116. Apelles an Junia Marcella.

[93] Nikomedien, im Junius 305.


In drei Tagen, meine theuerste Freundin, wird unsre arme Theophania sich mit ihren Waisen auf den Weg zu dir machen, und ich werde sie begleiten. Seit dem Tode ihres Mannes habe ich sie wenig verlassen, und vielfach Gelegenheit gehabt, die geheime Kraft ihrer Seele, und ihre Ergebung in den Willen des Schöpfers, und ihres Gemahls zu bewundern. Er hat sie gebeten, zu leben – er hat gewünscht, daß sie sich für ihre Kinder erhalte. Das war genug für sie. Das Daseyn ist ihr unzweifelbar eine drückende Last, alle ihre Gedanken wohnen im Grabe, und dennoch hat sie sich aufgerafft, und ihre liebsten Neigungen bekämpft, und ihre Gesundheit gepflegt, wie wenn das Leben das wünschenswertheste Gut für sie wäre. Sie spricht oft und am liebsten – und fast nur von ihm – und diese Gespräche dienen nicht, wie in ähnlichen Fällen, ihren Zustand zu verschlimmern, sie scheinen vielmehr ihre gepreßte Brust zu erleichtern. Ach, ihre Wunden können nicht aufgerissen werden, denn sie haben noch keinen Augenblick aufgehört zu bluten!

Darum kann ich auch kein langes Leben für sie hoffen, und ich müßte wahrlich die Selbstsucht bis zur Grausamkeit treiben, wenn ich es ihr wünschen könnte. Wir und ihre Kinder werden unendlich durch ihren Tod verlieren, denn wie ein guter Geist waltet sie sanft, beruhigend und erheiternd, selbst jetzt in allen ihren Schmerzen unter uns, und die fremdartigsten Gemüther bezwingt und[93] fesselt ihre unwiderstehliche Güte, ihr tiefer innerlicher Werth. Aber sie ist nur mehr halb auf dieser Erde. Ihre bessere Hälfte, so sagt sie selbst, ist hinübergegangen, und der traurige Rest muß verwelken, wie der Baum abstirbt, dem ein Sturmwind oder die Art des Landmanns alle seine Aeste geraubt, und den größten Theil des Stammes zersplittert hat. So lange die matten Säfte noch auf- und absteigen, grünt die Rinde noch, und sprossen noch einzelne Blätter hervor; aber jeden Frühling weniger, und immer weniger, bis, wenn einst der Wanderer kömmt, und ihn sucht, er ihn dürr und abgestorben findet, und mitleidig die morschen Ueberbleibsel zu den längst gefällten Theilen gesellt.

Nur ein Punkt ist außer ihren Kindern auf der Welt, der ihr lebhafte Theilnahme einflößt – Constantins Schicksal. Sie hat vor zwei Tagen durch den König einen Brief von ihm erhalten. Er ist Augustus. Als er an der gallischen Küste ankam, fand er seinen Vater schwer krank, und im Begriff, sich nach Britannien bringen zu lassen. Kaum in Eboracum angelangt, starb er in den Armen seines Sohns. Die Legionen standen keinen Augenblick an, zwischen dem würdigen Sohne ihres geliebten Kaisers, und irgend einem Fremden, den ihnen Galerius aufdringen würde, zu wählen, und riefen ihn einmüthig zum Augustus und Imperator aus.1 Dies Alles meldete ihr Constantin mit der Genauigkeit und dem edlen Zutrauen eines Freundes, und in dem Ton eines Mannes, dem ein doppelter Verlust für diesen Augenblick den Glanz des Purpurs verdüstert, und ihn für nichts als den Schmerz für Vater und Freund empfänglich gemacht[94] hat. Theophania ergriff diese Nachrichten mit Wärme, ja ich kann sagen mit Heftigkeit. Sie brach in Thränen aus, faltete die Hände und schlug den leuchtenden Blick zum Himmel. O mein Agathokles! rief sie dann mit lebhafter Zärtlichkeit: Du hast es gewußt! Du weißt es auch jetzt – und das ist dein Lohn!

Sie entfernte sich bald darauf, und schloß sich in ihr Zimmer ein. Lange darauf kam sie sehr bleich, und wie es schien, erschöpft, aber mit einer unaussprechlich milden Heiterkeit wieder zu uns. Ihre Thränen floßen beinahe den ganzen Abend, aber es schienen keine Thränen des Unglücks zu seyn. Ueberhaupt ist es zuweilen, als hätte sie Tröstungen, die weit über unsre Begriffe und alle Macht der menschlichen Natur erhaben wären. Ihr scheint Agathokles nicht ganz todt zu seyn, sie fühlt sich manchmal nicht völlig von ihm getrennt; es ist, als beglücke sie noch ein unsichtbares Band, als walte ein geheimnißvoller Zusammenhang zwischen ihnen. Ich kann nicht bestimmen, wie vielen Antheil an diesen Vorstellungen, Religion, Schwärmerei, Wirklichkeit, oder ein durch so lange heftige Leiden geschwächter Geist hat. Sey es immer Wahn – er ist wohlthätig für sie, und ich werde mich sehr hüten, ihn durch Zergliederung und Vernunftschlüsse zu zerstören. Und wer von uns kennt denn die Gesetze der Geisterwelt, und die unerforschten. Kräfte der Natur? Wer wagt es auszusprechen, daß eine seltsame, unerhörte Sache, darum nicht möglich sey, weil sie bisher noch nicht in dem Kreis unserer Erfahrungen lag? Die höchste Weisheit ist, zu bekennen, daß wir hierüber, wie über so viele andere Dinge, Nichts wissen, und so müssen wir wünschen und hoffen, daß unsere unglückliche Freundin[95] diese beruhigenden Vorstellungen so lange hege und nähre, bis es dem Schöpfer gefällt, die schwachen Bande zu lösen, die ihren Geist an die welkende Hülle binden, und sie ganz und auf ewig mit dem zu vereinigen, mit dem ihr Wesen, seit ihrer Kindheit, nur Eins ausgemacht hat, und von dem sie, wie es beinahe scheint, selbst der Tod nicht völlig zu trennen vermochte.


So weit die Geschichte des unglücklichen Paares, die der Inhalt dieser Blätter war. Sechs Jahre darauf starb Galerius; aber nur erst nach einem langen Zwischenräume von Kampf und Elend, nachdem mehr als sechs auf einander folgende Auguste und Cäsarn um die Herrschaft der Welt gestritten und geblutet hatten, ging aus Krieg und Zerrüttung über den stillen Gräbern der ersten Opfer für Constantins Rettung jener Zeitpunkt von Ruhe und stille hervor, um dessentwillen so Vieles geschehen, und so manches edle Herz gebrochen worden war.

Constantin wurde Herr der ganzen römischen Welt. Er verlegte den Sitz der Regierung nach Byzanz, das er mit vieler Pracht zur Hauptstadt erhob, und nach seinem Namen Constantinopel nannte. Das Christenthum, als die laut bekannte Religion des Kaisers, ward bald herrschend im ganzen Staate, alle spätern Versuche, sie zu stürzen, waren vergeblich, und die Nachwelt kennet die Folgen dieser wichtigen Veränderung aus der Geschichte.

Fußnoten

1 Geschichtlich nach Gibbon.


Quelle:
Caroline Pichler: Agathokles. Erstes bis Sechstes Bändchen, Schriften, Band 36, Stuttgart 1828.
Lizenz:
Kategorien: