Dreizehntes Kapitel.

[166] Stern fährt fort. Weitere Erlebnisse Havelaars auf Sumatra. Frau Sloterings scheues Wesen. Eine Abschweifung.


»Und kann man nun erfahren, warum Sie eigentlich suspendiert waren?« fragte Düclari.

»O ja; denn da ich alles, was ich hierüber zu sagen habe, als die Wahrheit geben kann, und sogar als noch nachweisbar, werden Sie daraus sehen, daß ich nicht leichtfertig handelte, als ich, in meiner Erzählung über das vermißte Kind, das Gerede von Padang nicht gänzlich verwarf, da man sie sehr glaubhaft finden wird, sobald man diesen General aus den Dingen, die mich betreffen, kennen lernt.

In meinen Kassen-Rechnungen zu Natal waren Ungenauigkeiten und Versäumnisse. Sie wissen, daß jede Ungenauigkeit auf Verlust hinausläuft, niemals hat man durch Nachlässigkeit Überschuß. Man behauptete, daß es sich um Tausende handelte. Aber es ist zu beachten, daß man mich, so lange ich zu Natal war, nie darauf aufmerksam gemacht hatte. Ganz unerwartet empfing ich eine Versetzung nach dem Padangschen Oberlande. Sie wissen, Verbrügge, daß auf Sumatra eine Stellung in dem Oberlande von Padang vorteilhafter und angenehmer ist als in der nördlichen Residentschaft.[166] Da ich kurz zuvor den Gouverneur bei mir gesehen hatte – Sie sollen später erfahren, warum und wie – und da während seiner Anwesenheit in dem Bezirk und selbst in meinem Hause Dinge vorgefallen waren, in deren Behandlung ich meinte mich sehr geschickt benommen zu haben, nahm ich diese Versetzung als eine Auszeichnung auf und zog von Natal nach Padang. Ich machte die Reise auf einem französischen Schiff, dem ›Baobab‹ von Marseille, das zu Atjin Pfeffer eingeladen hatte und natürlich zu Natal ›an Trinkwasser Mangel hatte.‹ Sobald ich zu Padang ankam, mit der Absicht, nach den Binnenlanden weiter zu gehen, wollte ich pflichtgemäß dem Gouverneur meinen Besuch abstatten. Er ließ mir jedoch sagen, daß er mich nicht empfangen könne, und gleichzeitig, daß ich meine Abreise nach meinem neuen Standort verschieben solle, bis Befehl dazu käme. Sie begreifen, daß ich darüber sehr verwundert war, um so mehr, als er mich zu Natal in einer Stimmung verlassen hatte, die mich zu dem Glauben brachte, bei ihm gut angeschrieben zu sein. Ich hatte wenig Bekanntschaften zu Padang; aber von den wenigen hörte ich, oder besser, ich merkte es ihnen an, daß der Gouverneur sehr ungnädig gegen mich gesonnen war. Ich sagte, daß ich es merkte, denn auf einem Außenposten, wie Padang einer war, kann das Wohlwollen vieler dienen als Gradmesser der Gnade, die man in den Augen des Gouverneurs gefunden hat. Ich fühlte, daß ein Sturm bevorstand, ohne zu wissen, aus welcher Ecke der Wind kommen würde. Da ich Geld brauchte, fragte ich bei diesem und jenem darum an, und war in der That erstaunt, als man mir überall eine ablehnende Antwort gab. Auf Padang, wie auch sonst in Indien, war die Stimmung in dieser Beziehung sonst im allgemeinen recht gut. Man hätte in einem anderen Falle mit Vergnügen einem Kontroleur, der auf der Reise war und gegen seine Erwartung irgendwo aufgehalten wurde, einige hundert Gulden vorgeschossen. Mir aber verweigerte man jede Hilfe. Ich drang bei einigen darauf, mir doch den Grund des Mißtrauens anzugeben, und allmählich erfuhr ich denn, daß man in meinen geldlichen Maßnahmen zu Natal Fehler und Versäumnisse entdeckt hatte, die mich in den Verdacht ungetreuer Verwaltung gebracht hatten. Daß Fehler in meiner Handhabung waren, befremdete mich nicht; das Gegenteil hätte mich in Erstaunen gesetzt. Aber es wunderte mich, daß der Gouverneur, der persönlich Zeuge gewesen war, wie ich beständig fern von meinem Bureau mit der Unzufriedenheit[167] der Bevölkerung und mit den Versuchen zu einem Aufstand zu kämpfen gehabt hatte, daß er, der mich selbst wegen dessen, was er ›Beherztheit‹ – ›Kordatheit‹ – nannte, belobt hatte, dem den Namen Untreue oder Unehrlichkeit geben konnte; denn er wußte doch besser als jeder andere, daß von durchaus nichts anderem die Rede sein konnte als von höherer Gewalt!

