Nr. 230. Die Jungfer vom Sachsensteine.

[222] Bei den Zwergen vom Sachsensteine wohnete auch die Frau Holle und eine Jungfer mit Schlüsseln. Seit die Zwerge abgezogen sind, ist ein fahles Männchen im Sachsensteine gesehen worden; ein Eingang in den Sachsenstein, der aber schwer zu finden ist, führet in die Wohnung der Jungfer und des fahlen Männchens, und gleich vorn in der Höhle stehet ein Tisch mit verschimmeltem Brot und mit Wein. Die Jungfer erscheinet entweder am hellen Mittage oder um Mitternacht.

Ein Schäfer hütete einst seine Herde mittags auf dem Sachsensteine droben, da erschien ihm die Jungfer mit dem Schlüsselbunde. Er sah sie Klängeflachs, d.i. Lein, den die Sonne aufziehen soll, in der Sonne ausbreiten und auseinanderharken, dabei half er ihr und ihm kamen einige Leinknoten in seine weiten Schuh. Als er des abends in seiner Schäferkarre die Schuh auszog, fielen lauten Pistoletten heraus.

Ein andermal hütete auch ein Schäfer da, der schlief beim Hüten ein. Als er erwachte, erblickte er neben sich ein hübsches Blümchen, welches eine Lilie gewesen ist, pflückte es und steckte es, wie Schäfer thun, an seinen Hut. Gleich darauf erschien die Jungfer mit Schlüsseln und fragte, ob er mitgehen wolle. Als er nun mit ihr vor dem Eingange stand, gingen sie zuerst vor eine große eiserne Thür und an zwei Hunden mit glühenden Zungen vorbei. In dem Schlosse aber lag nichts als Gold und Silber und die Jungfer sagte zum Schäfer, er möge sich so viel hinnehmen, als er möchte. Da füllete er zuerst seinen großen Schäferranzen, dann nahm er den Schäferhut ab und wollte ihn füllen. Dabei ließ er die Lilie fallen und die Jungfer rief dreimal, er solle das Beste nicht vergessen. Er achtete aber dessen nicht und ging ohne die Blume fort. Als er aus dem Schlosse war, schlug die Thür ihm fast die Hacken ab, da dachte er an die Blume, mit der er die Jungfer hätte erlösen können, aber nun war es zu spät. – Ein anderer Schäfer sah einst in einer Klippe des Sachsensteines Kirche, Altäre und Prediger. – Auch ein Geigenspieler wollte einst das verwünschte Schloß auf dem Sachsensteine mit seinem Spiel erlösen.

Quelle:
Heinrich Pröhle: Harzsagen, zum Teil in der Mundart der Gebirgsbewohner. Leipzig 21886, S. 222-223.
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