Hartknopf lernt den Grobschmidt Kersting kennen.

[79] Der kam links von einem benachbarten Flecken auf einem schmalen Wege über das Torfmoor hergewandert, als die Sonne sich schon zum Untergange neigte – da gesellte er sich zu dem Prediger Hartknopf, dessen erste Predigt in Ribbeckenau er in einem dunkeln Winkel in der Kirche mit lauschendem Ohre vernommen hatte.

Denn er mochte sich der Gemeinde nicht zeigen, weil er eine zu seltene Erscheinung in dieser Kirche war, deren Schwelle bey Lebzeiten des vorigen Pfarrers sein Fuß niemals wieder betrat, nachdem er sich einmal an Gestalt und Gebehrde des Redenden geärgert hatte.

Bei dem ersten Abendgruß aber fand Hartknopf seinen Mann an diesem geraden und unbiegsamen Wanderer durch das Leben, der mit[80] festem Tritt den Boden zeichnete, der ihn trug, mit freiem Auge in die Weite um sich her blickte, und mit wohlwollenden Anstande Hartknopfen seine Rechte bot.

Dieser Grobschmidt Kersting war ein stiller Einwohner in Hartknopfs Pfarrdorfe – allein er war wegen seiner Geschicklichkeit in Pferdekuren in der ganzen umliegenden Gegend berühmt.

Daß er aber auch Menschenkuren durch die Zaubermittel einer wohlabgewogenen, aus dem Innersten des Herzens strömenden Beredsamkeit verrichtete, darum rühmte ihn niemand, denn niemand wußte es, der gebessert von ihm gieng, durch wessen Rath er gebessert sey, – weil Kersting den Menschenarzt unter dem Pferdearzt und Grobschmidt so fein zu verstecken wußte, daß ihn unter dieser groben Hülle niemand ahndete.

Ich lernte diesen merkwürdigen Mann, welchen ich, da ich Hartknopfen besuchte, in Ribbeckenau nicht vorfand, erst viele Jahre nachher, auf einer Reise von Hannover nach Braunschweig, auf dem Postwagen kennen, nachdem er schon lange in einer ganz andern Lage gewesen[81] war, und doch noch immer Vergnügen daran fand, unter dem Titel eines Grobschmidts seinen Rang und Werth unter den Menschen vor neugierigen Augen zu verdecken.

Denn, so wie viele die Sucht haben, mehr zu scheinen als sie sind; so hatte er den Fehler weniger scheinen zu wollen als er war.

O wie fühlte ich damals mein Herz erweitert, als ich diesen simplen Mann, der sich beim Ausfahren am Stadtthore als Grobschmidt angegeben hatte, auf dem Postwagen hinter mir sitzend, mit seinem zehnjährigen Sohne Worte der Weisheit, eine seltne Sprache reden hörte, die nur hier und da aus einem Munde noch wiederhallt, damit sie im Gedächtniß der Menschen nicht ganz verlösche. –

Seine Worte hoben allmälig die Scheidewand weg, die durch Alter, Sitten, Stand und Sprache Menschen von Menschen sondert. –

Die Menschen fanden sich und kannten sich wieder vom Aufgange bis zum Niedergange und wunderten sich, so lange sich verkannt zu haben. –[82]

Der hohe Gedanke der immerwährenden sich stets verjüngenden Menschheit durchbebte die Seele. –

Wir hatten die Wälle und Thürme von Braunschweig schon im Angesicht – wir alle waren einige Minuten still – der Knabe schmiegte sich gerührt an seinen Vater – und ein armer pohlnischer Jude, der mitfuhr, hub in hebräischer Sprache den Psalm an herzusagen.

»Wenn die Hülfe aus Zion kommen wird, dann werden wir seyn wie die Träumenden.«

»Dann wird unser Mund voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens seyn.«

»Da wird man sagen unter den Heiden: Der Herr hat Großes an ihnen gethan;«

»Der Herr hat Großes an uns gethan; des sind wir frölich.«

»Herr, wende unser Gefängniß, wie du die Wasser gegen Mittag trocknest.«

»Die mit Thränen säen, werden mit Freuden erndten.«

»Sie gehen hin und weinen, und tragen edlen Saamen, und kommen mit Freuden, und bringen ihre Garben.«[83]

Der Jude dachte nicht daran, ob ihn jemand verstand, oder nicht, da er den Psalm hersagte, und alles war aufmerksam und still im sympathetischen Mitgefühl der Menschheit, die sich sehnet, dem Druck entnommen zu seyn, der auf ihr liegt, und in ihrer angestammten Grüße wieder zu schimmern.

Der Grobschmidt Kersting stieg vor dem Thor vom Wagen ab, und ließ uns in einem angenehmen Staunen zurück über den wunderbaren Mann, den wir in unsrer Mitte gehabt hatten.

Nie werde ich seine Gestalt und die Würde und Wahrheit in seinem Blick vergessen, womit er die Gemüther beherrschte – denn damahls ruhte auch Hartknopfs Geist auf ihm, mit dem er nun bei Sonnenuntergange auf Ribbeckenau zuwanderte, und zum erstenmal die süßen Worte der Erkennung vom Anbeginn verwandter Seelen mit ihm wechselte.

Diese Erkennungsworte lösen sich immer wieder in einen einzigen hohen Begrif auf, der heißt:


Humanitas.

Quelle:
Karl Philipp Moritz: Andreas Hartkopf. Prediger Jahre, Berlin: Johann Friedrich Unger, 1790. , S. 79-84.
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