange in das Feld, die irgendwo, mich dünkt in dem ehemaligen Kloster Lehnin, aufgefunden worden sein, und noch ganz andere Dinge voraussagen sollte, als den Tod des Königs. Es war das dieselbe Chronik, die, wie man im Jahre achtzehnhundertachtundvierzig vielfach von guten gläubigen Seelen vernehmen konnte, auch die preußische Revolution vorausverkündet hatte. Schade nur, daß man an solche Wunderbücher immer nur glaubt, ohne zu versuchen, ob es mit etwas gesunder Vernunft und etwas gutem Willen nicht möglich wäre, sich gegen das prophezeite Unheil rechtzeitig zu schützen. Es giebt so viele Schriften, die, ohne heilig gesprochen zu sein, oder sich auf übernatürliche Voraussicht zu stützen, in dieser Beziehung mit sehr heilsamem Erfolg von den Glaubensbedürftigen gelesen und beherzigt werden könnten.

Berlin nimmt sich, wenn es abergläubisch wird – und das passirt ihm je bisweilen – immer äußerst komisch aus, besonders weil es in der Regel nicht die Ungebildeten sind, sondern die sogenannten Gebildeten, welche in solcher Weise von ihren Ansprüchen auf Bildung und Aufklärung abfallen. Die Ungebildeten haben nicht die Zeit, sich in Thorheiten hinein zu träumen; die Müssigen, welche sich so phantastische Vergnügungen bereiten können, und viele von den Gebildeten sind[357] müssig, schämen sich im ersten Augenblicke ihres Abfalls, aber um sich nicht allein schämen zu müssen, machen sie bald Propaganda dafür, und in der Masse fühlt dann Jeder sich sicher und berechtigt, mag er auf die Lehniner Chronik oder auf das wunderthätige Mädchen in der Fischerstraße schwören, das zehn Jahre später die wirren Phantasien der Wundersüchtigen eine Weile in Beschlag nahm, bis das Criminalgericht der Wunderthäterin ihre Mirakel untersagte, und die Gläubigen wieder für eine Weile Rationalisten wurden.

Je weiter indeß das Jahr vierzig vorschritt, um so häufiger hörte man davon sprechen, daß der König krank sei. Er kam nicht mehr so oft in das Theater, man erfuhr auch, daß er sich nie mehr bei den kleinen Gesellschaften erblicken ließ, welche sein Kämmerier bei sich veranstalten mußte, und bei denen der König dann als erwarteter unerwarteter Gast eine Weile zu erscheinen pflegte, um sich Neuigkeiten erzählen zu lassen. Die Einen sagten, der Tod des Ministers von Altenstein, seines alten und treuen Dieners und Gefährten, habe ihn angegriffen, die Andern behaupteten, er selber tenne die Lehniner Prophezeiung, und sie wirke nachtheilig auf ihn; und endlich behauptete man, die weiße Frau, die Ahnfrau des Geschlechtes der Hohenzollern, die immer erscheine, wenn ein Todesfall unter ihren Nachkommen bevorstehe, gehe bereits im Schlosse wieder umher. Es war als solle und müsse nun durchaus, der Ordnung wegen, im Jahre vierzig ein König von Preußen sterben. Man war förmlich darauf aus, Beweise dafür herbei zu schaffen, daß der König gefährlich krank sei, und das war[358] um so unbegreiflicher, als man nebenher die größte Liebe für den König, und hier und da auch eine gewisse Sorge wegen des bevorstehenden neuen Regimentes aussprechen hören konnte, von dem man ziemlich übereinstimmend fürchtete, daß es »weniger bürgerlich« als das gegenwärtige sein werde.

Indeß die Theilnahme an dem Ergehen des Königs blieb doch die Hauptsache, und es lag durch das ganze Frühjahr eine Art von Druck auf den Menschen, wie die Ungewißheit ihn zu erzeugen pflegt. Es war, ohne daß man hätte sagen können seit wann und woher, eine Bewegung in die Geister gekommen, man fing wieder an, nach einer Vereinigung in Deutschland zu trachten, und da man diese zu erreichen vorläufig keine besondern Aussichten hatte, feierte man, wo der Anlaß sich dazu bot, eben wie in unsern Tagen auch, die deutschen Heroen, deren Geist und Größe, deren Thaten und Werke dem ganzen deutschen Stamme angehörten und allen Deutschen zu Gute gekommen waren.

In diesem Sinne wurde seit Jahren an dem Kölner Dombau gearbeitet, wurde in Leipzig das Jubiläum Guttenbergs gefeiert, die neue Prachtausgabe der Nibelungen veranstaltet, und als fühle man, daß diesen Kundgebungen gegenüber in Preußen auch Etwas geschehen müsse, so wurde kurz vor dem hundertjährigen Geburtstage seines größten Königs ein Dekret erlassen, welches die Grundsteinlegung zu einem kolossalen Standbilde desselben anordnete. Aber die Theilnahme an diesem Vorgange war keine reine, denn die Besorgniß, ob der König der Feierlichkeit werde beiwohnen können, ob er sie erleben[359] werde, trat dabei in den Vordergrund, und als sich die Nachricht verbreitete, daß sämmtliche Kinder des Königs, selbst die Kaiserin und der Kaiser von Rußland nach Berlin kommen würden, sah man das mehr für ein Zeichen von dem bedenklichen Zustande des Königs, als von dem Enthusiasmus für das dem Ahnherrn zu errichtende Denkmal an.

Die Friedrichsfeier ging denn auch am letzten Mai von Statten. Das Wetter war schön, die Tribünen am Opernhause glänzend besetzt, die Parade vollständig; das Alles wurde jedoch verhältnißmäßig nur wenig in Betracht gezogen, neben der Thatsache, daß der Kronprinz hier zum ersten Male öffentlich an der Stelle seines Vaters funktionirt, und daß der König nicht mehr die Kraft gehabt hatte, dem Akte von seinem gewohnten Platze an dem Eckfenster seines Palais aus bis zu Ende zuzusehen.

Von Tag zu Tag wurden nun die Berichte über das Befinden des Königs ungünstiger, und zu jeder Tageszeit konnte man Leute aus allen Ständen in Massen vor dem Palais stehen sehen, die nach den Fenstern hinaufblickten, als könnten sie dadurch Kunde von dem Ergehen des Kranken erhalten. Diese Volksmassen mehrten sich mit den Gerüchten von der wachsenden Gefahr, und ihre Stille, ihr lautloses Ausharren gaben die große Liebe zu erkennen, welche der König bei dem Volke genoß. Kam einer der Aerzte, kam ein Beamter oder ein Diener aus dem Schlosse, so drängte man sich an ihn heran, um zu fragen, wie es stände, aber trotz der sichtlichen Aufregung blieb Alles still. Einmal, als ich grade vorüberging, bellte auf dem Platze ein kleiner Wachtelhund sehr laut,[360] und augenblicklich sprangen mehrere wohlgekleidete Personen hinzu, das Thier zu fangen und fortzubringen, damit der König Ruhe habe.

Die Pfingsttage fielen damals auf den sechsten und siebenten Juni, und wie man sich acht Tage früher gefragt, ob der König die Friedrichsfeier erleben werde, so fragte man sich jetzt: wird er das Pfingstfest überdauern? Am siebenten war ich mit meinen Verwandten um Mittag nach Potsdam hinaus gefahren. Schon bei der Abfahrt von dort erfuhren wir auf dem Perron der Eisenbahn den Tod des Königs. Als wir nach Berlin zurückkamen, war eine stille Unruhe in den Straßen zu bemerken. Eine Menge Equipagen fuhren trotz der späten Stunden noch hin und wieder. Vor den verschiedenen Schlössern hielten Wagen, die Leute standen vor dem Palais des verstorbenen Monarchen und sahen nach den Fenstern hinauf, und gingen nach dem großen Schlosse und betrachteten den Flügel desselben, in welchem der neue König wohnte. Sie hätten gern an den Mauern ablesen mögen, was darinnen geschah und was jetzt werden würde. Die Bangigkeit, welche Jeden vor einer großen Entscheidung überfällt, hatte sich des Volkes bemächtigt, und eine wirkliche Trauer über den Tod des Königs war unverkennbar. Man betrauerte ihn nicht blos wie einen König, sondern wie einen guten Mitbürger und alten Freund. Die alten Leute gedachten der Kriegsjahre und all der Noth und Fährlichkeit, welche sie mit Friedrich Wilhelm dem Dritten und er mit ihnen durchlebt. Wohin man kam, sprach man von seinen Familientugenden, von seiner Einfachheit, von seinem Privatleben. Alle Anekdoten[361] über ihn wurden mit dem größten Wohlwollen erzählt, man freute sich in der Erinnerung an der Sparsamkeit, mit welcher er sein Likör- oder Rumfläschchen selbst unter Verschluß gehalten, man freute sich an seinem alten Soldatenmantel und der alten durch lange Jahre getragenen Dienstmütze; und wenn hier und da Jemand die Bemerkung machte, daß dieser Sparsamkeit der große Aufwand für das Ballet sonderbar widersprochen habe, so konnte man sehen, daß selbst des Königs Vorliebe für dasselbe, und sein Verhältniß zu den Tänzerinnen für die Berliner eine gemüthliche Seite hatte – und im Grunde war das sehr natürlich. Um Großes gern zu bewundern, Kleines von Herzen gering zu achten, muß man selbst eine gewisse Größe haben. Den kleinen Seelen ist es eine Bequemlichkeit, da Schwächen zu finden, wo sie eigentlich verehren sollten; denn das bringt ihnen den Verehrten näher. Im Ganzen fehlte allen Menschen Etwas, nun der König nicht mehr da war. Sie hatten jenes Mißgefühl, jene Unruhe, von denen man sich ergriffen fühlt, wenn man plötzlich das Ticken einer alten, treuen, verläßlichen Uhr nicht mehr vernimmt, oder wenn ein Thurm abgebrochen wird, auf den hinzublicken man sich von Jugend auf gewöhnt hat. Der alte König fehlte ihnen. Sie konnten sich's nicht denken, daß der alte König nun nie mehr hinter seiner Gardine der Wachtparade zusehen, am Abende nicht mehr hinter dem rothen Vorhang der kleinen Loge sitzen würde. Und von dem, was der neue König thun würde, konnte man sich keinen rechten Begriff machen.[362]

Er war mehr ein Gegenstand der Neugier, als der Liebe oder gar des Vertrauens. Was man sich bis dahin von ihm erzählt hatte, waren Witze oder geistreiche Worte gewesen, von denen nachweislich viele auf seine Kosten gestellt wurden, die niemals von ihm ausgegangen waren. Von einer lebendigen Theilnahme an den Regierungsgeschäften wußte man wenig oder Nichts. Auch beschäftigten sich in diesem Augenblicke mehr die gebildeten Klassen mit der Zukunft, welche er bringen würde, als das Volk, das ganz allein auf die Trauer um den Verstorbenen gestellt war. Und so sehr hielt man diese Trauer bei Allen Denen, welche eine schwarze Tracht ermöglichen konnten, für natürlich und angemessen, daß man auf den Straßen angefochten wurde, wenn man sich derselben entzog. Straßenbuben riefen den nicht trauernden Frauen nach, sich zu schämen, es schicke sich, daß man traure. Ein andermal sah ich in der Jägerstraße eine Dame mit einem rosa Hute an mir vorübergehen, der ein paar Schüler zuriefen: »Na! Sie weiß wohl auch nicht, daß unser König todt ist, daß Sie mit Ihrem rothen Hute umherläuft!« – und zur Bekräftigung seines Mißfallens schlug der eine Knabe ihr mit seinem Bücherriemen, den er frei in der Hand hielt, muthwillig über den Kopf.

Am zehnten fand die Beisetzung des Königs und der Trauergottesdienst im Dome statt. Meine Freunde hatten mir, damit ich den Zug mit ansehen könne, einen Platz unter der Säulenhalle des Museums verschafft, und das Geschlecht der Hohenzollern gewährte damals einen gar stattlichen Anblick, als die sämmtlichen Söhne und Töchter des verstorbenen Königs, alle in der Fülle der Kraft,[363] alle groß und schön gewachsen, trauernd dem Sarge von dem königlichen Schlosse durch den Lustgarten nach dem Dome folgten. Ergreifender aber war doch der Zug, in welchem die königliche Leiche nach Charlottenburg gebracht wurde, wo sie in dem Mausoleum des Schloßgartens, das der König für seine verstorbene Gemahlin erbauen lassen, zur Ruhe bestattet werden sollte. Man hatte für den Zweck die Barrieren niederreißen lassen, welche am obern und untern Ende die eigentliche Lindenallee von der allgemeinen Straße abtrennen, und im Dunkel der Mitternacht schwebte nun plötzlich, Fackeln voran und Fackeln zum Schluß des Zuges, der schwarzverhangene Leichenwagen, von einer Anzahl Trauerwagen gefolgt, lautlos und schnell wie eine Vision, über den weichen Sandboden dahin, zum Brandenburger Thore, von dem die stolze Viktoria majestätisch hernieder sah, hinaus in das Grün der Bäume, in die Stille, in die freie Natur, in die Nacht! – Es lag etwas höchst Phantastisches in diesem Eindrucke![364]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 2, Berlin 1871, S. 345-365.
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