Und leugnete man selbst die höhere Gewalt, und wollte man mich verantwortlich machen für Fehler, die in Augenblicken vorgekommen waren, da ich, oft in Lebensgefahr, fern von der Kasse und was damit zusammenhing, die Verwaltung anderen anvertrauten mußte, wollte man sogar verlangen, daß ich, das eine thuend, das andere nicht unterlassen sollte: so konnte ich doch höchstens einer Nachlässigkeit schuldig sein, die mit ›Untreue‹ nichts zu thun hatte. Es waren außerdem, in diesen Tagen vor allem, Beispiele, daß die Regierung die schwierige Lage vieler Beamten einsah, und es schien daher auch ›im Prinzip‹ angenommen, bei solchen Gelegenheiten etwas durch die Finger zu sehen. Man begnügte sich, von den betroffenen Beamten die Erstattung des Fehlenden einzufordern, und es mußten bereits sehr klare Beweise vorliegen, ehe man das Wort ›Untreue‹ aussprach. Das war so allgemeine Ansicht, daß ich zu Natal dem Gouverneur selbst gesagt hatte, ich fürchte, nach der Nachprüfung meiner Rechnungen in den Bureaus zu Padang, viel bezahlen zu müssen, worauf er mir mit Achselzucken antwortete: ›Ach ... die Geldsachen ...‹ als fühle er selbst, daß das Wichtigere dem Geringeren vorangehen müsse.

Nun erkenne ich gewiß an, daß Geldsachen wichtig sind. Aber wie wichtig sie auch seien, waren sie doch in diesem Falle anderen Zweigen von Sorge und Geschäften untergeordnet. Wenn etwa durch Nachlässigkeit einige Tausend in meiner Verwaltung zu kurz gekommen waren, so nenne ich das selbst an sich keine Kleinigkeit; aber wenn diese Tausende fehlten infolge meiner glücklichen Anstrengungen, dem Aufstand zuvorkommen, die den Landstrich von Mandheling in Feuer und Flamme setzen sollte und die Atjinesen zurückkehren lassen nach den Plätzen, aus denen wir sie eben erst mit großen Opfern an Geld und Volk vertrieben hatten, dann fällt die Wichtigkeit von so etwas doch etwas geringer aus, und es wird sogar einigermaßen unbillig, die Zurückbezahlung von jemand zu fordern, der unendlich größere Interessen gerettet hatte.[168]

Und doch wäre ich mit einer solchen Zurückforderung einverstanden gewesen; denn durch das Unterlassen der Forderung würde man der Unehrlichkeit eine weite Thür öffnen.

Nach Tagen Wartens, Sie begreifen, in welcher Stimmung, erhielt ich von dem Sekretär des Gouverneurs einen Brief, in dem man mir zur Kenntnis gab, daß ich im Verdacht der Untreue stände, mit dem Auftrage, mich auf eine Zahl von Ausstellungen, die man an meiner Gebarung gemacht hatte, zu verantworten. Einige davon konnte ich sofort erklären, für andere brauchte ich die Akten, und vor allem war es für mich wichtig, den Sachen zu Natal selbst nachzuforschen. Ich hätte bei Schreibern und Angestellten die Ursachen der Fehler untersuchen können, und höchst wahrscheinlich wäre es mir dann geglückt, alles zur Klarheit zu bringen. Das Versäumnis einer Buchung zum Beispiel von Geldern, die nach Mandheling gesandt worden waren – Sie wissen, Verbrügge, daß die Truppen des Binnenlandes aus der Natalschen Kasse besoldet wurden – oder dergleichen, was mir vermutlich sofort klar geworden wäre, wenn ich es am Platze selbst hätte untersuchen können, hatten vielleicht den Anlaß zu den verdrießlichen Fehlern gegeben. Aber der General schlug mir das Gesuch, mich nach Natal zurückgehen zu lassen, ab. Diese Weigerung schadete mir mehr als die befremdliche Weise, wie man die Beschuldigung der Untreue gegen mich angebracht hatte. Warum war ich denn von Natal unerwartet versetzt worden, und noch dazu mit dem Schein des Wohlwollens, wenn ich im Verdacht der Untreue stand? Warum teilte man mir diese entehrende Vermutung erst mit, da ich von dem Platze fort war, wo ich Gelegenheit gehabt hätte, mir zu verantworten? Und warum wurde die Sache gegen mich sofort in das ungünstigste Licht gestellt, im Gegensatz zu Brauch und Billigkeit?

Bevor ich noch alle die Anstände beantwortet hatte, so gut ich es ohne Archiv und mündliche Erklärungen konnte, hörte ich, daß der General deshalb so ungehalten gegen mich sei, weil ich ihn zu Natal so ›kontrariiert‹ hatte, woran ich denn auch, hieß es, ›sehr falsch gehandelt‹ habe.

Da ging mir ein Licht auf. Ja, ich hatte ihn ›kontrariiert‹; aber in dem naiven Glauben, daß er mich darum achten würde. Ich hatte ihn kontrariiert, aber bei seiner Abreise hatte nichts mich vermuten lassen, daß er darüber ärgerlich wäre. Dumm genug hatte ich die günstige Versetzung nach Padang angenommen, als einen Beweis, daß er mein ›Kontrariieren‹[169] schön gefunden hatte. Sie werden sehen, wie wenig ich ihn kannte.

Aber als ich hörte, daß das die Ursache der Schärfe wäre, mit der man meine Kassengebarung beurteilte, war ich mit mir selbst zufrieden. Ich beantworte die Ausstellungen Punkt für Punkt, so gut ich konnte, und endigte meinen Brief – ich besitze die Abschrift noch – mit de Worten:


›Ich habe die auf meine Verwaltung gefallenen Ausstellungen, so gut es ohne Archiv und Nachforschung am Orte möglich war, beantwortet. Ich ersuche Euer Hochedelgestrengen, von allen wohlwollenden Rücksichten gegen mich abzusehen. Ich bin jung und unbedeutend, im Vergleich mit der Macht der herrschenden Begriffe, gegen die meine Grundsätze mich zwingen aufzutreten, aber ich bleibe nichtsdestoweniger stolz auf meine moralische Unabhängigkeit, stolz auf meine Ehre.‹


Tags darauf war ich suspendiert wegen untreuer Verwaltung. Der Justiz-Offizier wurde beauftragt, ›Amt und Pflicht‹ in Bezug auf mich zu beachten.

Und so stand ich nun da in Padang, kaum dreiundzwanzig Jahre alt, und blickte in die Zukunft, die mir Erlösung bringen sollte. Man riet mir, mich auf meine jungen Jahre zu berufen – ich war noch nicht mündig, als die angegebenen Versehen stattfanden – aber das wollte ich nicht. Ich hatte doch schon zu viel gedacht und gelitten, und ich wage zu sagen, auch schon zuviel gearbeitet, als daß ich mich hinter meine Jugend verstecken sollte. Sie sehen aus dem Schluß des Briefes, den ich eben anführte, daß ich nicht als ein Kind behandelt sein wollte, ich, der ich zu Natal dem Gouverneur gegenüber meine Pflicht als Mann gethan hatte, und zugleich konnte man aus diesem Briefe sehen, wie grundlos die Beschuldigung war, die man gegen mich vorbrachte; denn wer schuldig ist, schreibt anders.

Man setzte mich nicht gefangen, und das hätte doch geschehen müssen, wenn es mit der Beschuldigung ernst gewesen wäre. Vielleicht war diese scheinbare Versäumnis nicht ohne Grund. Dem Gefangenen ist man immerhin Unterhalt und Speise schuldig. Da ich Padang nicht verlassen konnte, war[170] ich in Wirklichkeit doch ein Gefangener, aber ein Gefangener ohne Dach und ohne Brot! Ich hatte, allerdings erfolglos, mehrmals an den General geschrieben, daß er meine Abreise von Padang nicht hindern möge, denn selbst wäre ich schuldig, dürfte doch keine Missethat durch Hungerleiden bestraft werden.

Nachdem der Rechtsrat, der mit er Sache zu thun hatte, den Ausweg gefunden hatte, sich unzuständig zu erklären, da eine Verfolgung wegen dienstlicher Vergehen nur auf Ermächtigung durch die Regierung zu Batavia stattfinden darf, hielt mich der General, wie ich sagte, neun Monate zu Padang. Er empfing schließlich von hoher Hand den Befehl, mich nach Batavia ziehen zu lassen.

Als ich ein paar Jahre später Geld hatte – beste Tine, du hattest es mir gegeben – bezahlte ich einige tausend Gulden, um die Natalschen Kassenrechnungen von 1842 und 43 glatt zu machen. Damals sagte jemand, der dafür angesehen werden kann, die Regierung von Niederländisch-Indien vorzustellen: ›Das hätte ich nicht gethan, ich hätte einen Wechsel auf die Ewigkeit ausgestellt.‹

So geht's in der Welt!«


* * *


Gerade wollte Havelaar einen Anfang mit der Geschichte machen, die seine Gäste von ihm erwarteten, und die erklären sollte, wie und warum er den Gouverneur zu Natal »kontrariiert« hatte, als Mewrouw Slotering sich auf der Vorgalerie ihrer Wohnung blicken ließ und dem Polizei-Aufseher winkte, der nahe bei Havelaars Hause auf einer Bank saß. Dieser begab sich zu ihr und rief darauf einem Manne, der eben das Grundstück betreten hatte, etwas zu. Der Mann hatte sich wohl nach der Küche begeben wollen, die hinter dem Hause lag. Unsere Gesellschaft hätte wahrscheinlich nicht darauf geachtet, wenn nicht am Mittag bei Tische Mewrouw Havelaar gesagt hätte, daß Mewrouw Slotering so scheu wäre und eine Art von Aufsicht zu üben schien über jeden, der das Grundstück betrat. Man sah den Man, der durch den Aufpasser gerufen war, zu ihr herangehen, und es schien, daß sie ihn ins Verhör nahm, was nicht zu seinem Vorteil ablief. Denn er wandte seine Schritte und lief zurück nach draußen.

»Das ist ärgerlich,« sagte Tine, »das war vielleicht einer, der Hühner zu verkaufen hatte oder Gemüse; ich habe noch nichts im Hause.«[171]

»Laß nur jemand danach ausschicken,« antwortete Havelaar. »Du weißt, daß inländische Damen gern Autorität üben. Ihr Mann war früher die erste Person hier, und wie wenig ein Adsisten-Resident auch eigentlich bedeutet, in seinem Bezirk ist er ein kleiner König. Sie ist noch nicht an die Entthronung gewöhnt. Wir wollen der armen Frau das Vergnügen nicht nehmen; thue, als ob du nichts merktest.«

Das fiel nun Tine nicht schwer; sie machte sich nichts aus Autorität.

Eine Abschweifung ist hier nötig, und ich will sogar abschweifen über Abschweifung. Es ist für einen Schriftsteller nicht leicht, gerade zwischen den Klippen des Zuviel und Zuwenig hindurchzusegeln, und die Schwierigkeit wird um so größer, wenn man Zustände beschreibt, die den Leser auf unbekannten Boden versetzen müssen. Es ist eine zu nahe Beziehung zwischen Ort und Ereignis, als daß man die Beschreibung der Örtlichkeiten ganz sollte entbehren können, und das Vermeiden der zwei Klippen, die ich meine, wird doppelt schwierig für einen, der Indien zum Schauplatz seiner Erzählung gewählt hat. Denn wo der Schriftsteller, der europäische Zustände behandelt, viele Dinge als bekannt voraussetzen kann, muß der, der sein Stück in Indien spielen läßt, sich fortwährend fragen, ob der nicht-indische Leser diesen oder jenen Umstand auch richtig auffassen wird. Wenn der europäische Leser sich vorstellt, daß Mewrouw Slotering bei den Havelaars »logiert,« so wie das in Europa stattfinden würde, so muß es ihm unbegreiflich vorkommen, daß sie nicht bei der Gesellschaft ist, die den Kaffee in der Vorgalerie einnahm. Ich habe zwar bereits gesagt, daß sie ein besonderes Haus bewohnte, aber zum rechten Verständnis davon, und auch von späteren Ereignissen, ist es in der That nötig, daß ich von Havelaars Haus und Grundstück eine Beschreibung gebe.

