»Die volkssage will aber mit keuscher hand gelesen und gebrochen sein. wer sie hart angreift, dem wird sie die blätter krümmen und ihren eigensten duft vorenthalten. in ihr steckt ein solcher fund reicher entfaltung und blüte, dass er auch unvollständig mitgetheilt in seinem natürlichen schmuck genugthut, aber durch fremden zusatz gestört und beeinträchtigt wäre. wer diesen wagen wollte, müste, um keine blösse zu geben, in die unschuld der ganzen volkspoesie eingeweiht sein, wie der ein wort zu ersinnen ausgienge, in alle sprachgeheimnisse. aus elben elfen machen heisst unserer sprache gewalt thun; an farbe und gehalt der mythen selbst ist sich noch schonungsloser vergriffen worden. man meinte die volkssage zu überbieten, und ist immer hinter ihr geblieben; nicht einmal soll da, wo sie lückenhaft vortritt, eine ergänzung vorgenommen werden, die ihr wie alten trümmern neue tünche ansteht, und mit ein paar strichen schon ihren reiz verwischt. Ihre manigfaltigkeit in der einstimmung überrascht, an unerwarteter stelle spriessen verschönernde nebenzüge,[7] doch nicht auf jedem boden geht sie üppig hervor und erzeigt sich streckenweise mager oder spröde; zumal belebt ist sie da, wo reime und formeln in ihr auftauchen. ergibigste ausbeute scheinen die samlungen zu gewähren, die mitten in einer sagenreichen landschaft sich erhebend aus ihr nach allen seiten sorgfältig schöpfen, ohne weit die grenze zu überschreiten; so hatten Otmars Harzsagen ein günstiges feld vor sich, das wol in gleich eingehaltner schranke nochmals durchzogen zu werden verdiente.«


Jacob Grimm am 28. April 1844.[8]

Quelle:
Heinrich Pröhle: Unterharzische Sagen. Aschersleben 1856, S. III3,IX9.
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