4.

Mañana de pascua

(Ostermorgen)

Endlich doch noch eingeschlafen, erwachte ich erst durch das Geräusch, welches die Tobas verursachten. Ich stand auf und schlug die Matte ein wenig zurück. Die beiden Greise saßen, von der Morgensonne hell bestrahlt, vorn an der Höhle. Ich trat zu ihnen hinaus; sie begrüßten mich freundlich. Wir bekamen Wasser zum Waschen und zum Trinken und dann Brotfladen, aus zerstoßenen Bohnen selbst gebacken. Auf meine Frage, wie ich den Alten nennen solle, antwortete er:

»Sagen Sie Vater, Sennor. Und nun erzählen Sie mir von den drei Comerciantes, welche uns überfallen wollen!«

Ich that dies, so weit es sich auf den Gambusino bezog; was ich sonst noch erlauscht hatte, das ließ ich als nicht hierher gehörig aus. Als ich fertig war, meinte der Vater mit demselben Lächeln wie gestern:

»Diese Leute mögen beabsichtigen, was Sie wollen, sie sind uns ganz ungefährlich. Ich habe während dieser ganzen Nacht an Sie gedacht, Sennor. Sie sind ein Europäer, ein Deutscher und wohl weit herumgekommen. Vielleicht können Sie mir eine Frage beantworten, welche mir lange und zentnerschwer auf dem Herzen gelegen hat. Ist Ihnen der Name Monaco bekannt?«


»Ja, ich bin es,« antwortete ich. »Die Hände in die Höhe, sonst schieße ich!«
»Ja, ich bin es,« antwortete ich. »Die Hände in die Höhe, sonst schieße ich!«

»Nicht nur der Name, sondern der Ort selbst. Ich war einige Male da.«

»Um zu spielen?«

»Nein; das thue ich grundsätzlich nicht; sondern ich wollte nur diese Hölle mit ihren gefallenen Engeln und hundertfachen Teufeln studieren.«

»Und das haben Sie gethan?«

»Ja.«

Er blickte lange still vor sich nieder; es wurde ihm sichtlich schwer, zu sprechen; dann sagte er:

»Ich habe früher oft von diesem Ort gehört und gelesen. Der Selbstmord soll dort ohne Unterbrechung wüten. Meinen Sie, daß diese Todesfälle eingetragen werden?«

»Hm, wahrscheinlich, vielleicht aber nicht alle.«

»Und daß man für einen ganz bestimmten Fall dort Aufklärung erhalten kann?«

»Das ist nicht unmöglich. Man müßte aber den Namen und die Verhältnisse kennen.«

»Und an wen hätte man sich zu wenden?«

»Von hier aus brieflich etwa?«

»Das hätte sicher keinen Erfolg. Man müßte eine zuverlässige Person beauftragen.«

»Die aber schwer zu finden ist!«

Ich wußte nicht, wo er hinaus wollte, glaubte aber, ihm die Erreichung seiner Absicht erleichtern zu müssen und entgegnete darum:

»Wohl nicht so schwer, wie Sie meinen. Ich zum Beispiel werde wahrscheinlich über Italien heimkehren und kann da Monaco sehr leicht wieder berühren.«

»Sie, Sennor, wirklich, wirklich?« fragte er schnell. »Aber wie wollten Sie Nachricht geben?«

»Das kann doch viel eher brieflich geschehen als die Anfrage. Wissen Sie jemanden, der eine Auskunft wünscht?«

Er wurde plötzlich ein ganz anderer als vorher; er sprang auf und rief:

»Jawohl, Sennor! Ich bin es selbst, ich selbst! Würden Sie sich meiner annehmen? Würden Sie nach Monaco gehen, um zu fragen?«

»Ja, ja. Da Sie es sind, nun ganz gewiß. Ich müßte aber um Namen, Zeit und die sonstigen Angaben bitten.«

»Die sollen Sie haben.«

Er schritt in höchster Erregung in der Höhle auf und ab. Dieser durch Gram, Fasten und Kasteien bis auf das Skelett abgemagerte Mann war mir vorher viel hinfälliger und schwächer erschienen. Dann blieb er wie unter einem raschen, festen Entschlusse vor mir stehen und sagte:

»Es handelt sich um einen Bankierssohn aus Buenos Aires, welcher Riberto hieß; er stahl seinem Vater die Kasse und noch mehr und ging hinüber nach Frankreich und Italien. In Monaco hat er alles, alles verspielt; das ist ganz sicher, und er soll sich dann getötet haben, wie sein Vater erfahren hat. Die Mutter starb vor Kummer, und der Vater ist zum Büßer geworden, um einen Teil der Schuld des Selbst- und Muttermörders auf sich zu nehmen – – –«

Er unterbrach sich und wendete sich ab, um seine Bewegung zu bemeistern. Ich stand da wie einer, dem eine plötzliche Offenbarung wird. Das war ja die Aehnlichkeit, die Nasenwurzel, die Augen, die Stimme! Der Alte war der vormalige Bankier Riberto! Wieder eine jener wunderbaren Fügungen Gottes, welche der Ungläubige für Zufall hält. Ich mußte den Vater trösten, doch recht vorsichtig. Er durfte nicht alles auf einmal erfahren. Der Sohn schien ein Bösewicht jetzt noch zu sein; aber er hatte den Vater gesucht; wenn er ihn fand, so konnte das die Veranlassung zu einer plötzlichen und gründlichen Umkehr sein.

»Wollen Sie sich das merken, Sennor?« fragte der Alte. »Ich werde Ihnen auch die Zeit angeben. Ich muß wissen, ob er sich damals wirklich getötet hat.«

»Ich brauche weder die Zeit noch sonst etwas,« erklärte ich. »Der Name genügt. Auch ist es gar nicht notwendig, daß ich nach Monaco gehe.«

»Nicht? Nicht?« fragte er, indem er mich wie unter dem Aufdämmern einer Ahnung anblickte.

»Nein. Ich habe nämlich erst zufällig von diesem Falle sprechen hören, und sodann – – –«

»Sodann? Weiter, weiter!«

»Zunächst habe ich gehört, daß er sich nicht getötet hat.«

»Nicht, nicht, nicht?« erklang es atemlos.

»Es ist ihm wohl so viel Geld übrig geblieben, daß er der Hölle entrinnen konnte. Dann war er so klug, nach Amerika zurückzukehren.«

»Zurück – – zu – rück – zu – kehren!« stammelte der Vater. »Mein Gott! Wissen Sie das genau, Sennor?«

»Ja. Ich habe wohl sogar mit ihm gesprochen.«

»Wo, wo, wo? Schnell, schnell, Sennor; ich muß es wissen!«

»Ich kann mich leider nicht sofort besinnen. Sie müssen mir Zeit lassen. Es mag Ihnen jetzt genügen, daß er lebt. Wahrscheinlich hat er Sie aufsuchen und um Verzeihung anflehen wollen, Sie aber nicht gefunden. Ich glaube aber kaum, daß Sie ihm dieses schwere Verbrechen vergeben hätten!«

»Nicht vergeben? Herrgott, Herrgott, nicht vergeben! Was wissen Sie von einem Vaterherzen, Sennor! Ich möchte – – –«

Er wurde unterbrochen. Unten vom Felsen herauf ertönte ein scharfer Pfiff. Der Gambusino trat hart an den Rand der Höhle und fragte hinab, wer unten sei.

»Drei Comerciantes,« lautete die Antwort, »welche dem Gambusino Geschenke zu überbringen haben.«

»Das sind die Halunken,« meinte der alte Inka. »Ich weise sie ab!«

»Warten Sie noch,« antwortete ich. »Ich will sie erst sehen.«

Ich schob den Kopf über die Kante der Höhle hinaus und sah hinab. Ja, die drei Comerciantes waren es, aber mit einem vierten, ledigen Pferde; es war Perdidos Pferd; ich erkannte es und erschrak. Hatten sie ihn ermordet? Dann verlor der Vater den Sohn zum zweiten Male. Hier galt es, keine Zeit zu verlieren, sondern so rasch wie möglich handeln.

»Laßt sie von den Pferden steigen und herein in den Hof kommen.« sagte ich. »Die Pferde mögen aber draußen bleiben.«

»Aber – – –« wollte der Gambusino entgegnen.

»Still, Sennor! Es handelt sich um ein kostbares Menschenleben, kostbar auch für Sie, Sennores. Der Vater mag hier bleiben; der Gambusino läßt sie herein. Das Uebrige thue ich mit meinen drei Tobas.«

Um jede Widerrede abzuschneiden, schob ich den Gambusino fort und hinaus auf den Felsenpfad. Er stieg hinab; wir folgten ihm und blieben hinter der Ecke halten. Ich hatte den Stutzen mitgenommen. Nach kurzer Zeit kam der Gambusino mit den Comerciantes über die Trümmer hereingestiegen. Sobald sie sich im Hofe befanden, sprang ich vor, an ihnen vor über, besetzte die Stelle, über welche sie hereingekommen waren, so daß sie nicht zurück konnten, und legte den Stutzen auf sie an.

»Válgame Dios, el Rastreador – Gott stehe uns bei, der Rastreador!« rief der eine von ihnen.

»Ja, ich bin es,« antwortete ich. »Die Hände in die Höhe, sonst schieße ich!«

Mein Kriegsname hatte ihnen Respekt eingeflößt; sie zögerten nicht, zu gehorchen, und hielten ihre Hände hoch über ihre Köpfe empor. Die Tobas mußten ihnen nun die Waffen abnehmen und alle Taschen leeren. Sie wollten sich über dieses Verhalten beschweren; aber ich fuhr sie an:

»Ruhig! Ich habe Euch belauscht, als Ihr am Sonntag Abend im Corral über Eure Pläne spracht. Ich weiß alles, auch was Ihr hier wollt. Wo ist Sennor Perdido?«

»Wir wissen es nicht.«

»Ihr habt doch sein Pferd.«

»Ja; er ist mit uns geritten, stieg aber ab und bat uns, sein Pferd mitzunehmen, er werde nachkommen.«

»Sinnt Euch doch bessere Lügen aus als diese!«

»Es ist so wahr.«

»Meinetwegen! Ich habe keine Lust, meine kostbare Zeit mit Euch zu verlieren. Ein offenes Geständnis könnte mich mild gegen Euch stimmen; nun habt Ihr auf keine Nachsicht zu rechnen. Machen Sie sich zu einem Ritte fertig, Sennor Gambusino. Sie sollen mich begleiten.«

Ich nahm ihn mit, weil er erfahrener als meine Tobas war. Die Comerciantes wurden gefesselt und auf die Erde geworfen; ihre Pferde sollten von den Tobas hereingeschafft werden. Als der Vater hörte, daß wir beide fort wollten, sollte ich ihm ausführlich sagen warum. Ich sagte ihm aber nur kurz, daß es sich um die Rettung eines Beraubten handle.

»So beeilen Sie sich,« drängte er nun. »Vielleicht finden Sie ihn noch am Leben. Leider wurden wir grad gestört, als wir von meinem Sohne sprachen. Ihre Nachricht ist mir auf den gestrigen Trauertag eine wahre Jubelbotschaft gewesen.«

»Wills Gott, wird es auch hierin Ostern werden.«

Wir schafften unsere Pferde hinaus und ritten auf der Spur der Comerciantes zurück. Jetzt war es nicht zu umgehen: ich mußte dem Gambusino sagen, um wen es sich handelte. Sein Erstaunen war groß. Auf dem felsigen Terrain war die Spur leicht zu verlieren; ich hielt sie aber fest, ohne daß der Gambusino mir dabei von Nutzen war. Diese Leute sind zwar für ihre specielle Thätigkeit förmlich abgerichtet, aber mit den echten nordamerikanischen Westmännern lange nicht zu vergleichen.

Es würde zu weit führen, die Einzelheiten unserer Suche zu beschreiben. Perdido war mir und die Comerciantes waren ihm gefolgt. Ich sah an den Spuren, wo sie ihn eingeholt hatten; dann ging eine Fährte nach einer Felsenwand, von welcher früher ein kleiner Wasserfall, den der Zufall abgeleitet hatte, herabgestürzt war. Dieser Wasserfall hatte ein brunnenähnliches, tiefes Loch ausgewirbelt, und in diesem Loche steckte Perdido, im eiskalten Wasser stehend und an Händen und Füßen gebunden. Er war mit Hilfe eines Lasso hinabgelassen worden, und es machte uns nicht wenig Mühe, ihn wieder herauszubringen. Ich erschrak, als er dann vor uns lag. Er war unbeschädigt; aber die Todesangst und der viele Stunden lange Aufenthalt im eiskalten Felsenwasser waren nicht ohne Wirkung geblieben. Er phantasierte, und jedes dritte Wort dabei war Viérnes santo, der Karfreitag. Der Ueberfall war gestern abend geschehen; seitdem hatte er in dem Wasserloche gesteckt, ohne zu erstarren! Aber diese Karfreitagnacht in immerwährender Todesangst hatte ihn innerlich mürbe gemacht und klein gemahlen, wie wir später bemerkten.

Nun war es freilich schwer, ihn zu transportieren. Ich nahm ihn vor mir auf das Pferd, mußte aber alle Kraft aufwenden, um ihn festzuhalten. Er glaubte noch immer im Wasser zu stecken und schrie und jammerte, daß es zum Erbarmen war. Er wollte fort, und oft mußte mir der Gambusino zu Hilfe kommen, sonst hätte er sich meinen Armen entwunden.

Endlich, endlich kamen wir an. Der Gambusino mußte hinauf zum Vater, um diesen vorzubereiten; die Tobas waren mir behilflich, den Geretteten in den Felsenhof zu bringen, wo wir ihn niederlegten. Die Gefühle der drei Comerciantes, als sie uns mit ihm kommen sahen, hätte ich nicht haben mögen. Ich hätte sie freilich am liebsten tüchtig durchpeitschen mögen, und sie hatten jedenfalls eine noch ganz andere Strafe verdient, doch hielt ich das für unter meiner Würde und warf keinen einzigen Blick auf sie. Ich war im stillen dafür, sie laufen zu lassen, natürlich nur dann, wenn Perdido mit dem Leben davonkam. Sollte er aber an der fürchterlichen Erkältung und Todesangst zu Grunde gehen, dann war eine scharfe Strafe ganz am Platze.

Da ertönte oben ein durchdringender Schrei.

»Mein Sohn, mein Sohn!« rufend, kam der Vater den Felsenweg herabgeeilt, warf sich auf Perdido, riß ihn an sein Herz, küßte ihn, nahm ihn dann hoch auf die Arme und stieg mit ihm hinauf zur Höhle. Ich folgte nicht nach. Es war besser, Vater und Sohn waren jetzt allein. Aber ich schickte unsere drei Ponchos hinauf mit der Weisung, sie naß zu machen und den Kranken dann hineinzuwickeln. Nachher kam der Gambusino herab und berichtete mir mit Thränen in den Augen, mit welcher Liebe und Wonne der Vater um den verloren gewesenen und nun wiedergefundenen Sohn, der ihm doch so viel Gram bereitet hatte, beschäftigt sei.

Perdidos Taschen waren von den drei Räubern ausgeleert worden. Da es zunächst nichts anderes zu thun gab, so wurde bestimmt, was ihm gehört hatte; sie mußten es hergeben.

Die Nähe des Vaters war von guter Wirkung auf die Phantasien des Sohnes; er beruhigte sich nach und nach und fiel in einen tiefen, festen Schlaf. Am Nachmittag brach ein tüchtiger Schweiß aus, welcher alle Hoffnung auf eine vollständige Heilung gab.

Auf die Gefangenen wurde natürlich keine Rücksicht genommen. Sie lagen in sehr fest angezogenen Fesseln da, die wir ihnen nicht lockerten, und bekamen weder zu essen noch zu trinken.

Gegen Abend ließ mich der Vater hinauf zu sich bitten. Er drückte mir wohl hundertmal die Hände, sprach dabei aber sehr leise, um den schlafenden Sohn ja nicht zu wecken. Ich mußte ihm erzählen, wie ich Perdido kennen gelernt hatte. Ich that dies ganz der Wahrheit gemäß und beschönigte nichts.

»O, Sennor, er war nicht so schlimm, wie es schien,« sagte er Alte. »Das Gute hat mit dem Bösen in ihm gekämpft, und bei jedem Kampfe kommt bekanntlich das Schlachtfeld am allerschlechtesten weg. Er hat sich nach Vergebung gesehnt und sie doch nicht finden können, weil ich verschwunden war. Das hat ihn verbittert.«

»Woher wissen Sie das, Vater?«

»Aus seinen Phantasien. Und die Nacht im Loche des Wasserfalles muß entsetzlich gewesen sein; seine Irrreden sagen mir auch das. Ich denke, daß diese Nacht zu seinem Heile gewesen ist, und bitte Gott, daß ich mich da nicht irre.«

»Auch ich wünsche das herzlich. Was gedenken Sie denn mit den Comerciantes zu thun?«

»Ich? Nichts. Aber Sie?«

»Mich gehen Sie gar nichts an, denn sie haben mir nichts gethan. Meiner Ansicht nach haben Sie und Ihr Sohn über diese Leute zu entscheiden. Strafe haben sie verdient.«

»Ja. Aber wer soll der Richter sein? Etwa mein Sohn, der selbst anstatt der Strafe Verzeihung finden wird? Oder ich? Sennor, ich glaube, ich bin auch nicht ohne Schuld. Wem eine Menschenblume anvertraut ist, der soll sie pflegen, und wenn sie nicht gerät, so ist nicht allein die Blume schuld. Nein, diese Comerciantes mögen ihre Sachen nehmen und sich davonmachen.«

»Aber erst morgen, damit sie noch Angst auszustehen haben. Wie denken Sie denn nun von Ihrer Zukunft? Werden Sie hier bleiben? Mittel, in die Civilisation zurückzukehren, besitzen Sie wohl nicht?«

»O, der Gambusino, dieser alte Goldsucher, hat viel, viel mehr edles Metall, als ich gestern eingestanden habe. Darüber läßt sich jetzt noch nichts bestimmen. Mag es aber kommen, wie es wolle, wir bleiben Ihre Schuldner, so lange ein Atem in uns ist!«

Der Vater blieb den ganzen Abend bei dem Sohne. Ich saß mit dem Gambusino und den drei Tobas beisammen, bis die Müdigkeit sich meldete und wir zur Ruhe gingen. Früh war ich zeitig munter, als eben die junge Ostersonne den Osten mit purpurnen und goldigen Tinten färbte.


4. Mañana de pascua

Der Gambusino und die Tobas schliefen noch. Die Comerciantes lagen mit offenen Augen und verzerrten Zügen da; sie befanden sich jedenfalls nicht in guter Osterstimmung. Ich stieg leise hinauf zur Höhle. In der großen Abteilung schlief der Kranke, der nun wohl gesund war, denn er atmete ruhig, und sein Gesicht zeigte die frühere Farbe wieder. Sein Vater hatte während der ganzen Nacht bei ihm gewacht und sich erst vor ganz kurzer Zeit in die kleinere Abteilung gelegt. Die aufgehende Sonne schien zur offenen Höhle herein und warf zitternde Lichter auf die Wände derselben. Einige dieser Lichter verirrten sich auf das Gesicht des Schlafenden; sie gaben demselben ein eigentümliches warmes Leben. Es waren nicht mehr die Züge des Perdido vom Madeirastrome, sondern es sprach aus ihnen eine Seele, die er damals nicht besessen hatte.

Da bewegte er sich. Ich wollte zurücktreten, aber schon öffnete er die Augen.

»Sennor, Sie hier?« fragte er halb erstaunt und halb erfreut. »Sie haben – – –«

Er besann sich, und ich trat näher. Sein Auge leuchtete glücklich auf, indem er sagte:

»Ich erwachte, und mein Vater saß bei mir. Ich bat ihn, mich nicht Perdido sondern Hallado, den Wiedergefundenen, zu nennen. Ist es wahr, daß ich bei meinem Vater bin?«

»Ja, Sie sind bei ihm und werden von nun an bei ihm bleiben.«

»Und wem verdanke ich das?«

»Dem guten Gott, der die Schicksale der Menschen wie Wasserbäche lenkt.«

»O, dem guten Gott, von dem ich nichts wissen wollte, Sennor. Erinnern Sie sich Ihrer Worte, daß meine Zunge mir am Gaumen kleben würde? Es ist eingetroffen. Man senkte mich in die kalte Tiefe, daß das Wasser mir bis an den Leib reichte, und deckte das Loch über mir mit Steinen zu. Da habe ich um Hilfe gerufen und um Gnade gebeten; da habe ich Gott um Barmherzigkeit angefleht fort und immerfort, bis mir, wie Sie sagten, die Zunge am Gaumen klebte. Dann weiß ich nichts mehr. Später aber war es mir, als ob ich in Ihren Armen gelegen hätte.«

»Das war allerdings der Fall. Wir hatten Sie aus dem Loch geholt und wollten Sie Ihrem Vater bringen.«

»Wie lange habe ich da unten gesteckt?«

»Gewiß zwölf Stunden lang.«

»Daß ich da nicht gestorben bin! Das war die entsetzliche Leidens- und Karfreitagsnacht. So ist es jetzt Sonnabend früh?«

»Nein, Freitag haben wir Sie hierher gebracht, und bis jetzt haben Sie geschlafen. Es ist Ostermorgen. Sehen Sie die Sonne dort! Wissen Sie, was sie verkündigen will?«

»Christ ist erstanden.«

»Und glauben Sie nun daran?«

»Ja, er ist wahrhaftig auferstanden, Sennor!«

Da kam sein Vater, welcher aufgewacht war und diese Worte gehört hatte, herbei und beugte sich mit Thränen der Freude über ihn. – –

[Fußnoten]

1 Deutschen.


2 Die Cordilleren sind das längs der südamerikanischen Westküste sich hinziehende Hochgebirg.


3 Paraguaythee.


4 Poncho ist ein aus einem viereckigen Stück Tuch bestehender Mantel.


5 Goldsucher.


6 Punas heißen die kalten Hochebenen auf den Cordilleren (besonders in Peru).

Quelle:
Christ ist erstanden! Reiseerzählung von Dr. Karl May. In: Benziger's Marien-Kalender. 1894. Einsiedeln, Waldshut (1893) (Ohne Paginierung).
Lizenz:

Buchempfehlung

Angelus Silesius

Cherubinischer Wandersmann

Cherubinischer Wandersmann

Nach dem Vorbild von Abraham von Franckenberg und Daniel Czepko schreibt Angelus Silesius seine berühmten Epigramme, die er unter dem Titel »Cherubinischer Wandersmann« zusammenfasst und 1657 veröffentlicht. Das Unsagbare, den mystischen Weg zu Gott, in Worte zu fassen, ist das Anliegen seiner antithetisch pointierten Alexandriner Dichtung. »Ich bin so groß als Gott, er ist als ich so klein. Er kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.«

242 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon