Nr. 100. Die Kinder auf dem Burgberge.

[62] Bei Harzburg liegt der Burgberg, der fast wie ein großer Kohlenmeiler aussieht. Dahinauf ist eines Tages ein Lehrer mit seinen Schulkindern gestiegen und da sind einige Kinder nahe bei den Brunnen gegangen. Da hat eine Stimme gerufen, sie sollten nach einer anderen Stelle auf dem Burgberge[62] hingehen. Wie sie dahin gegangen, sind einen Augenblick zwei Gestalten, ein Mann und eine Frau, in weißen Kleidern unter ihnen gewesen und sogleich verschwunden. Auch sind da Stufen gewesen, die haben in den Berg geführet, und da sind die Kinder die Stufen hinabgestiegen und sind in ein Gewölbe gekommen, darin ist ein Tisch gewesen, auf dem haben lauter blanke zinnerne Teller gestanden, die sind auf dem Tische fest gewesen. Aber an den Seiten herum ist eine große Blänke gewesen, auf der haben auch solche zinnerne Teller gestanden und da hat wieder eine Stimme gerufen: von den Tellern auf der Blänke könnten sie welche mitnehmen. Nachher sind die anderen Kinder noch einmal die Stufen hinabgestiegen und die Stimme hat ihnen die Erlaubnis gegeben, für sich und ihren Lehrer noch Teller zu nehmen. Wie sie mit denen aber herausgegangen waren, ist eine eiserne Thüre hart hinter ihnen zugeschlagen und da waren die Stufen nicht mehr zu sehen. Die Teller aber sind draußen immer den Kindern aus den Händen gerollt, als wollten sie mit den Kindern spielen, und haben so herrlich geklungen dabei, und sind immer schwerer geworden und immer schwerer. Endlich sind die Eltern der Kinder gekommen, die haben die Teller greifen können, haben sie mit Mühe nach Hause gebracht und haben einen Juden kommen lassen, der hat gesagt, es sei lauter gediegenes Silber, und von der Zeit an sind die Eltern mit ihren Kindern und auch der Lehrer steinreich geworden. Der Lehrer ist aber seitdem oft mit den Schulkindern um den Berg herumgegangen und hat gesungen und gerufen: er danke vielmals, und wenn hier etwa eine Verwünschung oder so etwas sei, so wünsche er, daß sie durch den Gesang gelöst werde. Auch ist er oft allein um den Berg herumgegangen und hat geistliche Lieder gesungen, hat aber nicht vernommen, was es mit der Stimme im Berge und mit dem Gewölbe für eine Bewandtnis hat, auch die Stufen nicht mehr wahrgenommen. – Diese Stufen haben zu verschiedenen Zeiten auch einige Reisende gesehen, aber sie hatten den kindlichen Sinn nicht, daß sie hinabstiegen, und darum sind sie auch so glücklich nicht geworden wie die Kinder mit ihren Eltern.

Quelle:
Heinrich Pröhle: Harzsagen, zum Teil in der Mundart der Gebirgsbewohner. Leipzig 21886, S. 62-63.
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