[Aus »Sudelbuch« H]

Gegenstände der Satyre in meinem Gedicht: Moden und Trachten, schlechtes Theater, ausländisches Recht, Mangel an Ehrerbietung gegen die Alten, Phlegma der Justizpflege, Affektation der Studenten, Kriechen der Professoren vor reichen Studenten, Fresserei, Zwangsehen, Unehrlichkeit der Kinder außer der Ehe, Mesalliance, Empfindelei Romane, Mondmanie, geringfügige Ursachen der Kriege, Soldaten, schlechte Heerstraßen, Hazardspiele, Vergessung der ursprünglichen Gleichheit, Titelprunk in den Zeitungen, Kanonisationen, Unwissenheit der Klöster, Möncherei, ausschließende Rechte des Adels zu höheren Ämtern, Anglomanie in den Gärten, Inquisition, Aberglaube des Pöbels.

[H 1]


Ja meinen Aberglauben recht auseinander zu setzen. Z.E. daß, wenn ein frisch angestecktes Licht wieder ausgeht, ich meine Reise nach Italien daraus beurteile. Dieses ist ein sehr merkwürdiger Umstand in meinem Leben und in meiner Philosophie.

[H 2]


In jedem Menschen liegen eine Menge von richtigen Bemerkungen; allein die Kunst ist, sie gehörig sagen zu lernen – das ist sehr schwer, wenigstens viel schwerer, als mancher glaubt; und gewiß kommen alle schlechte Schriftsteller darin mit einander überein, daß sie von allem dem, was in ihnen liegt, nur das sagen, was jedermann sagte, und was daher, um gesagt zu werden, nicht einmal in einem zu liegen braucht.

[H 3]


Wären nur die Herren Weiber besser, mit den Frau Ehemännern ginge es wohl noch hin.

[H 4]


Die edle Einfalt in den Werken der Natur hat nur gar zu oft ihren Grund in der edeln Kurzsichtigkeit dessen, der sie beobachtet.

[H 5]


Dinge, die mich vorzüglich zum Lächeln bringen konnten, waren z.B. die Idee einiger Missionarien, einen ganzen Hof voll Proselyten mit der Feuerspritze zu taufen; und dann, daß einmal ein Schüler die Stelle aus dem Horaz: Pallida mors aequo pulsat pede[177] etc. übersetzte: der Tod mit seinem Pferdefuß. Letzteres fiel mir einmal bei sehr großen Schmerzen ein, und bewirkte ein wiewohl sehr kurzes Aufwallen von Lachen. Wenn ich nicht schlafen konnte, suchte ich oft die Lachen erregende Materie aus solchen Dingen zu scheiden.

[H 6]


Es hat mich öfters geschmerzt, daß ich seit 20 Jahren nicht mehr dreimal in einem Atem genieset, noch mich an das Kümmeleckchen gestoßen habe.

[H 7]


Ich habe oft des Nachts über einen Einfall lachen müssen, der mir am Tage schlecht oder gar frevelhaft vorkam.

[H 8]


In Gesellschaft spielte ich zu Zeiten den Atheisten bloß Exercitii gratia.

[H 9]


Ach Gott! wenn man doch nur in der Welt immer lernen könnte, ohne beobachtet zu werden. Was für ein himmlisches Vergnügen gewährte mir nicht Astrognosie in meiner Jugend. Du gerechter Gott! ich kenne keine schönere Zeiten, es sind die vergnügtesten meines Lebens. Der Neid und die Spötterei anderer, die hier und da etwas mehr wissen, ist unerträglich. Wie selig lebte ich damals! jetzt, da alles, was ich tue, beobachtet wird; und von manchem, der nicht die Hälfte von mir wert ist, und eine bloß auswendig gelernte Bemerkung meinem ursprünglichen Bestreben entgegensetzt, werde ich ausgelacht. Man sollte doch unterscheiden lernen, zwischen dem, was ein Mann selbst gedacht hat, und dem, was einer abschreibt.

[H 10]


Wenn ich einen Nagel einschlage, nur um etwas anzuheften, so denke ich immer, was wird geschehen, ehe ich ihn wieder herausziehe. Es ist gewiß hierin etwas. Ich heftete den Pappdeckel im November an mein Bett an, und ehe ich den Nagel noch herauszog, war mein vortrefflicher Freund Schernhagen in Hannover, und eines meiner Kinder gestorben, und die italienische Reise zu Wasser geworden.

[H 11]


Es ist ein großer Unterschied zwischen etwas glauben, und das Gegenteil nicht glauben können. Ich kann sehr oft etwas glauben, ohne es beweisen zu können, so wie ich etwas nicht glaube, ohne es[178] widerlegen zu können. Die Seite, die ich nehme, wird nicht durch strikten Beweis, sondern durch das Übergewicht bestimmt.

[H 12]


Es ist mir keine Betrachtung angenehmer, als die, in den poliertesten Zeiten Spuren von Gebräuchen der rohesten Völker aufzusuchen, freilich ebenfalls verfeinert. (Es ist unmöglich, daß ein Volk lange in einer Gattung seiner Kenntnisse zunehmen soll, ohne in den andern auch mit zuzunehmen, wenigstens nicht ohne Scheiterhaufen.) So wird es einem scharfen Beobachter nicht schwer werden, einen subtilen Schamanismus (geistliche Taschenspielerei) selbst auf unsern Kanzeln zu finden. Solche Dinge aufzufinden, darf man nur die Reihe aufsuchen, in welcher der Schamanismus liegt. Alles läßt sich verfeinern, und alles läßt sich vergröbern – ein vortreffliches Erfindungsmittel.

[H 13]


Was, wie ich glaube, die meisten Deisten schafft, zumal unter Leuten von Geist und Nachdenken, sind die unveränderlichen Gesetze in der Natur. Je mehr man sich mit denselben bekannt macht, desto wahrscheinlicher wird es, daß es nie anders in der Welt hergegangen, als es jetzt darin hergeht, und daß nie Wunder in der Welt geschehen sind, so wenig als jetzt. Daß ganze Zeitalter hintergangen werden, und noch leichter einzelne Menschen, daß man aus tausendfachem Interesse etwas glaubt, daß es sogar ein Vergnügen sein kann, etwas zu glauben, was man nicht untersucht hat, das ist gar kein Wunder, das sehen wir täglich; daß aber die Sonne beim Vollmond verfinstert, Wasser in Wein verwandelt wird, und dergleichen ist unbegreiflich.

[H 14]


Wer die Geschichte der Philosophie und Naturlehre betrachten will, wird finden, daß die größten Entdeckungen von Leuten sind gemacht worden, die das für bloß wahrscheinlich hielten, was andere für gewiß ausgegeben haben; also eigentlich von Anhängern der neuern Akademie, die das Mittel zwischen der strengen Zuverlässigkeit des Stoikers und der Ungewißheit und Gleichgültigkeit des Skeptikers hielt. Eine solche Philosophie ist um so mehr anzuraten, als wir unsere Meinungen zu der Zeit sammeln, da unser Verstand am schwächsten ist. Dieses letztere verdient in Absicht auf Religion in Betrachtung gezogen zu werden.

[H 15]
[179]

Ich glaube, der sicherste Weg, den Menschen weiter zu bringen, wäre, durch die polierte Vernunft des verfeinerten Menschen die blinden Naturgriffe des Barbaren (der zwischen dem Wilden und Feinen in der Mitte steht) mit Philosophie zu verfeinern. Wenn es einmal in der Welt keine Wilden und keine Barbaren mehr gibt, so ist es um uns geschehen.

[H 16]


Zu den feinsten Ramifikationen unserer Wissenschaften und Künste liegt irgendwo der Stamm in unserer Wildheit oder Barbarei (dem Mittelzustand zwischen Wildheit und Verfeinerung); diesen aufzusuchen, wie viel Philosophie erforderte es nicht, aber wie viel Nutzen hätte es auch!

[H 17]


So wie die Völker sich bessern, bessern sich auch ihre Götter; weil man letztern aber nicht gleich alle die menschlichen Eigenschaften nehmen kann, die ihnen rohere Zeiten angedichtet haben, so hält die vernünftige Welt manches noch eine Zeit lang für unbegreiflich, oder erklärt es figürlich.

[H 18]


Die Herren, die gegen Kants Vorstellung von Raum und Zeit disputieren, kann man billig fragen, was sie denn eigentlich unter ihrer wahren Kenntnis der Gegenstände verstehen, und ob überhaupt eine solche Kenntnis möglich ist. Alles, was ich empfinde, ist mir ja nur durch mich selbst gegeben, und jede Einwirkung eines Dings außer mir ist ja Wahrheit; was wollen wir als Menschen weiter? Es ist ein Radikalirrtum aller derer, die gegen diese Kantischen Vorstellungen disputieren, daß sie dieselben für Idealismus, oder gar für einen Betrug des Urhebers der Natur halten, wenn es so wäre. Allein da alle Dinge in der Natur Beziehung auf einander haben, was kann reeller und wahrer sein, als diese Beziehungen? Wenn ich sage: die Körper nehmen einen Raum ein, so sage ich etwas sehr Reelles, weil ich von einer Beziehung auf mich rede. Aber behaupten zu wollen, die Körper objektive nehmen einen Raum ein, ist gerade so unsinnig, als ihnen eine Farbe, oder gar eine Sprache zuzuschreiben. – Wenn auch aus allem diesem nichts erhellet, so erhellet doch wenigstens so viel daraus, daß es ein ganz vergebliches Bemühen ist, Herrn Kant widerlegen zu wollen.

[H 19]
[180]

In allen Wissenschaften kann es nützlich sein, Fälle zu supponieren, die nicht, so viel wir wissen, in der Natur stattfinden, so wie die Mathematiker andere Gesetze der Schwere. Es ist immer eine Übung und kann zuweilen auf Bemerkungen führen.

[H 20]


Ich wollte, daß ich mich alles entwöhnen könnte, daß ich von neuem sehen, von neuem hören, von neuem fühlen könnte. Die Gewohnheit verdirbt unsere Philosophie.

[H 21]


Man kann auf so vielerlei Weise Gutes tun, als man sündigen kann, nämlich mit Gedanken, Worten und Werken.

[H 22]


Wo damals die Grenzen der Wissenschaft waren, da ist jetzt die Mitte.

[H 23]


Die gefährlichsten Unwahrheiten sind Wahrheiten mäßig entstellt.

[H 24]


Wir müssen glauben, daß alles eine Ursache habe, so wie die Spinne ihr Netz spinnt, um Fliegen zu fangen. Sie tut dieses, ehe sie weiß, daß es Fliegen in der Welt gibt.

[H 25]


Das eigentlich Christliche in unserer Religion ist die Seele aller Religion, das übrige ist Körper. Vom schönsten Griechen bis zum Neger ist alles Menschen-Race.

[H 26]


Es gibt Wahrheiten, die so ziemlich herausgeputzt einhergehen, daß man sie für Lügen halten sollte, und die nichts desto weniger reine Wahrheiten sind.

[H 27]


Merkwürdig war es, daß, als ich in der Nacht vom 23. auf den 24. Oktober so viel von Paul Jones träumte, ich ihn unter zwei verschiedenen Gestalten sah. Einmal, da er aussah wie der Schinder von G ..., und einmal, wie ein großer, starker holländischer Schiffer. Diese Träume haben mir allerlei Ideen, die in meiner Seele schliefen, entwickelt. Die Unerschrockenheit hatte ich von dem Schinder geborgt, der eine der rohesten und verwegensten Physiognomien hat, die ich kenne. Es ist ein merkwürdiger Zustand der Seele, da[181] man sich einen Mann unter zweien oder auch mehreren vorstellt, je nachdem sich Bilder mit den Eigenschaften assoziiert haben.

[H 28]


Wenn uns von einer Gesellschaft von Leuten träumt, wie sehr in ihrem Charakter lassen wir sie nicht reden! warum gelingt uns das nicht eben so, wenn wir schreiben?

[H 29]


Vieles Lesen macht stolz und pedantisch; viel sehen macht weise, verträglich und nützlich. Der Leser baut eine einzige Idee zu sehr aus; der andere (der Weltseher) nimmt von allen Ständen etwas an, modelliert sich nach allen, sieht, wie wenig man sich in der Welt um den abstrakten Gelehrten bekümmert, und wird ein Weltbürger.

[H 30]


Wer in sich selbst verliebt ist, hat wenigstens bei seiner Liebe den Vorteil, daß er nicht viele Nebenbuhler erhalten wird.

[H 31]


Der Mensch kann gehen, pfeifen, oder auch Hundert zählen und noch an etwas anderes zugleich denken, und, was das Merkwürdigste ist, ohne von allen dreien etwas zu wissen, da doch jedes ganz eigne Regeln und Vorsicht erfordert.

[H 32]


Ein eingebildetes Unvermögen kann bei furchtsamen Personen lange die Rolle eines wirklichen spielen, in Werken des Kopfs sowohl wie des Leibes.

[H 33]


Weil die Menschen sehr geneigt zum Aufschieben und zur Langsamkeit sind, und gemeiniglich das, was um 5 Uhr des Morgens vor sich gehen soll, erst um 6 Uhr geschieht, so kann man sicher darauf rechnen, daß man die Oberhand in einer Sache behält, wenn man alles ohne den geringsten Verzug unternimmt.

[H 34]


Alle Tugend aus Vorsatz taugt nicht viel. Gefühl oder Gewohnheit ist das Ding.

[H 35]


Man soll niemanden in seiner Profession lächerlich machen, er kann dadurch unglücklich werden.

[H 36]
[182]

Es ist sonderbar, daß diejenigen Leute, die das Geld am liebsten haben und am besten zu Rate halten, gerne im Diminutivo davon sprechen. »Da kann ich doch meine 600 Tälerchen dabei verdienen« – »ein hübsches Sümmchen!« – Wer so sagt, schenkt nicht leicht ein halbes Tälerchen weg.

[H 37]


Manche Menschen äußern schon eine Gabe, sich dumm zu stellen, ehe sie klug sind; die Mädchen haben diese Gabe sehr oft.

[H 38]


Die Dienstmädchen küssen die Kinder und schütteln sie mit Heftigkeit, wenn sie von einer Mannsperson beobachtet werden; hingegen präsentieren sie sie in der Stille, wenn Frauenzimmer auf sie sehen.

[H 39]


Ich habe das schon mehr bemerkt, die Leute von Profession wissen oft das Beste nicht.

[H 40]


Der Mensch ist der größten Werke alsdann fähig, wenn seine Geisteskräfte schon wieder abnehmen, so wie es im Julius und um 2 Uhr des Nachmittags, da die Sonne schon wieder zurückweicht und sinkt, heißer ist, als im Junius und um 12 Uhr.

[H 41]


Jeder Mensch hat seinen individuellen Aberglauben, der ihn bald im Scherz, bald im Ernst leitet. Ich bin auf eine lächerliche Weise öfters sein Spiel, oder vielmehr ich spiele mit ihm. Die positiven Religionen sind feine Benutzungen jenes Hanges im Menschen. Die Menschen haben alle etwas davon, wenn sie nicht deutlich denken, und es ist gewiß noch nie ein so vollkommener Deist gewesen, als er im Compendio steht; das ist unmöglich.

[H 42]


Der Mensch, der sich vieles Glücks und seiner Schwäche bewußt ist, wird abergläubisch, flüchtet zum Gebet, und dergleichen mehr.

[H 43]


Es ist zum Erstaunen, wie weit ein gesunder Menschenverstand reicht. Es ist auch hier, wie im gemeinen Leben, der gemeine Mann geht hin, wohin der Vornehme mit Sechsen fährt.

[H 44]
[183]

Jeder gute Kopf ist ein mathematischer Wilder, der sich sein Boot mit kümmerlichen Werkzeugen baut, aber in vielen schweren Fällen, durch individuelle Geschicklichkeit und Übung, oft Dinge ausrichtet, die jener nicht ausrichten kann.

[H 45]


Über die Erziehung soll man nicht raisonnieren, sondern erst Erfahrungen sammeln, welche Nation die größten, aktivsten Leute hervorgebracht hat, nicht die größten Kompilatoren und Bücherschreiber, sondern die standhaftesten, die großmütigsten, in Künsten geschicktesten usw. – Das möchte doch wohl die englische sein.

[H 46]


Die Könige glauben oft, das was ihre Generale und Admirale tun, sei Patriotismus und Eifer für ihre eigne Ehre. Öfters ist die ganze Triebfeder großer Taten ein Mädchen, welches die Zeitung liest.

[H 47]


Ja einmal recht gründlich zu untersuchen, warum das Blühen ohne Früchte zu tragen so sehr gemein ist, nicht bloß an den Obstbäumen. Bei unsern gelehrten Kindern ist es eben so: sie blühen vortrefflich, und tragen keine Früchte.

[H 48]


Vielleicht ist noch nie ein Vater gewesen, der nicht irgend einmal sein Kind für etwas ganz Originelles gehalten hat. Doch glaube ich, sind die gelehrten Väter diesem zärtlichen Irrtum mehr ausgesetzt, als irgend eine andere Klasse von Vätern.

[H 49]


Wenn man nur die Kinder dahin erziehen könnte, daß ihnen alles Undeutliche völlig unverständlich wäre.

[H 50]


Ich bin überzeugt, daß die vermeinte Gründlichkeit beim Vortrage der Anfangsgründe sehr schadet. Es ist gar nicht nötig, daß ein Lehrer dem Anfänger die Sache gründlich vorträgt; aber der Lehrer, der diesen Vortrag wählt, muß sie gründlich verstehen; alsdann ist gewiß für den Anfänger gesorgt.

[H 51]


Die Lüftung der Nation kommt mir zur Aufklärung derselben unumgänglich nötig vor. Denn was sind die Menschen anders als alte Kleider? Der Wind muß durchstreichen. Es kann sich jedermann[184] die Sache vorstellen, wie er will; allein ich stelle mir jeden Staat wie einen Kleiderschrank vor, und die Menschen als die Kleider desselben. Die Potentaten sind die Herren, die sie tragen, und zuweilen bürsten und ausklopfen, und wenn sie sie abgetragen haben, die Tressen ausbrennen und das Zeug wegschmeißen. Aber die Lüftung fehlt; ich meine, daß man sie auf den Boden hängt. Wenn der Kaiser einmal seine ungarischen Schafe auf den Sand in der Mark triebe, und der König von Preußen die seinigen in Ungarn weiden ließe, was würde da nicht die Welt gewinnen!

[H 52]


Wenn man auf einer entfernten Insel einmal ein Volk anträfe, bei dem alle Häuser mit scharf geladenem Gewehr behängt wären und man beständig des Nachts Wache hielte, was würde ein Reisender anders denken können, als daß die ganze Insel von Räubern bewohnt wäre? Ist es aber mit den europäischen Reichen anders? Man sieht hieraus, von wie wenigem Einfluß die Religion überhaupt auf Menschen ist, die sonst kein Gesetz über sich erkennen, oder wenigstens, wie weit wir noch von einer wahren Religion entfernt sind. Daß die Religion selbst Kriege veranlaßt hat, ist abscheulich, und die Erfinder der Systeme werden gewiß dafür büßen müssen. Wenn die Großen und ihre Minister wahre Religion, und die Untertanen vernünftige Gesetze und ein System hätten, so wäre allen geholfen.

[H 53]


Es ist sehr gut, die von andern hundertmal gelesenen Bücher immer noch einmal zu lesen, denn obgleich das Objekt einerlei bleibt, so ist doch das Subjekt verschieden.

[H 54]


Das Stümpern in höhern Wissenschaften ist, wenn es mit einigem Witz und einer gewissen Duplizität des Ausdrucks geschieht, das, was niedere Klassen für hohe Weisheit halten; der Mann, der von dem Fache ist, worin hier gestümpert wird, lächelt über die Torheit. H. in seinen I.z.G.d.M. ist ein Stümper an vielen Stellen.

[H 55]


Wie man alte Bücher studiert, in der Absicht Wahrheit zu suchen, so kann man wohl zuweilen eine Ausbeute erhalten, die andern entgangen ist, allein man riskiert auch zuweilen, die beste Zeit seines Lebens zu verkuxen.

[H 56]
[185]

Zimmermanns Buch, und auch viele Menschen, die nur die Formen der Philosophie haben, gleichen einem Gebäude mit gemalten Fenstern; man glaubt Wunder was sie für Licht hätten, sie sind aber dessenungeachtet sehr dunkel; oder gegen ein Fenster, das ein bißchen Licht ins Haus bringt, sind allemal zehn gemalte.

[H 57]


Es gibt wenige Gelehrte, die nicht Einmal gedacht haben, sich reich zu schreiben. Das Glück ist nur wenigen beschieden. Unter den Büchern, die geschrieben werden, machen wenige ihr Glück, wenn sie leben bleiben; und die meisten werden tod geboren.

[H 58]


Kurzsichtig sein und weit sehen werden im metaphorischen Verstande von Geistesgaben falsch gebraucht. Ein Kurzsichtiger heißt da ein Blinder; es ist aber klar, daß Kurzsichtige auch Dinge sehen, die andere Leute nicht sehen.

[H 59]


Der Teufel ist wohl heutzutage, in unseren aufgeklärten Zeiten, ein recht armer Teufel. Woher mag überhaupt die Redensart: armer Teufel kommen? Sie findet sich auch in anderen Sprachen: poor devil, pauvre diable.

[H 60]


Daß die Verwechselung von lehren und lernen, die bei uns, zumal in der Sprache des Umgangs gemeiner ist, als man denken sollte, von etwas Tieferm herrührt, als bloß von der Ähnlichkeit des Lautes, kann man daraus abnehmen, daß die Schottländer häufig to learn mit to teach verwechseln, die doch nicht verschiedener klingen können. Hingegen verwechselt der Engländer häufig to lie liegen, und to lay legen, welches auch der unstudierteste Deutsche nicht tut, da doch die Ähnlichkeit des Lauts und der Relation in den Begriffen, die sie ausdrücken, bei beiden gleich groß ist. Wer liegt, der hat sich gelegt; und wer sich lehrt, der lernt; oder, wer gelegt wird, liegt, und wer gelehrt wird, lernt.

[H 61]


Ich glaube, es könnte einer Sprache gar nicht schaden, wenn man viele Latinismen und Gräzismen übertrüge. So würden gewiß die Alten wenigstens verständlich werden. In meinen Schuljahren, wo das Wort populär noch nicht so Mode war wie jetzt, glaubten wir, es hieße pöbelhaft oder so etwas.

[H 62]
[186]

Aufschieben heißt, seinem Gehirne eine größere Extension geben.

[H 63]


So wie es vielsilbige Wörter gibt, die sehr wenig sagen, so gibt es auch einsilbige von unendlicher Bedeutung.

[H 64]


Es ist ein großer Rednerkunstgriff, die Leute zuweilen bloß zu überreden, wo man sie überzeugen könnte; sie halten sich alsdann oft da für überzeugt, wo man sie bloß überreden kann.

[H 65]


Mir ist nichts abgeschmackter in unsern Schauspielen, als die wohlgesetzten Reden, die auf den Knien gehalten werden. Man wird nach und nach auch so sehr daran gewöhnt, daß es nicht viel größern Ein druck macht, jemanden auf den Knien zu sehen, als wenn er die Arme kreuzt. Wenn mich mein eigenes Gefühl nicht betrügt, so kniet man nicht leicht vor einem Menschen, und nicht eher als bis die Sprache zu fallen anfängt. Wer mit seinem Knien so fertig ist, und seine Beteuerungen so regelmäßig hersagt, der ist ohne Zweifel ein Betrüger. Ich fordere die Herzen aller derjenigen auf, die irgend einmal in der Welt einen Menschen vor einem Menschen aus Affekt haben knien sehen, oder selbst einmal gekniet haben; und frage, ob es billig ist, mit diesem größten und ehrwürdigsten Zeichen des innersten Affekts, das die menschliche Natur hat, jede kleine vorübergehende Wallung des Bluts zu bezeichnen? Ich habe ein einzigesmal einen Mann im Ernst knien sehen, und als er hinfiel, so war es mir, als entginge mir der Atem.

[H 66]


Eine Stockhausscene sollte sich vortrefflich auf dem Theater ausnehmen. Es müßten da die Spitzbuben über Freiheit und Ehrlichkeit mit einander disputieren.

[H 67]


Sich erst eine Absicht zu wählen und einen Endzweck festzusetzen und dann alles, auch sogar das Geringste in der Welt dieser Absicht unterwürfig zu machen, ist der Charakter des vernünftigen und großen Mannes und großen Schriftstellers. In einem Werk muß jede tiefsinnige Bemerkung, so gut wie jeder Scherz dazu dienen, die Hauptabsicht sicher zu erhalten. Auch wenn der Leser vergnügt werden soll, vergnüge man ihn so, daß die Hauptabsicht dadurch erreicht wird.

[H 68]
[187]

Die feinste Satyre ist unstreitig die, deren Spott mit so weniger Bosheit und so vieler Überzeugung verbunden ist, daß er selbst diejenigen zum Lächeln nötigt, die er trifft. So sprach Lord Chesterfield im Oberhause. Dr. Maty sagt von diesem großen Redner: »He reasoned best, when he appeared not witty; and while he gained the affections of his hearers, he turned the laugh on his opposers, and often forced them to join in it.«

[H 69]


Es ist eine sehr schöne Bemerkung von Priestley, daß der bilderreichste Stil eben so natürlich ist, als der einfachste, der nur die gemeinsten Worte gebraucht; denn wenn die Seele in der gehörigen Lage ist, so kommen jene Bilder ihr eben so natürlich vor, als diese simpeln Ausdrücke.

[H 70]


Ein guter Charakter für eine Komödie oder einen Roman ist der, der alles zu fein versteht, weil er kein gutes Gewissen hat, und alles deutet und zu seinem Schaden nutzt.

[H 71]


Ein guter Schriftsteller hat nicht allein Witz nötig, die Ähnlichkeiten auszufinden, wodurch er seinem Ausdruck Anmut verschaffen kann, sondern auch die zu vermeiden, die dem Leser zum gänzlichen Verderben desselben einfallen können. Zu oft ist nicht sowohl das, was der Autor sagt, dem Eindruck, den er machen will, nachteilig, als das, was dem Leser, dessen Gedanken minder ängstlich fortgehen, dabei einfällt, und woran er selbst nicht gedacht hat.

[H 72]


Bei einem Roman sollte hauptsächlich darauf gesehen werden, die Irrtümer sowohl, als die Betrügereien aller Stände und aller menschlichen Alter zu zeigen. Hierbei könnte sehr viel Menschenkenntnis angebracht werden.

[H 73]


Nichts erweckt die Neugierde der Jugend mehr, als Fragmente nützlicher Kenntnisse in angenehme Gedichte eingewebt. Thomsons Jahrszeiten sind ein Meisterstück hierin, und haben wohl in manchem Engländer die Liebe zur Natur erweckt.

[H 74]


Wer, wie Boileau, den zweiten Vers zuerst macht, und ihm alle mögliche Geschwindigkeit und Fluß erteilt, wird gefunden haben,[188] wie schwer es ist, dem ersten solche Füße zu geben, daß er nachkommen kann. Doch ist es immer besser, als dem ersten eine Geschwindigkeit zu geben, womit er den zweiten über den Haufen rennt, und beide zusammen stürzen.

[H 75]


Es wäre eine rührende Situation, jemanden vorzustellen, der des Nachts plötzlich blind würde, und glaubte, die Nacht dauerte fort. Er nimmt sein Feuerzeug und schlägt, und kann keine Funken herausbringen, und dergleichen mehr.

[H 76]


Der wahre Witz weiß ganz von der Sache entfernte Dinge so zu seinem Vorteil zu nutzen, daß der Leser denken muß, der Schriftsteller habe sich nicht nach der Sache, sondern die Sache nach ihm gerichtet.

[H 77]
[189]

Quelle:
Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. Band 2, München 1967 ff., S. 174-175,177-190.
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