Der Vorwurf, den man dem großen Meister, der den »Waverley« schuf, öfters macht, daß er oft die Geduld seiner Leser mißbraucht, indem er viele Seiten der Beschreibung der Örtlichkeiten widmet, kommt mir grundlos vor; und ich glaube, daß man sich, um einen solchen Vorwurf richtig beurteilen zu können, einfach die Frage vorlegen solle: war diese Beschreibung nötig, um den richtigen Eindruck zu bekommen, den der Schriftsteller beabsichtigte? Wenn ja, so deute man es ihm nicht als Fehler, daß er von euch die[172] Mühe verlangt, zu lesen, was er sich die Mühe gab zu schreiben; – wenn nein, so werfe man das Buch weg, denn der Schriftsteller, der gewissenlos genug ist, um ohne Not Topographie an Stelle von Gedanken zu geben, wird wohl auch selten der Mühe wert sein, ihn zu lesen, auch wo seine Platzbeschreibung endlich ein Ende nimmt. Aber auch das Urteil des Lesers über das Notwendige oder Überflüssige einer Abschweifung ist oftmals falsch, weil er vor der Katastrophe nicht wissen kann, was zur richtigen Entwicklung der Zustände erforderlich ist oder nicht; und wenn er nach der Katastrophe das Buch noch einmal vornimmt – von Büchern, die man nur einmal liest, spreche ich nicht – und auch dann noch meint, daß diese oder jene Abschweifung wohl hätte unterbleiben können, ohne daß der Eindruck des Ganzen etwas verloren hätte, so bleibt doch noch die Frage, ob er von dem Ganzen wirklich diesen Eindruck gehabt hätte, wenn der Schriftsteller ihn nicht auf mehr oder minder künstliche Weise dazu gebracht hätte, vielleicht gerade durch die Abschweifungen, die ihm überflüssig vorkommen.

Meint ihr, daß Amy Robsarts Tod euch so packen würde, wenn ihr ein Fremdling wäret in den Hallen von Kenilworth? Und glaubt ihr, daß kein Zusammenhang besteht – Zusammenhang durch Kontrast – zwischen der reichen Kleidung, in der der nichtswürdige Leicester sich ihr zeigte, und der Schwärze seiner Seele? Fühlt ihr nicht, daß Leicester – jeder weiß es, der ihn aus anderen Quellen als aus diesem Roman allein kennt – daß er unendlich schlechter war, als er in »Kenilworth« gezeichnet wird? Aber der große Romanschreiber, der lieber durch kunstreiche Anordnung der Farben fesselte als durch Grobheit der Farbe, achtete es seiner unwürdig, den Pinsel in all den Schlamm und all das Blut zu tauchen, das an dem unwürdigen Günstling der Elisabeth klebte. Er wollte nur einen Fleck in dem Sumpfe zeigen; aber er verstand es, solche Flecken ins Auge fallen zu lassen durch das, was er in seinen unsterblichen Werken ihnen zur Seite stellte. Wer nun das Danebengestellte als überflüssig verwerfen will, verliert ganz aus dem Auge, daß man dann, um Effekt zustande zu bringen, zu der Schule übergehen müßte, die seit 1830 so lange in Frankreich geblüht hat, wenn[173] ich auch sagen muß, zur Ehre des Landes, daß die Schriftsteller, die hier gegen den guten Geschmack am meisten sündigten, gerade im Auslande, und nicht in Frankreich selbst, am höchsten geschätzt wurden. Diese Schule – ich glaube, daß sie ausgeblüht hat – fand es bequem, mit vollen Händen in Tümpel von Blut zu greifen und dann große Kleckse auf die Malerei zu werfen, daß man sie weithin sehen sollte. Die sind denn auch leichter zu schildern, die dicken Striche von Rot und Schwarz, als die feinen Linien auszupinseln, die im Kelch einer Lilie stehen. Darum wählte diese Schule denn auch meist Könige zu Helden ihrer Erzählungen, am liebsten aus der Zeit, da die Völker noch unmündig waren. Die Betrübnis des Königs übersetzt man auf dem Papier in Volksgeheul; sein Zorn bietet dem Dichter Gelegenheit, Tausende auf dem Schlachtfelde zu töten; seine Fehler geben Anlaß, Hungersnot und Pestilenz zu schildern – das giebt Arbeit für grobe Pinsel. Bist du nicht gerührt durch die Leiche des Mannes, der da liegt, in meiner Erzählung ist noch Platz für einen anderen, der noch zuckt und stöhnt; hast du nicht geweint mit der Mutter, die erfolglos nach ihrem Kinde suchte, ich zeige dir eine andere Mutter, die ihr Kind vierteilen sieht; bleibst du gefüllos bei dem Martertode dieses Mannes, gut, ich verhundertfache dein Gefühl, indem ich noch neunundneunzig hinterher martern lasse; bist du verstockt genug, um nicht zu schaudern, wenn du den Soldaten siehst, der in der belagerten Festung aus Hunger seinen linken Arm verzehrt ... Epikuräer! ich verspreche dir zu kommandieren: Rechts und links, formiert den Kreis, jeder esse den linken Arm von seinem rechten Nebenmanne auf, vorwärts – marsch! Ja, so geht die Kunsthäßlichkeit über in Albernheit ... was ich im Vorbeigehen beweisen wollte.

Und doch würde man gerade dahin verfallen, wenn man zu eilig einen Schriftsteller verurteilte, der euch auf seine Katastrophe vorbereiten möchte, ohne zu den schreienden Farben seine Zuflucht zu nehmen.

Aber die Gefahr der anderen Klippe ist noch größer. Ihr verachtet die Regungen der groben Litteratur, die mit so plumpen Waffen auf euer Gefühl meint einstürmen zu müssen. Aber wenn der Schriftsteller in das andere Extrem verfällt, wenn er sündigt durch zu viel Abschweifung von der Hauptsache, durch zu viel Pinselei, dann ist euer Zorn noch stärker. Und mit Recht, denn ihr habt euch gelangweilt, und das ist das Schlimmste.[174]

Wenn wir zusammen wandern und du weichst immer vom Wege ab und rufst mich in das Gebüsch, nur um die Wanderung zu verlängern, finde ich das unangenehm und nehme mir vor, lieber allein zu gehen. Wenn du mir aber da eine Pflanze zu zeigen weißt, die ich noch nicht kannte, oder an der etwas zu sehen ist, was früher meiner Betrachtung entging; wenn du mir von Zeit zu Zeit eine Blume zeigst, die ich gern pflücke und im Knopfloche mitnehme, dann verzeihe ich dir das Abweichen vom Wege, ja ich bin sogar dankbar dafür.

Und auch ohne Blume oder Pflanze, wenn du mich zur Seite rufst, um mir durch die Bäume hin den Pfad zu zeigen, den wir später betreten werden, der aber jetzt noch fern in der Tiefe vor uns liegt und als kaum sichtbares Streifchen sich da unten durch das Gelände schlingert, auch dann nehme ich dir die Abschweifung nicht übel. Denn wenn wir endlich so weit gekommen sind, werde ich wissen, wie unser Weg sich durch das Gebirge hin und her gewunden hat, wie es kommt, daß wir die Sonne, die eben noch dort stand, jetzt links haben, warum der Hügel nun hinter uns liegt, dessen Gipfel wir vor kurzem vor uns sahen ... dann hast du mir durch die Abweichung das Verständnis meiner Wanderung erleichtert, und Verstehen ist Genuß.

Ich habe dich, lieber Leser, oftmals in meiner Geschichte auf dem großen Wege gelassen, wenn es mich auch Mühe kostete, dich nicht in das Gebüsch mitzunehmen. Ich fürchtete, daß die Wanderung dich verdrießen könnte, da ich nicht wußte, ob du an den Blumen oder Pflanzen, die ich dir zeigen wollte, Geschmack finden würdest. Weil ich aber glaube, daß es dir später Vergnügen machen wird, den Pfad gesehen zu haben, den wir nachher betreten werden, möchte ich dir etwas von Havelaars Haus erzählen.

Es wäre falsch, sich von einem Hause in Indien eine Vorstellung nach europäischen Begriffen zu machen, und sich etwa eine Steinmasse von aufeinander gestapelten Zimmern und Kämmerchen zu denken, mit der Straße davor, und rechts und links Nachbarn, deren Penaten sich an die deinigen anlehnen, und ein Gärtchen mit drei Besenbäumchen dahinter. Mit wenigen Ausnahmen haben die Häuser in Indien keine Etagen. Das kommt dem Europäer sonderbar vor, denn es ist eine Spezialität der Kultur, alles sonderbar zu finden, was natürlich ist. Die indischen Häuser sind ganz anders als unsere, aber nicht sie sind sonderbar, unsere Häuser sind[175] sonderbar. Der Mann, der sich zuerst den Luxus gestatten konnte, nicht mit seinen Kühen in einem Raume zu schlafen, hat die zweite Stube des Hauses nicht auf, sondern neben die erste gesetzt, denn das Bauen zu ebener Erde ist einfacher und bietet auch mehr Bequemlichkeiten beim Bewohnen. Unsere hohen Häuser haben ihren Ursprung im Raummangel. Wir suchen in der Luft, was am Boden fehlt, und so ist eigentlich jedes Dienstmädchen, das des Abends das Fenster ihrer Dachkammer, in der sie schläft, zumacht, ein Protest gegen die Übervölkerung – wenn sie auch an ganz etwas anderes denkt, was ich gern glauben will.


Dreizehntes Kapitel

In Ländern also, wo die Kultur und die Übervölkerung noch nicht, durch Zusammenpressung unten, die Menschen nach oben emporgedrückt haben, sind die Häuser ohne Stockwerke, und das Haus Havelaars gehörte nicht zu den wenigen Ausnahmen. Wenn man hineintrat – doch nein, ich will zeigen, daß ich von allem Anspruch auf malerische Schilderung Abstand nehme. Man nehme also: ein langgezogenes Viereck, das man in einundzwanzig Fächer einteile, drei Teile breit, sieben lang. Man numeriere die Fächer, indem man links oben beginne, nach rechts, eins, zwei, drei, sodaß vier unter eins kommt, und so bis zu Ende.

Die ersten Nummern zusammen bilden die Vorgalerie, die an drei Seiten offen ist, und deren Dach vorn auf Säulen ruht. Von da tritt man durch zwei Doppelthüren in die innere Galerie, die durch die drei folgenden Fächer gebildet wird. Die Fächer 7, 9, 10, 12, 13, 15, 16 und 18 sind Zimmer, von denen die meisten durch Thüren mit dem nächsten in Verbindung stehen. Die drei letzten Nummern (19, 20, 21) bilden die offene Hintergalerie, und was ich auslasse, ist eine Art geschlossener Korridor. Ich bin recht stolz auf die Beschreibung.

Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll, um den indischen Begriff eines Grundstücks wiederzugeben. Ein[176] Grundstück bezeichnet dort weder Garten, noch Park, noch Feld, noch Wald, sondern entweder etwas davon, oder alles zusammen, oder nichts von allem. Es ist der Grund und Boden, der zu dem Hause gehört, soweit er nicht von dem Hause bedeckt ist. Es giebt da wenige oder gar keine Häuser ohne so ein Grundstück. Einige umfassen Busch und Garten und Wiese und erinnern an einen Park, andere sind Blumengärten, anderswo wieder ist das Ganze eine einzige große Graswiese, und endlich giebt es solche, die sehr einfach darstellt werden durch einen gepflasterten Hof, was vielleicht für das Auge weniger angenehm ist, aber die Reinlichkeit in den Häusern befördert, da durch Gras und Bäume viele Insekten herangezogen werden.

Havelaars Grundstück war sehr groß, ja, wie sonderbar es klinge, an einer Seite konnte man es unendlich nennen, denn es grenzte an eine Schlucht, die bis an die Ufer des Tjudjung, des Flusses, der Rangkas-Betung in einer seiner vielen Windungen umschließt, reichte. Es war schwer zu bestimmen, wo das Grundstück der Wohnung des Adsistent-Residenten aufhörte, und wo das Gemeindeland anfing, infolge der Veränderungen des Tjudjung, der einmal seine Ufer auf Gesichtsweite zurückzog und dann wieder die ganze Schlucht bis dicht an Havelaars Haus anfüllte, und so fortwährend die Grenze veränderte.

Diese Schlucht war denn auch Mewrouw Slotering stets ein Dorn im Auge gewesen, und das war sehr begreiflich. Der Pflanzenwuchs, schon so wie so in Indien sehr reichlich, war dort auf dem zurückgelassenen Schlamm des Flusses besonders üppig, und hatte das Hin- und Herströmen des Wassers sogar mit einer Kraft stattgefunden, die das Buschwerk entwurzelte und mitriß, so brauchte es doch sehr wenig Zeit, um den Boden wieder mit all dem Gestrüpp zu bedecken, das das Reinhalten des Grundstücks, auch nahe beim Hause, sehr erschwerte. Und das war kein geringer Ärger, selbst wenn man keine Hausfrau war. Denn ohne von den allerlei Insekten zu sprechen, die gewöhnlich des Abends in solchen Mengen um die Lampe schwirrten, daß Lesen und Schreiben unmöglich wurde, eine Unannehmlichkeit, die sich an vielen Stellen Indiens findet, hielten sich in dem Buschwerk auch eine Anzahl Schlangen und anderes Getier, das sich nicht auf die Schlucht beschränkte, sondern öfters auch im Garten und hinter dem Hause oder im Grase auf dem Vorplatz gefunden wurde.[177]

Diesen Platz hatte man rechts vor sich, wenn man in der Außengalerie, den Rücken dem Hause zugekehrt, stand. Links davon lag das Gebäude mit den Bureaus, der Kasse und dem Versammlungssaal, in dem Havelaar diesen Morgen zu den Häuptern gesprochen hatte, und dahinter erstreckte sich die Schlucht, die man übersah bis an den Tjudjung. Gerade gegenüber von den Bureaus war die alte Adsistent-Residenten-Wohnung, die jetzt einstweilen durch Mewrouw Slotering bewohnt wurde. Und da der Zugang von dem großen Wege auf das Grundstück durch zwei Wege erfolgen konnte, die an beiden Seiten des Grasplatzes dahin liefen, folgt hieraus von selbst, daß jeder, der das Grundstück betrat, um sich nach der hinter dem Hauptgebäude gelegenen Küche oder den Ställen zu begeben, entweder an den Bureaus oder an der Wohnung von Mewrouw Slotering vorbei mußte. Zur Seite des Hauptgebäudes und dahinter lag der ziemlich große Garten, der die Freude Tines durch die vielen Blumen, die sie da fand, erweckt hatte, und vor allem, weil da der kleine Max so oft spielen konnte.

Havelaar hatte sich bei Mewrouw Slotering entschuldigen lassen, daß er ihr noch keinen Besuch abgestattet hatte. Er wollte am folgenden Tage hinüber gehen. Aber Tine war schon dagewesen und hatte Bekanntschaft geschlossen. Ich habe schon gesagt, daß die Dame ein sogenanntes »inländisches Kind« war, die keine andere Sprache als malayisch sprach. Sie hatte den Wunsch geäußert, ihre eigene Haushaltung für sich weiter zu führen, womit Tine gern einverstanden war. Und zwar kam diese Zustimmung nicht aus Ungastlichkeit, sondern vornehmlich aus der Furcht heraus, daß sie, die eben erst zu Lebak angekommen war, Mewrouw Slotering nicht so gut würde aufnehmen können, wie es durch die besonderen Umstände wünschenswert wurde. Die Dame, die kein Holländisch verstand, wäre zwar nicht mit Max' Erzählungen »gekränkt« worden, wie Tine sagte, aber sie begriff, daß es mehr brauchte, als die Familie Slotering bloß nicht zu »kränken.« Und die schmale Küche mit der beabsichtigten Sparsamkeit brachte es mit sich, daß sie wirklich die Absichten der Mewrouw Slotering sehr verständig fand. Ob nun übrigens, wenn die Umstände andere gewesen wären, der Umgang mit jemand, der nur eine Sprache sprach, in der nichts gedruckt ist, was den Geist bildet, zu gegenseitigem Wohlgefallen geführt hätte, steht zu bezweifeln. Tine hätte ihr so gut wie möglich Gesellschaft geleistet und viel mit ihr über[178] Kochen und Backen gesprochen; aber so etwas bleibt doch stets eine Aufopferung, und man fand es daher besser, daß die Sache durch Mewrouw Sloterings freiwillige Absonderung auf eine Weise geordnet war, die jedem seine vollkommene Freiheit ließ. Sonderbar indes war es, daß die Dame sich nicht allein geweigert hatte, an den gemeinschaftlichen Mahlzeiten teilzunehmen, sondern daß sie selbst von dem Anerbieten keinen Gebrauch machte, ihre Speisen in der Küche von Havelaars Haus bereiten zu lassen, und diese Bescheidenheit, sagte Tine, ginge zu weit, denn die Küche wäre groß genug.

Quelle:
Multatuli (Eduard Douwes Dekker): Max Havelaar. Halle a. d. S[aale] [o. J.], S. 166-179.
Lizenz:

Buchempfehlung

Auerbach, Berthold

Barfüßele

Barfüßele

Die Geschwister Amrei und Dami, Kinder eines armen Holzfällers, wachsen nach dem Tode der Eltern in getrennten Häusern eines Schwarzwalddorfes auf. Amrei wächst zu einem lebensfrohen und tüchtigen Mädchen heran, während Dami in Selbstmitleid vergeht und schließlich nach Amerika auswandert. Auf einer Hochzeit lernt Amrei einen reichen Bauernsohn kennen, dessen Frau sie schließlich wird und so ihren Bruder aus Amerika zurück auf den Hof holen kann. Die idyllische Dorfgeschichte ist sofort mit Erscheinen 1857 ein großer Erfolg. Der Roman erlebt über 40 Auflagen und wird in zahlreiche Sprachen übersetzt.

142 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon