II.

Beim »Herrgottle«

[158] Hoch über dem Dorfe tritt eine umfangreiche Taubsteinhalde aus dem Berge hervor. Sie stammt aus einer Zeit, in welcher man hier nach Metallen grub. Als die Lager ausgebeutet waren, verließ man das Werk, verschüttete den Schacht kaum zur Hälfte und ließ das Breterhäuschen, welches sein Mundloch überdeckte, zum Andenken an die vollendete Arbeit stehen.

Seit jener Zeit war die Halde gemieden worden fast einige Menschenalter lang. Verlassene Schächte sind nach dem Volksglauben der Tummelplatz von allerhand übernatürlichen Erscheinungen; es war zuweilen ein reges nächtliches Treiben um das Zechenhäuschen zu bemerken, welches man den Gnomen und den Berggeistern zuschrieb, während die Schmuggler und Wildschützen über diese phantastische Annahme sich heimlich lustig machten. Jetzt freilich standen die Dinge anders. Die Zollwächter und Forstbeamten waren dem Spuke gründlich auf die Spur gekommen, und seit Bertha, die einstige Todtengräberstochter, in dem Schachte einen grauenhaften Tod gefunden und ihr Vater darum das Herrgottle auf der Halde errichtet hatte, war diese ein heiliger Ort, an welchem schon mancher Trost- und Hilfsbedürftige auf den Knieen gelegen hatte und vom Herrgottsengel mit Erhörung seines Gebetes beglückt worden war.

Die Botengustel hatte dies gestern Abend an sich selbst erfahren. Sie war voll Dankes über die Rettung aus dringender Noth und arbeitete sich mit den Krücken an der Höhe des Berges empor, um heute dem geheimnißvollen Helfer ein kleines Zeichen ihrer Erkenntlichkeit darzubringen. Die Lehne, an welcher sich der Bergpfad emporzog, gehörte zum Richterhofe, und Selma war eben hier beschäftigt, dürre Streu zusammenzuharken.

»Grüß' Gott, Jungfer Selma!« grüßte die Alte. »Bist auch hier außen?«

»Freilich bin ich da, Gustel. Die Küh' wollen immer trockenen Unterstand; das Stroh ist gar hoch im Werth, und so muß man seh'n, wie es billiger zu erlangen ist. Bist gut nach Haus' gekommen gestern?«

»Ganz schön. Ich wohn' ja bei Schmuggelbalzers, und da ist der Weg nicht weit, fast nur bis über die Straß' herüber. Weißt' schon, daß der Balzer gestorben ist?«

»Ich hab's schon gleich heut' in der Früh' vernommen.«

»So hat es Dir wohl der Ludewig gesagt?«

»Nein. Er ist seit gestern noch nicht wieder bei uns gewesen. Der Tod des Vaters ist ihm sicher aufs Gemüth gefallen!«

»Das ist auch gar nicht zu verwundern! Ich hab' die Leich' geseh'n. Sie hat ein gar schreckhaftes Gesicht gemacht, grad' so, als ob zuletzt Der beim Balzer gewesen wär', vor dem man drei Kreuz' zu schlagen hat. Der Ludewig und die Mutter haben ihn gar nicht sterben seh'n; Dein Vater ist allein bei ihm gestanden.«

»Hast nichts davon gehört, was sie verhandelt haben?«

»Nein. Aber was Gut's kann's nicht gewesen sein; denn neben den Jammer um den Todten hat es noch eine Angst gegeben, die sie gern verbergen wollten; ich aber hab' sie doch bemerkt.[158] Sie sind viel heimlich beisammen gesessen, und dann hat der Ludewig sich angezogen und ist zur Stadt gegangen.«

»Ist er wieder zurück?«

»Nein. Dein Vater ist – na, Du bist sein Kind, und d'rum will ich schweigen. Aber vielleicht hat er dem Ludewig einen bösen Faden angesponnen; er war gar bös auf ihn, daß er mir den Brief an den Herrgottsengel geschrieben hatte. Du weißt's ja auch; Du warst mit dabei. Jetzt aber will ich den Dank hinaufbringen zum Kreuze; dem Engel wird er nicht viel nützen, doch sicher Anderen, die den Herrgott brauchen.«

»Was ist's?«

»Da schau her: eine Kerz' und noch eine und auch ein wenig Papier und Tint' für den Engel, wenn er so immer Brief' zu schreiben hat, wie bei mir.«

»Wer mag's wohl sein? – ein Mensch, der sicher recht fromm und heilig ist und reich dazu, oder ein wirklicher Engel?«

»Wer weiß! Ich zerbrech' mir nicht den Kopf darüber; es hat auch Anderen, die klüger sind als ich, nicht gelingen wollen, ihn zu entdecken. Sie haben sich auf die Lauer gelegt viele Nächt' hindurch, aber umsonst. Und dem Vetterbauersfranz ist's gar noch schlimm ergangen.«

»Wieso?«

»Da warst Du noch ein Kind und hast vielleicht gar nichts davon gehört. Er war ein loser Bub' und hat einmal in der Schenk' geschworen, er werd' den Herrgottsengel fangen. Dann hat er gewartet, bis Licht in der Lanterne gewesen ist, und hat den Brief herausgenommen. Da aber ist ein Schlag über ihn gekommen, daß er mehrere Tage lang für todt gelegen hat; das Herrgottle läßt sich nicht verspotten, so steht's auch in der Bibel. Nachher hat einmal Dein Vater den Knecht hinausgeschickt, er soll die Laterne wegnehmen und nach Haus' bringen. Der hat's auch gethan; aber auf dem Heimweg ist ein fürchterlicher Ries' über ihn hergefallen und hat ihn so zerschlagen, daß er beinah' gar nimmer wieder aufgekommen wär'. Von Deinem Vater war es schon ganz und gar nicht recht, das Herrgottle anzugreifen; es ist ja für die Bertha errichtet, die seine eigene Schwester war.«

»Hast sie gekannt, Gustel?«

»Ob ich sie gekannt hab'? Sie war ja meine Path' und ist mit dem Klapperbein manch' schönen Abend in meiner Stub' gewesen. Sie sollten einander nicht haben, weil er der einzige Sohn des Richters und sie des Todtengräbers Tochter war. Ach, Selma, was war doch die Bertha für ein herzlieber Engel, so schön und so gut! Sie hat von Kirchhofsblumen so herrliche Sträuß' und Kränz' gemacht und in der Stadt verkauft; auch genäht und gearbeitet hat sie für die feinen Leut' und sich ein hübsches Geld verdient. Das hat sie aber nicht für sich behalten können, denn dazu ist sie zu mild und barmherzig gewesen; sie hat es lieber hingegeben bei den Armen und Kranken und ist deshalb von Allen hochgehalten worden, als nur von Zweien nicht: dem damaligen Richterbauer, dem Klapperbein seinem Vater, und von ihrem eigenen Vater.«

»Von meinem Großvater?«

»Ja, und auch Dein Vater hat sie nicht recht leiden mögen, weil sie so fromm und sanft gewesen ist und er so wild und toll. Er hat die Grenzler stets auf dem Nacken gehabt, aber Keiner konnt' ihm etwas nachweisen. Die Niederlag' der Schmuggler war damals da oben im Zechenhaus, und da hat er auch die Bertha gefunden, als sie sich vor Leid und Unglück hinunter in den Schacht geschmettert hatte. Hat er Dir nichts davon erzählt?«

»Nein. Man darf bei ihm gar nicht davon beginnen; er kann den Gedanken daran nicht ertragen.«

»Das glaub' ich schon; sie war ja seine Schwester. Aber er trägt doch auch die Schuld an ihrem Tod mit. Der Richterbauer ist mit dem Todtengräber zusammengerathen und hat ihn über alle Maßen darangenommen; darüber ist dieser aufgebracht worden und hat mit dem Sohne der Tochter so lange zugesetzt, bis sie mit der Drohung davon gelaufen ist, wenn sie daheim keine Ruh' mehr hab', so werd' sie tief unten im Schacht welche finden. Am anderen Morgen hat Dein Vater sie dort gefunden und heraufgezogen. Als Selbstmörderin ist sie in die ungeweihte Eck' hinter dem Gottesackerhaus eingescharrt worden. Der Richterbauer ist gestorben, und sein Anton hat das Gut und auch das Amt geerbt, Beides aber bald Deinem Großvater übergeben und sich nach dem Kirchhof gemacht. Die Bertha ist ihm so lieb gewesen, daß er selbst von ihrer Leich' hat nimmer lassen können. Nun erhält er von euch das Brod und sitzt fast Tag und Nacht auf ihrem Grab, wo er ächzt und stöhnt oder singt und betet und ganz zum Geripp' vermagert und verarmseligt ist. Er ist der Aermst', der Allerärmst' im Dorf; er hat keine Wäsch', kein Geld, keine Kleidung, keine Freud' und Lust und auch kein Leben – er ist todt, obgleich er lebt. Das Kleid, welches er trug als sie die Bertha fanden, das trägt er noch, und die Lieb', die damals in seinem Herzen war, die ist heut' noch drin und wird erst dann aufhören, wenn er ins Grab gelegt wird, das er sich selbst neben der Bertha bereitet hat. So, das ist die Geschicht'! Nun leb' wohl, Jungfer Selma! Ich muß hoch empor, und meine kranken Füß' geh'n nur sehr langsam den Berg hinauf.«

Es war wirklich ein sehr anstrengendes Unternehmen von der alten, gebrechlichen Frau, mit Hilfe der Krücken die Haldenspitze zu erreichen. Dort stand an der Stelle, wo man Bertha's Leiche niedergelegt hatte, ein hohes, hölzernes Kreuz mit der aus Holz geschnittenen Gestalt des Heilands daran. Zu Füßen des Erlösers war eine Laterne und unter ihr ein kleines Kästchen befestigt, welches bestimmt war, die an das »Herrgottle« gerichteten Bittschriften aufzunehmen. Es war nur Nachts um Zwölf geöffnet. Wer einen Brief zu bringen hatte, mußte ihn um diese Zeit einlegen und dann das in der Laterne befindliche Licht anbrennen. Es leuchtete dann bis tief ins Thal hinab, den unten noch vorhandenen Leuten zum Zeichen, daß ein Hilfsbedürftiger die »Herrgottspost« benutze, um beim Herrgottsengel Rettung zu suchen, da ihn die Menschen verlassen hatten.

Sie kniete vor dem Kreuze nieder, um lange und in brünstig zu beten. Die Botengustel war wegen ihrer Redfertigkeit bekannt und zuweilen sogar gefürchtet; aber ein treues, unverfälschtes Gemüth, das hatte sie, und den lieben Gott, den hielt sie hoch in Ehren. Dann erhob sie sich, öffnete die Laterne und legte die beiden Lichter und das Papier hinein; das Tintenfläschchen stellte sie auf den verschlossenen Briefkasten. Es war eine geringe, unscheinbare Opfergabe, welche sie brachte, aber ihr Herz war weit und groß dabei; sie hätte gern viel, viel mehr gegeben, wäre ihr von der Armuth nicht die bereitwillige Hand gebunden worden.

Als sie den Berg wieder hernieder stieg, fand sie Selma zum Heimgehen bereit.

»Willst auch hinunter? Ja, geh', der Tag neigt sich zur Rüste, und da giebt's noch gar viel zu thun in so einem großen Hauswesen, wie das Deinige ist. Schau da hinüber auf die Straß'! Ist das nicht der Ludewig, welcher aus der Stadt zurückkehrt? Meine alten Augen wollen ihn nicht mehr genau erkennen.«

»Ja, er ist's. Er hat uns auch gesehen und winkt mir, hinab zu kommen. Leb' wohl, Gustel; komm' gut nach Haus'!«

»Leb' wohl, Jungfer Selma, und lauf' geschwind! Den Liebsten darf man nimmer warten lassen. Bin auch einmal ein flinkes Mädchen gewesen; der meinige, Gott hab' ihn selig, wußt' gar viel davon zu berichten.«

Das Mädchen traf mit dem Geliebten zusammen, noch ehe er das Dorf erreicht hatte.

»Ist Dein Vater zu Haus'?« fragte er.

»Ja. Willst vielleicht zu ihm?«

»Ja. Hat er heut' von mir gesprochen?«

»Nein. Warum?«

»Hast ihn lieb, Selma, wirklich und wahrhaftig lieb, Deinen Vater?«

Sie blickte, befremdet über diese Frage, zu ihm empor. Sein Gesicht sah erhitzt aus, und in seinem Auge lag es wie ein mächtiger, nur mühsam zurückgehaltener Grimm. Einen solchen Blick hatte sie bei dem sanften, ruhigen Freunde noch nie gesehen. Sie hatte sich im Gegentheile immer für willenskräftiger und entschlossener gehalten, als ihn.

»Was ist mit Dir, was soll diese Frage bedeuten?«

»Gieb Antwort, Selma, damit ich weiß, was ich zu Dir zu sagen hab'! Hast ihn lieb, so gern, wie man den Vater haben muß, so lieb, wie Dir die Mutter war?«

Sie senkte das Auge und schwieg.

»Sag' es, Selma! Wer ist Dir lieber, er oder ich?«[159]

»Du!« antwortete sie leise und zögernd, als begehe sie mit diesem Geständnisse eine schwere Sünde.

»Ja, so ist's, ich weiß es! Er ist ein Tyrann im Dorf und ein Tyrann in seinem Haus, auch gegen Dich. Er hat Deine Kindeslieb' ermordet und erschlagen, Du magst es nur nicht gestehen, Dir selbst nicht und Anderen erst recht nicht. Und weißt, was er noch ist, Selma?«

»Was?« fragte sie bangend.

»Ein Betrüger ist er und ein Fälschling, ein Schuft und Schurk', so lang und groß er gewachsen ist, und ein Mörder und Dieb dazu, der dem Vater das Leben verkürzt und mir den Wechselbrief gestohlen hat, der mich verderben soll. Und so ein Spitzbub' ist Obrigkeit im Ort, weil er das Erb- und Lehngericht besitzt!«

»Um Gotteswillen, Ludewig, was ist geschehen, daß Du über ihn so ganz aus Rand und Band gerathen bist?«

»Paß auf, was ich Dir sag'! Er wird es leugnen und verdreh'n, aber es ist dennoch und wahrhaftig so, wie ich's erzähl'. Du weißt, ich sag' gar niemals eine Lüg'.«

Er berichtete ihr von dem gestrigen Abende in raschen, fliegenden Worten, erwähnte kurz, daß er jetzt bei dem Advocat gewesen sei und nun zum Richterbauer wolle, und eilte dann in weiten, schnellen Schritten von ihr fort. Sie vermochte nicht, ihn zu halten. Der Gedanke an den verhängnißvollen Wechsel nahm ihn so in Anspruch, daß er kaum Zeit zum gewohnten Gruße fand.

Auf dem Hofe angekommen, erfuhr er, daß der Richter sich in seiner Schlafstube befinde. Er stieg die Treppe empor, obgleich er wußte, daß der Zutritt zu diesem Zimmer ohne alle Ausnahme Jedermann verboten sei. Ohne anzuklopfen, öffnete er die Thür. Der Bauer saß vor einem kleinen Schränkchen, welches auf dem Tische stand. Es war aus der Wand gezogen; ein kurzer, unwillkürlicher Blick belehrte Ludwig, daß er ganz zufällig ein Geheimniß entdeckt habe. Das mit Holz bekleidete, viereckige Loch in der Mauer war bedeutend tiefer als der Schrank. Es lagen allerhand Papiere darin, die jedenfalls gut aufgehoben waren, wenn das Kästchen eingeschoben wurde.[160]

»Was soll's? Was willst? Wie kannst in diese Stub' herbeikommen?« fragte, sich erhebend, der Bauer.

»Hab' keine Zeit, zu warten, bis Ihr hinunter kommt, Richterbauer. Ich wollt' mich nur erkundigen von wegen dem Wechselbrief, den Ihr gestern aus Verseh'n mitgenommen habt, anstatt ihn bei uns hinzulegen!«

»Versehen? Meinen Wechselbrief hinlegen? Du bist wohl gar nicht recht bei Trost, daß Du meinst, ich soll Euch das Papier zurücklassen! Da wär' doch ganz mein schönes Geld verloren, welches ich aus lauter Güt' und Freundschaftlichkeit Deinem Vater vorgeschossen hab'!«

»So!« Der junge Mann rang nach dem fehlenden Athem, ehe er weiter sprechen konnte. »Wer ist also der Schuldner, wer hat die zweitausend Thaler zu zahlen, Richterbauer, Ihr oder ich?«

»Du, natürlich Du! Oder glaubst Du etwa gar, daß ich auf meinen Sechzigtausendthalerhof hab' Geld leihen müssen vom Schmuggelbalzer? Verrückt genug wärst vielleicht doch dazu!«

»Ja, zum Verrücktwerden ist's, Schubertfrieder, geradezu zum Verrücktwerden, diese infame Schlechtigkeit von Euch! Boshafter kann kein Räuber und kein Mörder sein, als Ihr, und diese Wechselgeschicht' ist ein richtiger Todtengräberstreich, der Einen unter die Erd' zu bringen vermag! Erst habt Ihr den Vater in Sünd' und Schuld geführt, das weiß das ganze Dorf, und nun wollt Ihr auch den Sohn verderben. Habt Ihr kein Gewissen?«

Der Richter trat auf ihn zu und senkte den scharfen, drohenden Blick fest in sein loderndes Auge.

»Hör', Bursch', nimm Dich ein wenig mehr zusammen, sonst könnt' es Dir leicht an den Kragen geh'n! Dein Vater war mein Schulkamerad und auch sonst und später ein guter Freund von mir, d'rum mag Dir auch Dein Wort einmal zu Gut' gehalten sein, aber nur dies eine Mal, merk's genau! Er hat gern in ein Häusle kommen wollen und mir so lang' gute Wort' gegeben, bis ich bereit war, ihm das Geld dazu zu geben. Ich hab's aus Lieb' und auch ganz ohne Zins gethan. Gestern nun hat er den Tod gefühlt und ist so ehrlich gewesen, nach mir zu schicken, weil ich über die Schuld bisher nichts in der Hand gehalten hab'. Auf seinen Befehl ist die Urkund' von Dir unterzeichnet worden; Du erbst das Haus und auch die Pflicht, mich zu bezahlen. So ist's. Er hat noch vor der Unterschrift den Wechselbrief gelesen und Du auch, das kannst nicht leugnen, und wenn Du nicht gesehen hast, was Du unterschreibst, so kann mich nur die Botengustel und der Herrgottsengel dauern, daß sie so einen unkundigen und leichten Passagier in ihren Dienst genommen haben. Jetzt geh', und komm' mir nimmer wieder in das Haus! Den Wechsel wirst schon bald zu seh'n bekommen!«

»Also ist's wirklich so gemeint, Schubertfrieder? Und Ihr denkt, mich richtig damit abzuspeisen?« Er sprach langsam und ruhig, aber diese Ruhe war eine solche, wie sie dem Sturme voranzugehen pflegt. »Ich bin heut' in der Stadt beim Advocat gewesen und hab' ihm die Sach' ganz genau erzählt. Er hat mir einen Wechselbrief gebracht, auf den ich schreiben mußt', was ich gestern Euch geschrieben hab', und darauf gemeint, wenn es so sei, wie ich erzähl', so sei der reiche Richterbauer ein ganz gefährlicher und raffinirter Spitzbub', vor dem sogar der Schinderhans sich verkriechen müßt', aber machen könn' ich nichts gegen ihn; den Wechsel müßt' ich zahlen, selbst wenn ich eine Anzeig' machen wollt'; ich hab' ja keine Zeugen. Aber verklagen werd' ich Euch dennoch – oder – ich bring' lieber gleich jetzt die Sach' zu End'. Der Wechsel wird wohl hier zu finden sein; gebt ihn heraus!«

Mit einem raschen, entschlossenen Schritte stand er vor dem Bauer. Dieser wich keinen Zoll breit zurück. Der Grimm, welcher bei den Worten Ludwig's in sein Gesicht gestiegen war, wich einem ruhigen, verächtlichen Lächeln.

»Willst mich etwa erschlagen und nachher das Papier fortnehmen? Der Raubmord ist zu Vielem gut, sogar zum Zuchthaus und zum Galgen! Schlag' zu, Schmuggelbalzersbub'; es ist kein Zeug' vorhanden! Nachher heirathest die Selma und wirst Richterbauer. Schlag' zu!«

»Die Selma?« fragte der junge Mann, zurücktretend. »Frieder, daß Ihr diesen Namen nennt, das ist ein Glück für Euch und auch für mich!« Er holte tief Athem, als sei eine große Gefahr an ihm vorüber gegangen. »Nein, vergreifen werd' ich mich nicht an Euch, dazu ist mir meine ehrliche Hand zu gut, sondern es bleibt bei Dem, was ich vorher gewollt hab': Ich werd' Euch verklagen.«

»Warum bist Du nicht gleich in der Stadt geblieben und aufs Gericht gegangen? Hast Dich wohl vor dem Haus gefürchtet?«

»Aufs Gericht? Nein, dahin geh' ich nicht, sondern an einen besseren Ort, wo ein Gesetz gilt, das keine Hinterthür besitzt. Ich verklag' Euch beim Herrgottsengel. Gleich jetzt werd' ich den Brief aufschreiben und ihn heut' Abend in den Kasten thun. Paßt auf, Schubertfrieder! Um zwölf wird die Latern' herniederleuchten, und morgen schon ist Euer Urtheil fertig!«

»Beim Herrgottle?« Er lachte höhnisch auf. »Denkst wirklich, daß der richtige Herrgott im Himmel den Kasten an das Kreuz genagelt hat? Wer weiß, was für ein armseliger Strolch Euch Alle an der Nas' herumführt! Vor dem ist mir nicht angst!«

»Ihm wohl auch nicht vor Euch! Er mag sein, wer er will, aber er hat schon über zwanzig Jahr' einem Jeden geholfen, der seinen Beistand werth gewesen ist; er wird Euch kennen und mich nicht verlassen!«

»So!« Er griff hinter sich und nahm ein Papier zur Hand. »Dann will ich Dir gleich einmal zeigen, was ich von dem großen Helfer denk'. Hier ist der Wechselbrief; wenn ich ihn vorzeig', mußt Du ihn bezahlen. Gilt's jetzt, oder soll ich nachher in Deine Wohnung kommen?«

»So lang' ich das Haus noch hab', ist's Euch verboten, Schubertfrieder. Ich hab' die Selma lieb und möcht' gern Rücksicht auf sie nehmen; aber ich weiß, daß Ihr sie mir nimmer gutwillig gebt, und so wollen wir gleich unsern Strauß beginnen. Sie wird mein, wenn ich ihn gewinn'!«

»Das macht mir keine Sorg'! Also hier ist der Brief; schau ihn an; ich will mein Geld. Hast welches?«

»Nein, ich kann nicht zahlen!«

Die beiden erst so erregten Männer waren jetzt scheinbar ruhig geworden; ihre Worte erklangen fast im geschäftlichen Tone.

»Nicht? So geb' ich Dir Zeit bis übermorgen früh.«

»Ich hab' auch dann kein Geld!«

»So laß ich Dich pfänden. Ich hab' noch heut' ein Geschäft in der Stadt und werd' dabei den Wechselbrief gleich dem Notar übergeben. Soll ich vielleicht befehlen, daß Dir immer eine Stub' im Armenhaus geöffnet werd'?«

»Wartet noch ein wenig!« Seine Stimme konnte doch ein zorniges Beben nicht verbergen. »Wir wollen erst sehen, wer mächtiger ist, Euer Notar oder mein Herrgottsengel.«

»Das kannst versuchen! Aber mach' den Brief recht schön und setz' ein Hochgeboren voran, denn Dein Advocat kommt aus den Wolken herab. Bist nun fertig?«

»Ja, ich kann geh'n, denn was ich Euch noch über den Tod des Vaters fragen könnt', das werdet Ihr mir doch nicht beantworten.«

»So geh', und komm' mir ja nicht wieder. Und läßt Du Dich ein einzig's Mal bei meinem Mädchen blicken, so wirst sehen, was geschieht! Marsch fort, Herr gottesschreiber!«

»Leb' wohl, Todtengräberfrieder; komm' gut zum Notar und erstick' nicht unterwegs an Deiner Schlechtigkeit!«

Er ging. Sein Inneres war übermäßig aufgeregt, und der Zorn verdunkelte ihm die Augen, so daß er Selma, welche an der Hausthür ängstlich seiner harrte, fast gar nicht bemerkte.

»Halt, wirf mich nicht über den Haufen!« meinte sie. »Bist wohl gar droben in der Oberstub' gewesen?«[174]

»Ja. Ich geh' heut' um Mitternacht zum Herrgottle. Komm' hinauf in die Zech', Selma; ich soll nicht mehr mit Dir sprechen!« erwiderte er und eilte, ohne ihr weiter Rede zu stehen, davon.

Da erscholl auch schon aus dem Hoffenster die Stimme des Richters, welcher dem Knechte zurief:

»Spann' die Braunen schnell an das Rollwägle; ich muß noch nach der Stadt!«

Nach einiger Zeit kam er herunter und trat zu Selma in die Küche, wo sie das Abendbrod bereitete.

»Sag' nachher dem Klapperbein,« gebot er, »er braucht' mich nicht an die Zeit zu erinnern; ich hätt' den Tag auch ohne ihn gewußt! Und für Dich hab' ich auch etwas: Mit dem Schmuggelludewig ist's von jetzt an aus, daß Du's nur weißt. Treff' ich Euch irgendwo beisammen, so ist Dein Brod gebacken. Richt' Dich danach; Du weißt, ich sag' nichts zweimal, sondern es fällt dann Blitz und Donner ganz auf einen Schlag!«

Sie wendete sich ihm zu, um einen Einspruch zu erheben; er aber achtete nicht auf diese Bewegung, sondern schritt nach dem Hofe, wo er in dem schon bereit stehenden Wagen Platz nahm. Die Pferde zogen an, das Geschirr fuhr zum Thore hinaus und rollte auf dem Wege zur Stadt dahin.

Noch niemals war Selma mit so schwerem Herzen nach dem Kirchhofe und von da zurück gegangen. Ludwig hatte die Wahrheit gesagt; sie konnte den Vater nicht lieb haben; sie fürchtete ihn nur. Er war so stolz auf den Richterhof und ließ es ihr entgelten, daß sie ein Mädchen war, auf das er Besitz und Amt zugleich nicht vererben könne. War der schreckliche Betrug, den er an Ludwig verübt haben sollte, wirklich eine Thatsache, oder lag vielleicht doch auf Seite des Letzteren eine Täuschung vor? Sie fühlte sich unglücklich darüber, daß sie die erste Hälfte dieser Frage nicht mit der ganzen Entrüstung eines kindlichen Vertrauens zurückzuweisen vermochte, und war fest entschlossen, trotz des väterlichen Verbotes um Mitternacht im Zechenhause zu sein, um die kurze Erzählung des Geliebten ausführlicher zu vernehmen.

Die Stadt lag nicht weit vom Dorfe, und der Richter kehrte bald wieder zurück. Als die Stunde gekommen war, in welcher er nach dem Wirthshause zu gehen pflegte, nahm er gute Nacht und verließ den Hof. Nachdem er sich vorsichtig umgeschaut hatte, ob er bemerkt werde oder nicht, ging er um den Letzteren herum und schlug den Fußpfad nach dem Gottesacker ein. Das Gitterthor war verschlossen. Er sprang über eine schadhafte Stelle der Mauer und schritt auf das Häuschen zu, welches seine Geburtsstätte und für seinen Hochmuth ein Gegenstand der ärgerlichsten Erinnerung war.

Aus dem Winkel hinter dem Hause klang das Summen eines Sterbeliedes; es verstummte beim Nahen seiner Schritte.

»Ist wer da?« fragte es zwischen den Büschen hervor.

»Ja. Komm' heraus, Anton.«

»Was willst? Sag' Deinen Namen!«

»Ich bin's, der Frieder!«

»Schon recht. Wart', ich komm' gleich!«

Das Gesträuch theilte sich, und die lange, schmale Gestalt des Klapperbein wurde trotz des abendlichen Dunkels sichtbar.

»Bringst das Geld?«

»Ja. Hast mich gestern doch durch die Selma gemahnt, so daß ich vorhin in die Stadt gefahren bin, um das Fehlende zu borgen. Soll ich Dir es vorzählen?«

»Nein; gieb her und wart'! Ich bring' die Quittung heraus.«

Ein leises, metallisches Klingen ließ sich vernehmen; dann trat der Klapperbein in das Haus. Durch die kleinen Fenster leuchtete einen Augenblick lang der trübe Schein einer Oellampe; sodann wurden die Läden verschlossen. Als der einsame Bewohner des Kirchhofes wieder zum Vorscheine kam, hielt er dem Richter ein Papier entgegen.

»Hier hast die Quittung. Leb' wohl bis übers Jahr!«

»Kannst wohl gar nimmer ›schön Dank‹ sagen für die schwere Leistung, die Du so ruhig entgegen nimmst, als wär's ein Katzenpfennig?«

»Hab's nicht nöthig! Gut' Nacht!«

»Es wird mir bei der jetzigen schlechten Zeit fast zu schwer, dem Land die tausend Thaler jährlich abzuringen. Kannst nicht ein Weniges davon heruntergehen?«

»Tausend Thaler. So steht's geschrieben, und so bleibt's! Schlaf' wohl!«

»Dann bring' ich es das nächste Mal wohl gar nicht zusammen.«

»So nehm' ich den Hof wieder zurück; er trägt mir dann das Doppelte ein. Gut' Nacht!«

Er trat in das Haus, wendete sich aber unter der Thür noch einmal zurück:

»Schubertfrieder, sei mild und gerecht im Amt, sonst kann ich's nicht länger verantworten, daß ich Dir den Richterhof gegeben hab'. Ich hoff', daß ich übers Jahr nicht wieder so zu sagen brauch'!«

Er schlug die Thür hinter sich zu und schnitt damit dem Bauer die Entgegnung ab.

Dieser trat einen Schritt vorwärts, als wolle er ihm folgen, um die scharfen Worte zurückzugeben, drehte sich aber mit einer raschen Bewegung herum und verließ mit absichtlich lauten Schritten den Kirchhof auf dieselbe Weise, wie er ihn betreten hatte. Draußen blieb er halten.

»So, jetzt denkt er, ich bin fort; aber ich kehr' heimlich zurück und belausche ihn! Ich muß wissen, wo er das Geld aufbewahrt! Tausend Thaler Zins so lange Jahr' hindurch, das ist eine Summe, die hier im Dorf kein Einziger beisammen hat! Das Essen bekommt er von mir noch extra, – weiter braucht er fast nichts – und ist also ein steinreicher Mann, trotz seiner lächerlichen Armethei. Ich hätt' ihn nach dem Gesetz gleich damals verklagen sollen; jetzt kann ich's nimmer thun. Er weiß das auch so gut wie ich und fängt darum an, widerwärtig zu thun. Vielleicht nimmt er mir gar einmal den Hof, der erst nach seinem Tod ganz richtig mein sein soll, und dann – ja dann ist's keine Sünd', wenn ich mir meinen Pachtzins wiederhol'!«

Er ging leise eine kurze Strecke an der Mauer hin, stieg an einer anderen Stelle über sie hinweg und schlich sich wieder zum Todtengräberhause zurück. Den Hauptgang her erklangen Schritte. Der Klapperbein war es, welcher sie verursachte.

»Schau den Fuchs, wie klug und vorsichtig er ist!« murmelte Schubert. »Er traut mir wahrhaftig nicht und ist mir nachgegangen, ob ich den Gottesacker auch wirklich verlassen hab'. Wart', Du sollst schon bald inne werden, daß der Richterbauer auch kein Dummkopf ist, und Deinen Thalerplatz, den werd' ich sicher noch heut' entdecken!«

Er trat an den Fensterladen, um zu sehen, ob er nicht durch eine Spalte in die Stube zu blicken vermöge. Der Klapperbein hatte sich an den Tisch gesetzt, das Geld bei Seite geschoben und blätterte in alten Kalendern herum.

»Da kann ich warten und harren, bis es ihm gefällt, den Zins wegzulegen! Aber ich geh' nicht eher fort, als bis ich weiß, wohin er ihn thut. Ich hab' ja Zeit; zu Haus' denken sie, ich bin in der Schänk', und dort meinen sie, daß ich heut' gar nicht fortgegangen bin.«

Er wurde auf eine harte Geduldsprobe gestellt; eine Viertelstunde verging nach der andern, und die Mitternacht war schon nahe, als er endlich von dem Laden zurücktrat.

»Jetzt ist er aufgestanden und hat das Geld gefaßt. Die Blendlaterne ist angezunden; er kommt damit an die Hausthür!«

Er hatte sich nicht getäuscht. Der Klapperbein trat, die Laterne verhüllend, aus dem Hause, horchte einige Secunden lang in die stille, lautlose Nacht hinaus und verschwand dann in der Ecke, welche seinen gewöhnlichen Aufenthalt bildete.[175]

Der Richter zögerte noch kurze Zeit, dann huschte er an das Gebüsch, bog die Zweige so geräuschlos wie möglich auseinander und lugte vorsichtig hindurch. Der dreieckige Raum lag so vollständig im Dunkeln, daß nicht das Geringste zu erkennen war; aber tief unten aus der Erde drang ein spärlicher Lichtschein herauf, – er kam aus dem Grabe, welches der Klapperbein neben dem Hügel der Geliebten für sich bereitet hatte. Der Lauscher schob sich näher und blickte über den Rand in die Tiefe hinab. Eine Leiter führte hinunter. Die Grube correspondirte an ihrem Grunde mit dem Grabe Bertha's, deren Sarg bei dem Schimmer der Laterne deutlich zu erkennen war. Unter seinem Boden mußte sich eine Vertiefung befinden, denn der Klapperbein zog eben den Arm daraus hervor; er hatte das Geld hineingelegt.

»Nun hast Du wieder tausend Thaler zu bewachen! Zu Dir wagt sich kein Dieb, und das Geld ist ja nicht mein, sondern Dein. Ich bin todt, und Du lebst! Ich hab' mich zu Tod' gesündigt, und Du mußt Gutes thun, damit meine arme Seel' zu Gnaden angenommen wird!« klang es dumpf empor.

Der Richter hatte genug gesehen und zog sich eilig zurück. Sein Lauf zwischen den Gräbern hindurch war fast eine Flucht zu nennen, und als er außerhalb des Kirchhofes stand, athmete er in einem so tiefen, keuchenden Zuge auf, als sei er der ihm aus dem Grabe entgegengähnenden Verdammniß entgangen.

»Das war er, der Sarg, in dem sie – sie – sie liegt, in den der Vater damals ihr – ihr – ihre zerschmetterte Leich' hineingebettet hat. Ich konnt' nicht dabei sein; ich konnt's nicht erseh'n! Nun steckt er das Geld zu ihr, damit sie es bewachen soll, der verrückte Richterbauers-Anton, und wenn ich's haben will, muß ich hinabsteigen und es ihr rauben. Die Höll' ist nicht schwerer und schlimmer, als das!«

Er schritt vorwärts. Je weiter er sich vom Kirchhofe entfernte, desto mehr legte sich seine Aufregung.

»Und ich thu's doch! Ich hol' es mir, und wenn sie gleich selbst leibhaftig und lebendig dabeisitzt und es mir verwehren will. Wer todt ist, der ist todt! Sie kann ja nimmer aus dem Sarg hervor und sich vor mich hinstellen, um mir vorzuhalten, daß – daß – halt, da brennt auf einmal die Laterne droben beim Herrgottle! Die hat der Ludewig angesteckt und seine Anklag' in den Kasten gethan. Soll ich hinauf?«

Er blieb sinnend stehen und blickte zur Halde empor, von wo das Licht am Herrgottskreuzle klar und mild herniederleuchtete.

»Wer mag der Herrgottsengel sein? Vielleicht hätt' er doch Lust, dem Ludewig zu helfen; denn der Bub' hat's Allen angethan, und Jeder ist ihm gut. Wenn ich den Brief herausnehm' aus dem Kasten, so ist der Sach' am besten vorgebeugt. Ich steig' hinauf; ich brauch' mich doch bewahre vor dem Zechenhäusle nicht zu fürchten, wo damals – –« er stockte und fügte dann hinzu: »Es ist gar nicht nöthig, hineinzutreten; ich nehm' den Brief und geh' wieder fort. Der Ludewig ist längst schon wieder in das Dorf hinab.«

Er klimmte an der Seite des Berges bis zu dem Strauchwerke empor, aus welchem die Haldenplatte hervortrat. Die kleine Fläche wurde von dem Lichte am Herrgottle vollständig erleuchtet, und es war nicht die geringste Spur von der Anwesenheit eines Menschen zu erkennen. Sich niederduckend, damit er von dem Thale aus nicht etwa gesehen werde, glitt er bis an das Kreuz, öffnete das Kästchen und zog den Brief hervor, welcher in demselben lag. In gebeugter Stellung wieder zurückeilend, hatte er die Sträucher fast erreicht, als behende eine Gestalt aus dem Zechenhause herbeisprang und sich ihm in den Weg stellte.

»Willst wohl den Herrgottsengel spielen, Schubertfrieder? Warum vergissest da, die Laterne auszublasen? Das ist ja das Zeichen, daß der Engel den Brief empfangen hat!«

Erschrocken, fast wie vom Schlage gerührt, streckte der Angeredete die abwehrenden Hände von sich. Bald aber hatte er den Sprechenden erkannt.

»Der Ludewig!« rief er. »Fast hätte ich geglaubt, es sei der Engel Gabriel oder gar der Erzengel Michael selber! Statt dessen aber ist's nur der Erzsmuggelbalzersbub'. Was willst von mir?«

»Gieb die Anklag' heraus; sie gehört in den Kasten!«

»Warum nicht? Ich hab' keine Furcht vor ihr; aber da ich sie einmal ergriffen hab', so werd' ich sie zuvor erst lesen. Vielleicht kann ich von dem Herrgottle seinem Briefschreiber etwas lernen.«

»Der Herr Richterbauer hat nichts mehr zu lernen; er kann Alles, sogar den Wechselbetrug und den Briefraub. Also nun willst auch noch den Herrgott bestehlen, Schubertfrieder? Ich will Dich nicht darüber zur Red' stellen, denn bei mir liegt eine Leich' zu Haus', die Dich im Himmel schon verklagen wird; aber den Brief giebst heraus, sofort und auf der Stell', wenn Du nicht willst, daß ich mir ihn von Dir nehm'!«

»Du – von mir? Versuch's einmal, den Richterbauer anzugreifen! Das Schreiben lautet von mir, und so muß ich wissen, was Du darin geschrieben hast. Geh' fort, sonst zeig' ich Dir den Weg!«

»Den Brief heraus, Schubertfrieder, sonst zeig' ich Dir, wem er gehört!«

Er langte nach dem Papiere. Der Richter schlug ihn auf den Arm, daß dieser niedersank. Im nächsten Augenblicke hatten sie sich gefaßt. Da rief es zitternd und bittend aus der Nähe:

»Laß ihn los, Ludewig; laß ihn los; es ist der Vater!«

»Wer ist das?« brauste der Richter auf. »Das ist ja die Selma!« Er nahm die Hände vom Gegner zurück und ließ vor Ueberraschung den Brief fallen. »Weißt, was ich Dir heut' gesagt hab'? Blitz und Donner kommen auf einen Schlag! Paß auf, Herrgottsengel, wie der Richterbauer sich Gehorsam zu schaffen weiß!«

Er ergriff das Mädchen und riß sie zu Boden. In diesem Augenblicke huschte ein Schatten gedankenschnell über die Fläche. Der Brief wurde aufgegriffen; die Lampe verlöschte im Nu, und eine tiefe, dröhnende Stimme antwortete:[190]

»Paß auf, Richterbauer, wie der Herrgottsengel seine Bittsteller schützt!«

Eine hohe, im Dunkel der Nacht riesengroß erscheinende Gestalt fuhr vor ihm wie aus der Erde empor; ein schwerer, schmetternder Schlag streckte ihn zu Boden nieder, und dieselbe Stimme erklang:

»Der Herrgottsengel hat Euern Brief empfangen! Schlaft ruhig, Ihr Kinder. Gute Nacht!«

Quelle:
Der Herrgottsengel. Erzählung von Emma Pollmer. In: Weltspiegel. 3. Jg. 1879. Heft 4–7. Dresden (1878). Nr. 12, S. 190-191.
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