I.

[186] Frau Holle hat auf der Kuhkolksklippe zwischen Klausthal und Lerbach ein Bett stehen. Unweit derselben kömmt sie um zehn Uhr abends aus dem Buchenholze, schauet in das Fenster, wo sie noch Licht siehet, und thut übel. Sie hat glühe Augen und einen roten, ganz feurigen Mund; ihr weißes Gewand schläget sie (wenn es schneiet) weit auseinander. Von zehn bis elf Uhr nachts sitzet sie nun so da und thut übel, von elf bis zwölf Uhr aber träget sie Wasser in zwei hellen Eimern aus dem Bache herauf. Denn sie hat auf der Kuhkolksklippe auch ein Faß ohne Boden stehen; wenn dieses voll ist, wird sie erlöset, darum träget sie das Wasser den steilen Berg hinan. Ein Waldarbeiter ging eines abends spät nach Lerbach heim, da hörete er am Wege etwas winseln. Er glaubet, es heule eine alte Frau dort an der Straße, und fraget, ob sie nicht mit ihm gehen wolle. Er bekömmt keine Antwort, aber es beginnt hinter ihm herzugehen und kömmt richtig in seine Stube. Nun fragt er die Alte, ob sie nicht einen Schnaps mit ihm trinken wolle: denn der Oberharzer liebt den Schnaps gar sehr. Da macht sie sich so groß bis an die Decke und beuget sich so über ihn. Nun will er zu seiner Frau auf die[186] Kammer entfliehen, da fasset sie ihn, und davon hat er lange ein schwarzes Bein gehabt. Es ist aber dies die Frau Holle gewesen und sie sagte ihm: es solle ihm das zur Warnung dienen, daß er sie gehen lasse, wenn er wieder vorbei käme am Frau-Hollen-Abend, wo sie Recht hätte dort im weißen Gewande zu sitzen, und wo sie heulen müßte. Einer Witwe mit vier Kindern, welche noch in der Mitternachtsstunde saß und spann, warf die Frau Holle in dieser Zeit sieben vollgesponnene Rollen in das Fenster.

Quelle:
Heinrich Pröhle: Harzsagen, zum Teil in der Mundart der Gebirgsbewohner. Leipzig 21886, S. 186-187.
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