Vierundzwanzigstes Kapitel

Reden der Weisen und Guten; Herr Leon von Poppen hält sich aber auch für gar nicht dumm. Perspektivische Aussicht auf einen Parfümerie- und Modewarenladen

[595] Ein Jahr und ein halbes sind vergangen, seit die Leute dieses Buches uns zum ersten Male vor die Augen traten. Wir haben unser Bestes getan, den Leser mit ihnen bekannt zu machen. Ist uns das gelungen? – Große Tragödienfiguren konnten wir nicht aus ihnen machen und wollten es auch nicht. Keiner aus der bunten Reihe lehnt sich im tragischen Zorn gegen die Welt und die gegebenen Verhältnisse auf, um das eigene Ich, sei es im edelsten, sei es im verderblichsten Sinne, an ihre Stelle zu setzen und unterzugehen an dem großen Unterfangen.

Wir haben eine Handvoll Leben herausgegriffen aus dem Gewimmel des Daseins, wie der Schiffer aus dem leuchtenden Meer eine Handvoll lebendiger Glut schöpft. Es ist ein großes ewiges Glänzen, aber der einzelne Funken erlischt bald! Das Farbenspiel, welches im Ganzen kein Ende hat, das kommt in der noch so vollen Hand bald zum Schluß. Wir müssen uns drein ergeben; wir betrachten zappelnde Mollusken und zappeln selbst molluskenhaft zum Vergnügen anderer, bis die kurze Stunde unserer Zeit vorbei ist.

Die Frühlingssonne schien über Gerechte und Ungerechte,[595] Kranke und Gesunde und erweckte nicht nur Flöhe, Mücken, Wanzen, das Gesindel Mephistos, sondern auch Blumen, Schmetterlinge und liebliche Hoffnungen aller Art. Es war doch, alles in allem genommen, ein recht erfreuliches und gar nicht langweiliges Ding um sie. Wenn auch der Frühling schon mehr als einmal dem Winter gefolgt war, er war doch ein lieber, gern gesehener Gast und fand überall offene Türen und sehr viele offene Herzen. Wehe den Türen und Herzen, welche ihm verschlossen blieben!

Neben dem Vater in dem verdunkelten Gemache saß Helene Wienand und nähte im Lichte des einzigen Sonnenstrahles, welcher, an dem niedergelassenen Vorhange vorbei, in das Zimmer dringen konnte. Mit angstvoller Aufmerksamkeit blickte der gebrochene Mann auf die geschäftigen Finger seiner Tochter; sie durfte unter diesem Blicke kaum innehalten mit ihrer Arbeit; denn es gehörte zu den bösen Einbildungen des Bankiers, daß sein Kind ihn, den verlorenen Bettler, mit dem Werk ihrer Hände ernähren müsse. Stundenlang konnte der reiche Mann sitzen und zusehen, wie die feinen Finger der armen Helene sich abmühten. Der Vater achtete nur auf die Finger seines Kindes, nicht darauf, daß die Augen desselben immer mehr ihren Glanz verloren, nicht darauf, daß die Wangen desselben immer mehr abzehrten. Tag für Tag, immerzu, immerzu mußte Helene jetzt unter diesem finstern, unheimlichen Blicke nähen; erst wenn die Erschöpfung den beklagenswerten Mann übermannte und ihn in einen unruhigen Schlaf versenkte, konnte sie sich Ruhe gönnen, durfte sie die Nadel sinken lassen und still weinen.

Seit dem Begräbnis des alten Tellering hatte sie die Straße nicht wieder betreten; sie wich dem Vater nicht mehr von der Seite, und selbst das Freifräulein konnte nichts dagegen tun.

Das Freifräulein war übrigens noch die einzige, welche einen Schimmer von Einfluß auf den Bankier hatte. Ohne sie wäre Helene bald ganz verloren gewesen. Täglich, stündlich kam sie, behandelte den armen Freund mit der gewohnten gutmütigen Schroffheit und jenem spottenden Humor, über den sie gut zu[596] gebieten wußte, und umgab das junge Mädchen mit ihrer ganzen Liebe, suchte es auf jede Weise zu erheitern, trug ihm die Neuigkeiten der Stadt zu, lobte den trefflichen Neffen Leon von Poppen und erzählte von Zeit zu Zeit auch von – dem Schützling des Polizeischreibers Fiebiger.

So kam sie auch heute, um am Tage vor dem Grünen Donnerstag eine fröhliche Osterkerze in eine recht dunkle Stunde zu tragen. Herzermunternd erklang ihr Krückstock tap – tap – tap – auf der Treppe; – mit ihr drang in die Tür ein frischer Hauch des Lebens, und der einzige Sonnenstrahl in dem dämmerigen Zimmer glänzte doppelt stark darüber; – wer könnte aber die ermunternde Wirkung ihrer Stimme schildern?

»Da hocken sie wieder im Dunkeln, hab ich es mir nicht so vorgestellt?« rief sie polternd, durch das Gemach humpelnd, zog mit energischer Hand die Fenstervorhänge zurück und ließ die Frühlingssonne gleich einem Blitz in das Zimmer schlagen.

»So, Sie alte Nachteule!« sagte sie. »Kneifen Sie nur nicht die Augen zu, Wienand; es hilft Ihnen nichts, Sie müssen es ertragen. 's kostet auch kein Geld. Hören Sie, wer weiß, ob man nicht einst aus dem Sonnenschein Gold macht. Was sagen Sie dazu, Wienand? Das wäre so etwas für Sie! Nicht wahr, es wäre gar keine üble Kunst, wenn man den Sonnenschein von den Wänden kratzen und zu Louisdors umschmelzen könnte? Das ist eine Idee, denken Sie einmal darüber nach, Kommerzienrat.«

Der arme reiche Mann starrte die Rednerin mit weit offenen Augen an und rieb eifriger als je die Hände aneinander. Das Wort Gold rief immer in seiner Seele eine Reihenfolge von Gedanken hervor, der er gierig folgte, und so auch jetzt. Erst schloß er die Augen wie im tiefen Nachsinnen, dann starrte er in die Flut des Lichtes, wie sie in das Fenster drang; dann griff er mit den hagern zitternden Händen in den Strahl, als wolle er die funkelnden Stäubchen fangen und zusammendrücken und kneten zu kostbaren Barren und gerundeten Stücken.

»Wie es flimmert, flimmert!« rief er mit kreischender Stimme. »Gold, Gold, o soviel Gold in der Luft. Seht, seht, wie es flimmert; wer es doch fassen und halten könnte! Hier – da hab[597] ich's – nein – nein, da ist die leere Hand; o wie schrecklich ist's, verhungern zu müssen, wenn so viel, viel, viel Gold in der Luft blitzt. Helene, Helene, greif du zu; vielleicht gelingt es dir besser – bankerott – bankerott – der arme Wienand hat kein Glück mehr, er wird das Gold nicht fangen!«

Weinend küßte die Tochter die gefurchte Stirn des Vaters und flüsterte:

»O lieber Papa, wir wollen es schon fangen; habe nur guten Mut, ich fange es schon, das Gold; Stück für Stück fange ich es; sieh hier, da ist schon ein Stücklein von den vielen, vielen, welche ich für dich erlangen werde.«

Sie hielt dem Kranken ein neugeprägtes, funkelndes Goldstück hin, und mit einem heisern Schrei griff der große Bankier Wienand danach, betrachtete es in höchster Aufgeregtheit, als wolle er es mit den Augen verschlingen, hielt es krampfhaft, als fürchte er, daß man ihm das blanke Metall sogleich wieder entreißen werde. Dann hob er sich aus seinem Lehnsessel und schlich auf den Zehen aus dem Zimmer, um den kostbaren Schatz an einem unbekannten Ort zu verbergen.

Helene sank in die Arme Julianes und schluchzte:

»Ich trage es nicht mehr! Es ist zu schrecklich! Es ist zu viel Schmerz!«

Auch dem alten Fräulein traten die Tränen in die Augen; aber es wischte sie resolut ab, machte sich sanft von der Umarmung des Mädchens frei und rief, die Locken des Pflegekindes streichelnd:

»'s ist recht, Kind, laß dem Weinen sein Recht; aber übertreib's auch nicht. Schau auf, mein Herz, es ist viel Unglück in der Welt, und kein Mensch kann eine Ringmauer dagegen um sich ziehen. Setze dich her, wir wollen ein Stündchen zusammen verplaudern, du arme Kleine. Sieh, da hab ich dir auch einen Strauß Frühlingsblumen mitgebracht. Stell ihn auf deinen Nähtisch in ein Glas mit Wasser. Wenn du wieder mit dem törichten Papa allein bist, so mag das hübsche Ding dich an die weite Welt erinnern, die so bunt und glänzend, so frei und unermeßlich weit um jeden Schmerz her liegt. Du wirst auch noch dein[598] Teilchen davon haben; warte nur – auch die schwärzeste Wolke zieht vorüber; wie Meister Ulex sagt: post Phoebila nubus, oder wie es sonst heißen mag. Weißt du, von wem ich diese Blumen habe?«

Helene schüttelte den Kopf und sah das Freifräulein betrübt lächelnd an.

»Ein junger Ritter, der gestern einen gefährlichen Waffengang gut bestanden hat, gab sie mir. Du kennst den jungen Mann auch. Nun, wer mag es sein?«

»Etwa Herr Wolf, des Herrn Ulex Schüler?« fragte Helene leise, ganz leise und errötete nicht wenig dabei.

»Richtig geraten. Wie schlau wir sind! Der Junge begegnete mir, als ich hierherkam; er trug die Nase hoch zum Himmel emporgerichtet und wurde wacker gepufft und geknufft von den Leuten, welche vernünftiger waren als er und welche gradeaus auf ihren Weg sahen. Er war bestaubt und erhitzt von einem weiten Weg durch die Felder und Wiesen vor der Stadt. Er mußte nach seiner Beschreibung meilenweit gelaufen sein – Gott segne ihm seine gesunden Beine! –, um die Aufregung aus dem Blute loszuwerden. Er hat nämlich gestern ein Examen – sein Maturitätsexamen bestanden, und zwar sehr gut; der alte Ulex –«

»Ah«, rief Helene kindlich treuherzig mit glänzendem Gesicht. »Da freue ich mich! O wie ich mich darüber freue!«

»Das dachte ich mir wohl«, lächelte das alte Fräulein. »Ich freue mich auch; und der junge Mann schien ebenfalls höchst vergnügt darüber zu sein. Er behauptete, vor diesem Examen eine entsetzliche Angst gehabt zu haben; aber nun sei alles in bester Ordnung, und er habe nicht die mindeste Angst mehr. Der Meister Ulex hat ihn nun aus seiner scharfen Zucht entlassen; auch Fiebiger reibt sich die Hände, der junge Taugenichts aber benutzt seine wiedergewonnene Freiheit dazu, in den Feldern umherzustreifen und Blumen zu pflücken oder in den Gassen ältliche Damen zu erschrecken durch plötzliches Anspringen gegen dieselben. Was soll eine alte Person wie ich mit solchem Strauß solcher Blumen anfangen? Da, nimm, mein[599] Kind – für dich passen sie recht gut und – wer weiß, was der Schlingel gedacht hat, als er sie mir in die Hand drückte. Nimm und stelle sie in frisches Wasser; – späte Ostern können recht bunt gefeiert werden. Da hast du Veilchen, Himmelsschlüssel, Anemonen – auch einen blühenden Weißdornzweig; – stich dich nicht an den Dornen, junges Blut – Birkenschäfchen, eine kleine Efeuranke – die Vergißmeinnicht mußt du dir dazudenken; sie kommen erst später.«

So plauderte die alte Dame fort, und der Wunsch, ihr Pflegekind aufzuheitern, ließ sie mehr sagen, als sie eigentlich im Willen hatte. Helene Wienand aber hielt den Strauß Robert Wolfs im Schoß, und ihre Seele war wirklich für kurze selbstvergessene Minuten so rein und licht wie in frühern, glücklichern Tagen, als sie noch das verzogene Kind des klugen, stolzen, reichen Geldmanns und nicht des unglücklichen, von jedermann bemitleideten Irrsinnigen war.

So erzählte das Fräulein von Poppen noch mancherlei und tat gar nicht, als ob sie merke, wie die Kleine immer von neuem auf allerlei feinen Umwegen das Gespräch auf den Giebel des Sternsehers, den Polizeischreiber Fiebiger und den Pflegesohn desselben zu bringen suchte. Willig ließ sie sich immer in die Musikantengasse und die Nachbarschaft derselben führen und erzählte, wie Robert die Arzneiwissenschaft studieren wolle und wie der Sterngucker und der Polizeischreiber sehr damit einverstanden seien, da diese gelehrte Kunst den Mann am selbständigsten in der Welt hinstelle. Dann erzählte das Freifräulein, daß Ludwig Tellering nunmehr fest entschlossen sei, mit seiner Mutter und Schwester nach Amerika auszuwandern, und daß der berühmte Schneider Herr Alphonse Stibbe seine Einwilligung zur Heirat der schönen Angelika und des nichtsnutzigen Julius Schminkert gegeben habe. Sie war noch daran, zu berichten, wie bereits ein Nonplusultraschild mit der Inschrift Schminkert und Komp. für den Nonplusultraparfümerieladen gemalt werde, als sie plötzlich im höchsten Grade erstaunt und nicht wenig ärgerlich emporsprang.

Gemeldet wurde:[600]

»Herr Baron von Poppen!«, und Leon trat in das Zimmer.

Ja, da stand er, ehrbar und bescheiden, das Muster eines gebesserten Sünders! Und da er einmal da war, so konnte man ihn nicht hinauswerfen, sondern man mußte hören, was er zu sagen hatte.

Und er verbeugte sich – o so verlegen, so linkisch, so ganz überzeugt von seiner Unwürdigkeit, diesen Raum zu betreten.

»Sie hier, Leon?« rief die Tante. »Was soll das? Was wollen Sie hier?«

Und der Freiherr ließ den Hut fallen, hob ihn auf und ließ ihn wieder fallen.

»Hören Sie mich, liebste Tante! Gnädiges Fräulein, ich bitte tausendmal um Verzeihung; ich – werde – sogleich – wieder gehen. Gnädigste Tante, ich war in Ihrer Wohnung und hörte, Sie befänden sich hier! Tausendmal Verzeihung – ich bin so verstört; – liebe, liebe Tante, ich mußte Sie auf der Stelle sprechen – ich bin so erfreut – so voll Jubel – ich habe die Stelle im Ministerium des Innern erhalten, die Stelle, von welcher wir sprachen. Ma tante, wir wollen der Welt zeigen, daß die Poppen doch noch nicht ganz verlorengegangen sind. Gnädiges Fräulein, wieder und wieder bitte ich um Verzeihung wegen meines tollen Eindringens; ich bin wie berauscht durch die Straßen gelaufen; ma tante –«

»Liebe Helene«, sprach die alte Dame in sehr würdiger Haltung, »dies ist mein Neffe, Baron Leon von Poppen, der jetzt ein brauchbarer, anständiger Mensch zu werden scheint. Du bist ihm vielleicht früher schon im Leben begegnet; aber es lohnte sich damals nicht, seine Bekanntschaft zu machen.«

Helene verbeugte sich in höchster Verlegenheit; Leon von Poppen aber sprach sanft lächelnd:

»Meine Tante hat ganz recht, gnädiges Fräulein; ich bin ein großer Sünder gewesen – Mitglied von allerlei verbotenen Gesellschaften, ein impertinenter Gesell, forlorn on the hill of the storm, wie Ossian es nennen würde. Aber hier stehe ich, in meines Nichts durchbohrendem Gefühl und schäme mich ein[601] wenig. Nur ein ganz klein wenig, mein Fräulein; denn ganz bekehrt bin ich noch nicht, wie ma tante dort auch recht gut weiß. Es ist noch viel an mir zu bessern; mein Eindringen hier zeugt auch davon. Ma tante, ich küsse Ihnen untertänigst die Hand; gnädiges Fräulein –«

»Der Vater!« rief Helene, und die hagere, gebückte Gestalt des Bankiers Wienand schob sich wieder in das Zimmer. Er hatte seinen Schatz verborgen und schlich zu seinem Sessel zurück. Als er den fremden Herrn erblickte, erschrak er heftig; denn er fürchtete jetzt alle fremden Gesichter sehr.

»Es ist mein Neffe, der Baron von Poppen«, sagte das Freifräulein.

»Der Baron von Poppen, der Baron von Poppen«, wiederholte der Kranke. Er verbeugte sich vor dem jungen Mann viele Male und sagte dazu immer von neuem: »Der Herr Baron! Der Herr Baron! Der Herr Baron!«

»Was soll das nun wieder?« murmelte das Freifräulein.

»O der Herr Baron! Namen und Ehre! Ehre und Geld, viel Geld – o der Herr Baron – viel Ehre, viel Ehre! Der Herr Baron ist willkommen, sehr willkommen – armer Mann, sehr armer Mann – sehr willkommen ist der Herr Baron!« murmelte der Kranke. Er wurde immer zutraulicher gegen den jungen Freiherrn, und dieser wußte mit sicherm Takt ihn in guter Stimmung zu erhalten. Das Erstaunen des Freifräuleins wuchs von Minute zu Minute. Auch Helene horchte atemlos; so vernünftig hatte ihr Vater seit langer Zeit nicht gesprochen, so klar war sein Auge lange nicht gewesen.

Den Einfluß, welchen der Sternseher Heinrich Ulex nicht gewinnen konnte, schien Herr Leon von Poppen binnen kürzester Frist zu erlangen.

»Dies ist meine Tochter, Herr Baron, ein gutes Ding, aber arm, sehr arm – sehr armer Mann, Herr Baron!«

Das Freifräulein nahm Prise auf Prise. Helene drängte sich dicht an ihre Seite; Herr Leon ließ sich traulich neben dem Sessel des Bankiers nieder, und der Bankier hielt ihn am Rockschoß; – Herr Leon Freiherr von Poppen konnte mit dem Fortschritt,[602] den er heute auf seinem Wege gemacht hatte, sehr zufrieden sein, und seine Gefühle waren auch gar nicht übler Art. Er fühlte sich ganz behaglich neben dem Stuhle des kranken Mannes und versprach – wiederzukommen. –

Hinauf die alte knarrende Wendeltreppe im Hofe des Nikolausklosters! Dunkel ist die Nacht, gefährlich der Weg; aber nur Mut! Hinter der schwarzen Tür leuchtet die Lampe des Sternsehers Heinrich Ulex, und die Freunde sind um sie her versammelt.

Treue Freunde umgeben den gebändigten Wolf aus dem Winzelwalde; aber mit der Morgendämmerung scheidet er aus ihrer Mitte, um in der Ferne seine Studien fortzusetzen und ein tüchtiger Arzt zu werden.

Es sprach der Sternseher:

»Die Stunde des Scheidens ist gekommen, mein Kind. Wir haben dich aufgenommen, da du krank, da du verlassen und freundlos warest; nun senden wir dich von neuem in die Welt; aber die Wunden sind geheilt, und nicht mehr gehst du einsam in wildes Gelärm und Getümmel. Freunde decken dir den Rücken bei jedem Schritt, welchen du vorwärts tust; so schreite denn mutig vorwärts und blicke dem Leben grade ins Gesicht; fürchte dich nicht und sieh nach deinen Sternen; dann wirst du nicht irren auf deinem Pfade. An der Stelle des Zornes und Schmerzes, die du in unsere Mitte mitbrachtest, ist dir eine neue tiefe Sehnsucht aufgewachsen. Wir können nicht wissen, ob dieser Sehnsucht einst Erfüllung wird; aber sie ist gut an und für sich, sie wird dich nach oben führen, wenn du ihr folgst. So folge ihr denn, folge ihr; es gibt nichts Besseres, kaum etwas Edleres, als solcher Sehnsucht zu folgen!«

Der Alte schwieg; er hatte noch manches andere sagen wollen, aber er beschattete seine Augen mit der Hand und schwieg. Juliane von Poppen ließ ihren Krückstock fallen und sah mit feuchten, liebevollsten Augen auf den Greis; dann aber faßte sie plötzlich den Arm Roberts, welcher ihr den Stab aufgehoben hatte, und rief:

»Gehe mit Gott, mein Sohn. Du hast gute und treue Lehrer[603] gehabt, nun mache ihnen in der Ferne Ehre. Laß uns nur Gutes von dir hören. Du hast viel Glück gehabt im Leben; erkenne das dankbar an und komme nicht gleich von Sinnen, wenn dir einmal etwas nicht nach Wunsch geht. Halt den Kopf oben, mein Kind, der Meister Heinrich dort wird dir sagen, wieviel Großes und Gutes aus unerfüllten Wünschen tüchtiger Menschen entstanden ist!«

Das alte Fräulein sah bei diesen Worten sehr ernst und fast drohend drein, und Robert Wolf sah sie beide ziemlich kläglich an.

Nun sprach Polizeischreiber Fritz Fiebiger in großer Bewegung:

»Mein Junge, reise glücklich und laß bald von dir hören. Ich schmeichle mir, dir manche nützliche Lehre gegeben zu haben, laß mich noch einige hinzufügen. Vor allen Dingen laß dich niemals verblüffen. Wir Leute von der Polizei wissen Bescheid davon, wie leicht die Menschheit sich ins Bockshorn jagen und sich aus der Fassung und zu einer submissen Rückgratskrümmung bringen läßt. Ich habe dich ein wenig hinter die Kulissen blicken lassen, ziehe Nutzen davon und beuge dich nicht tiefer, als es nötig ist. Wie mit der hohen Polizei, so ist es auch mit allen übrigen Erdengottheiten; stehe also fest, wo du im Rechte bist. – Jeder macht Wind auf seine eigene Art; je größer der Blasebalg, desto stärker der Wind, desto ohrenbetäubender das Schnarren und Schnauben. Halte den Hut fest, es wird mehr als einer seine Kraft dransetzen, ihn dir vom Kopfe zu pusten. Wenn der Deckel aber einmal in der Luft fliegt, so mache dich nicht zum Gespött der Gassen und renne toll und blind hinter ihm her, sondern gehe ihm fein langsam nach und lache selbst; oft wird ein anderer ihn auffangen und dir entgegentragen; du kommst dann mit einem Dank davon. – Es bläst, greift und streicht jeder sein Lieblingsstück auf seinem Lieblingsinstrument; du, ich, das Fräulein hier im Lehnstuhl, der alte Ulex dort im Winkel, alle andern groß und klein ebenfalls. Im Grunde ist's ein heilloses Konzert; aber die Gewohnheit bewirkt, daß wir es recht gut ertragen, ja es öfters für die echte wirkliche Sphärenmusik[604] halten. Blase dein Stückchen, mein Sohn; aber wolle deinen Takt nicht der ganzen übrigen Menschheit aufdrängen. Ich habe mehr als einmal mit Heiterkeit gesehen, wie bei solcher Gelegenheit die Instrumente zu Waffen in den Händen der Virtuosen und Dilettanten wurden und wie eine blutige Schlacht entstand. Bedenke, Robert Wolf, daß du doch nur eine ganz kleine klägliche Pfeife bläsest und daß solch ein dicker Brummbaß zu einer gewaltigen Keule wird, wenn der erboste Spieler ihn umkehrt und ihn auf den Köpfen der Orchestergenossen tanzen läßt. – Hüte dich, mein Junge, einen Menschen mutwilligerweise auf die Krähenaugen zu treten; leide es aber auch selber nicht, sintemalen es ein verflucht unangenehmes Gefühl ist. – Ereifre dich nicht über unschädliche Narrheiten der Leute, die du doch nicht ändern kannst. Stelle dir lieber dabei vor, du habest dein Eintrittsgeld zu einem schlechten Lustspiel gezahlt; gähnen magst du, aber tu es mit Anstand. Erinnere dich immer, daß du nicht der einzige Mensch in der Welt bist, der – der sich klüger dünkt als alle andern. Wenn du mir versprichst, dich daran zu erinnern, so gebe ich dir die Erlaubnis, so gut von dir zu denken, wie du willst. Mein lieber Sohn, manchem Halunken geht es wie dem frommen Storch, er hat einen bessern Ruf, als er verdient. Auch der Storch ist berühmt als Ausrotter von allerhand Ungeziefer; aber sein weiter Magen ist gefüllt mit gemordeten jungen Hasen, Rebhühnern und andern einfältigunschuldigen Delikatessen. Ein kluger Mann läßt sich nicht täuschen, es ist kein besonders behaglicher Aufenthalt im Magen eines solchen biedern Gesellen. – Ich habe manches Haus gesehen, über dessen Tür stand: salve hospes; aber auf gut deutsch hieß das nur: der Eintritt ist verboten, wer hereinkommt, wird hinausgeworfen. Merke dir das, Robert Wolf, und bitte dir, ehe du dem ›salve‹ traust, von dem Türhüter eine Übersetzung des ›hospes‹ aus. – Zum Schluß knöpfe deine Ohren so weit als möglich auf und vernimm, daß der Mensch viel schneller und früher alt wird, als er gewöhnlich für möglich halten will. Eines schönen Morgens wirst du erwachen und das klägliche Faktum dir nicht mehr verleugnen können. Sorge, daß du dich dann mit[605] gutem Gewissen in den Großvaterstuhl setzen kannst. Ich habe gesprochen.«

Was Robert Wolf auf alle diese Reden sagte? Er sagte wenig oder vielmehr gar nichts, und was er fühlte, das gab sich in verworrenen, von Tränen erstickten Interjektionen kund. Er fühlte viel; aber es ist eigentlich nicht die Sache des erzählenden Schriftstellers, Interjektionen in seinen Text zu werfen. Wir können nur sagen, daß Robert durchdrungen war von dem Bewußtsein, daß man ihm viel, sehr viel Gutes erwiesen habe, und daß er allerlei versprach, worüber er sich in diesen Augenblicken kaum selbst hätte Rechenschaft geben können.

Die Nacht war dunkel; aber es war recht eine Nacht der Astronomen: die Sterne leuchteten hell, und wer irgend nach den Sternen sah, fand sie rein und klar an ihrer Stelle. In tiefer Finsternis begraben lag die Brandstätte, deren Schutt und Asche so schwer und dicht auf den Geist des klugen Bankiers Wienand gefallen war; wenn wir wieder dahin blicken, so werden sich viel neue stattliche Mauern, viel hohe Gebäude daselbst erhoben haben, und wieder werden viele Sternbilder dem Auge des alten Sternguckers Heinrich Ulex verdeckt sein.

Noch eine kurze Zeit saßen die Freunde im Giebelzimmer des Nikolausklosters zusammen; dann trennten sie sich, und der Alte vom Turme küßte seinen Zögling auf die Stirn:

»Lebe wohl, lebe wohl, mein Sohn; du hast mir viel Freude gemacht. Lebe wohl, sei glücklich und vergiß nicht die Sterne!«

»Kriechen Sie in Ihre Höhle, Fiebiger«, sagte das Freifräulein in der Gasse. »Robert kann mich allein nach Hause begleiten; geben Sie mir Ihren Arm, mein Sohn.«

Der Schreiber verschwand in der Tür der Nummer zwölf der Musikantengasse, und das Fräulein und Robert setzten ihren Weg fort. Leise, eindringlich und viel sprach noch auf diesem Wege Juliane von Poppen zu dem Jüngling; der Name Helene kam mehrmals in ihrem Geflüster vor, und Robert schritt gleich einem Nachtwandler an der Seite der Alten. Was sie ihm sagte, erfüllte seine Seele bald mit hohem Entzücken und stürzte ihn gleich wieder in halbe Verzweiflung.[606]

Eine Viertelstunde später lief der Jüngling allein durch die Gasse:

»Ich soll mich ihr nicht zu nähern suchen! Sie liebt mich, aber ich soll ihr nicht nahe kommen, soll ihr nicht schreiben! O Helene, Helene, was soll ich denn tun?«

Plötzlich stand er vor dem Hause, welches der Bankier Wienand jetzt in der Kronenstraße bewohnte, und sah nach den dunkeln Fenstern desselben.

»Was soll ich tun? Was soll ich tun? O wie ich sie liebe – und ich soll sie nicht mehr sehen! Die Grausamen! Die Grausamen!«

Der Baron Leon von Poppen befand sich selbstverständlich noch nicht im Bett. Lang ausgestreckt lag er auf seinem Sofa, das neueste Meisterwerk Paul de Kodes studierend. In den Pausen seiner Lektüre sah er mit unendlichem Behagen den Wolken seiner Zigarre nach; ein Maler hätte zu einer Personifikation des guten Gewissens kein tauglicheres Vorbild finden können. Herr Leon hatte heute seine zweite Visite beim Bankier Wienand abgestattet, und diesmal in Abwesenheit der Tante Juliane. Der Kranke war in seiner Gesellschaft ganz munter und lebendig geworden, und die arme Helene mußte sich gestehen, es sei wünschenswert, daß der liebenswürdige Nachbar öfters zu dem Vater komme.

»Riesenfortschritte! Siebenmeilenstiefel!« lächelte der sinnige Träumer auf seinem Sofa. »Bah, bald werden wir die Dornen abgestreift haben vom Stengel! Bah, lächerlich, wer pflückt eine hübsche Rose mit einem Fausthandschuh? Mein lieber Baptiste, ich habe dich heute abermals im tête-à-tête mit der leichtsinnigen Elise getroffen; ich warne dich ernstlich – bedenke die Folgen!«

Baptiste empfing diese Warnung unmittelbar nach seinem Eintritt ins Zimmer, er neigte sein schuldiges Haupt und erwiderte:

»Herr Baron, ich komme soeben nach Hause – drüben vor der Tür des Herrn Bankiers Wienand steht wieder der junge Mann – Sie wissen –«[607]

»Laß ihn stehen, Baptiste!« hauchte in ungemein gütigem Ton der Freiherr. »Wir wollen ihn ganz ruhig stehen lassen, lieber Baptiste. Was könnten wir auch sonst mit ihm anfangen, du guter Mensch?«

Und Baptiste zog sich zurück, und Robert Wolf durfte unbelästigt unter den Fenstern Helene Wienands sich die heiße Stirn vom Nachtwind kühlen lassen. Kein von Poppenscher Vasall stürzte sich mit geschwungenem Flamberg auf ihn; niemand stellte sich ihm hindernd in den Weg, als er endlich den Heimweg seufzend antrat. Von der nächsten Ecke herüber pfiff der Nachtwächter höchst unpoetisch die zwölfte Stunde. Es ist ein Jammer, die ganze Maschinerie der Romantik fällt allgemach auseinander, wir armen Teufel von Erzählern mögen noch soviel mit dem Federbart und dem Ölglase uns mühen: die Räder wollen nicht mehr, die Haken und Hebel sind zerbrochen; wie lange währt es noch, bis das Ding ganz stillsteht?

An einer andern Straßenecke stand Julius Schminkert im Schein einer Gaslaterne und betrachtete nachdenklich die Stelle, wo demnächst über dem berühmtesten Parfümerie- und Modewarenlager der Welt das Schild prangen sollte mit der Inschrift:


J. SCHMINKERT UND KOMP.


Mit übereinandergeschlagenen Armen stand der deklamierende Künstler da, trotz seines nahen Glückes düster wie die Nacht. Der Künstler wehrte sich in ihm mit aller Macht gegen den Parfümerieladen, Thalia wollte nicht das mindeste mit Putzsachen und articles de cour zu tun haben. Aber die Würfel waren geworfen.

»Gutwillig muß ich untertauchen, oder ich werde mit Gewalt niedergedrückt, Wolf!« sagte der Schauspieler tragisch, als Robert zu ihm trat. »Wie ich höre, wollen Sie uns morgen verlassen; ich wünsche Ihnen alles Glück; Freiheit liebt das Tier der Wüste, frei im Äther herrscht der Gott; na ja, ich werde einen schönen Hausvater abgeben – Schminkert und Kompanie – o süße Angelika! Hören Sie, bester Freund, was halten Sie[608] eigentlich von Fräulein Angelika Stibbe, meiner himmlischen Anverlobten?«

Das war nun eine recht verfängliche Frage, und Robert verfing sich auch richtig.

Ganz verlegen sagte er:

»Ich – ich – würde nicht mit Herrenhandschuhen und Zigarren handeln.«

»Jüngling«, rief der Schauspieler, »welch ein Gott legte dir dieses Wort auf die reine, unschuldige Zunge? Das muß ich sagen, so ganz uneingeweiht in der Menschen Verhältnisse auf Erden scheinst du mir doch von hier nicht abzugehen. Hat dich das der alte Sterngucker gelehrt? I gucke mal! ... Kommen Sie, Robert, wir wollen nach Hause wandeln, jeder mit seinem Bündel. Ich weiß, Sie haben auch das Ihrige zu schleppen.«

Arm in Arm schritten die beiden jungen Männer nach der Musikantengasse; Julius Schminkert verstand die Kunst, sich festzuklammern; wie die andern gab auch er bereitwillig in dieser Nacht seine Ratschläge zum besten, obgleich Robert sie ihm gern geschenkt hätte. Robert Wolf konnte nicht ahnen, wie eng sein Geschick mit dem dieses angenehmen und glücklichen Individuums verknüpft war. Höchst gleichgültig, wenn nicht ein wenig widerlich, war ihm sowohl die schöne Angelika wie der treffliche Julius.

Quelle:
Wilhelm Raabe: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 1964–1966, S. 595-609.
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