Elftes Kapitel

[78] Ich war dreißig Jahre alt geworden und, wie es in den Sternen geschrieben stand, ein Schulmeister. Ich war Doktor der Philosophie und hatte die venia docendi an der Universität Berlin. Wenn sie nur gekommen wären, um das von mir abzuholen, was ich selber gelernt hatte! Aber sie blieben aus; sie schienen der Sache nicht im mindesten zu trauen.

Zuerst versuchte ich es, mein philologisches Wissen auf einem rheinländischen Gymnasium an die Jugend zu bringen; jedoch bekam ich bald von maßgebender Stelle herunter den Rat, diesen Versuch aufzugeben. Man verwies mich zwar nicht offiziell dabei auf meine wirklich etwas hohe Schulter; aber man zuckte doch nur die Achseln, wenn die Jungen lachten und meine Autorität gleich Null blieb.

Die Kirche, die immer den Nagel auf den Kopf trifft, hat auch darin recht, daß sie keinen mit irgendeiner auffälligen Gebrechlichkeit Behafteten unter ihren öffentlichen Dienern leiden will. Sie hat selbstverständlich ihre Würde zu bewahren, selbst auf Kosten ihrer besseren Überzeugung. Hat sie der Schadenfreude und der Lust am Lachen unter ihren Lämmern ein testimonium divitiarum auszustellen, so tut sie es und fühlt nachher nicht das geringste Bedürfnis, sich die Hände zu waschen, wie weiland der römische Prokurator Pontius Pilatus.

Ich ging und überließ es besser gewachsenen Oberlehrern und Kollaboratoren, die blonde und blauäugige Jugend der Germanen zum Einjährig-Freiwilligen-Dienst und auf das Abiturientenexamen vorzubereiten.

Was ich dann trieb? Ich war stark im Griechischen und Lateinischen. Einer Lieblingsneigung wegen hatte ich mich auf das Auffinden und Nutzbarmachen mittelalterlicher Geschichtsquellen geworfen, und man hat mich draußen eine Zeitlang schändlicherweise im Verdacht gehabt, Doktordissertationen aus vielerlei Fächern im Vorrat anzufertigen, auf Lager zu halten und sie bei sich bietender Gelegenheit gegen jedes Honorar unter dem[78] Siegel der Verschwiegenheit (Diskretion selbstverständlich) zu verschleißen.

Dies ist eine schnöde Verleumdung! Ich habe nur einem Menschen zum »Doktor« verholfen, und der bin ich selber; und, um eine Redensart der πολις anzuwenden was ich mir dafür kaufen konnte, war unbedeutend.

Aber es nennen sich, manche Leute Geschichtsforscher und edieren Monographien, Volks- und Völkerhistorien und haben seltsamerweise vor den Quellen gerade eine so große Scheu wie vielleicht in ihrer Jugend vor dem Quellwasser, wenn es am Sonnabendabend zu einer gründlichen Reinigung ihrer Person verwendet werden sollte. Für diese und ähnliche Herren war ich und bin ich der rechte Mann. Als wirklich geheimer Mitarbeiter bin ich denn auch für mehr als einen Parlamentarier schätzbar, und manches »Hört, hört!« und manches »allgemeine Beifallsgemurmel« wäre eigentlich auf meine Rechnung und nicht die des »verehrten Vorredners« und weit und tief blickenden Realpolitikers auf der Tribüne der gegenwärtig tagenden hohen politischen Körperschaft zu setzen.

Was ich mir hierfür kaufen konnte, war etwas, wenngleich nicht viel mehr als das, was mir die Sprachen der Griechen und Römer zu Utilitäts- und Luxuszwecken und Ausgaben abwarfen.

So ging es mir denn erträglich nach Wunsch, und sogar was den Luxus anbetrifft; das jedoch erst seit dem schlimmen schwarzen Tage, an dem ich meine gute Mutter verlor und leider nicht mehr für ihr Behagen in ihren Greisenjahren zu sorgen hatte. Ich saß im Winter warm zu Hause, ich speiste in einer der Restaurationen mittleren Ranges der Stadt, und ich konnte mir dann und wann ein Buch, wenn auch nur antiquarisch, anschaffen; auf dem hohen Standpunkte wohlangewendeter Lehrjahre, der sich in dem französischen Wort »Je ne lis plus, je relis seulement!« darlegt, bin ich auch bis heute noch nicht angelangt, hoffe ihn aber dermaleinst zu erklimmen.

Mein »Zuhause« bestand in einer bescheidenen Junggesellenwohnung im vierten Stockwerk eines Hauses in der Mittelstraße.[79] Ich besaß wohl eine eigene Bibliothek, aber keine eigenen Möbel.

Ich hatte harte, steinige Pfade gehen und meine Wege häufig recht heftigem Winde, argen Staubwirbeln und unbehaglichem Regenschauer abkämpfen müssen. Selbst in den äußerst seltenen Momenten, wo ich mich für einen äußerst gescheuten Menschen dabei hielt, zog ich wenig Genuß und Befriedigung daraus, nämlich aus dem, was die Nebenmenschen gewöhnlich etwas spitzig eine äußerst glückliche Selbstüberzeugtheit zu nennen pflegen. Und nun genug hiervon. Wie kurz und abbrüchig ich dieses alles hingeschrieben habe, so habe ich es doch nur wie jeder andere gemacht und zuerst und einzig und allein von mir selber als der wichtigsten Angelegenheit dieser und jeder zukünftigen Welt gesprochen. Es soll dafür aber auch bei mir nicht mehr als bei jedem anderen zu bedeuten haben – eine harmlose, eben der Menschheit anklebende Schwäche und das gleichfalls ganz allgemeine Bedürfnis, wenigstens etwas in der eigenen Persönlichkeit im Laufe der Zeiten aufrecht und unberührt zu erhalten.

Die anderen!... Wo waren die anderen im Strom der Zeit geblieben? Was war aus den anderen geworden, die vor ein paar Seiten noch mit mir jung, gesund, dumm und glücklich waren?

Wenn ich es nun mit schönen Redensarten zudecken würde, wie wenig ich mich im Grunde um diese anderen bekümmert hatte, so würde mir das leicht genug werden. Ich könnte aber auch den nächsten guten Bekannten oder den ersten besten Unbekannten in der Gasse anrufen, um es mir von ihnen bestätigen zu lassen, wieviel der Mensch mit sich selber zu tun hat und wie wenig Zeit und Nachdenken ihm für den liebsten Freund übrigbleibt, wenn sich eine Wand eine Stunde, einen Tag oder gar ein Jahr zwischen ihn und uns gelegt hat.

Ich habe jahrelang nur gewußt, daß Eva Sixtus in der alten Heimat dem alten Vater immer noch haushalte, daß Ewald in seinem Beruf als Ingenieur in Irland tätig sei und daß Irene von Everstein verheiratet in Wien lebe. Von dem Vetter Just[80] habe ich gar nichts gewußt. Ich erlebte es noch als Student, daß der Steinhof subhastiert wurde und weit unter seinem Wert an einen Landsmann fiel, der schon längst ein freundlich-begehrliches Auge darauf geworfen hatte und einst ebenfalls zu den fröhlichsten und behaglichsten Gastfreunden und Jagdgenossen des Vetters gehörte.

Daß Schloß Werden gleichfalls unter den Hammer kam und unter dem Werte einen Liebhaber fand, erfuhr ich brieflich durch meine Mutter, die dann zu mir ins Rheinland zog und daselbst, wie gesagt, in meiner Kollaboratorwohnung nach längerem schweren Leiden sanft gestorben ist.

Jule Grote sollte immer noch in Bodenwerder wohnen, doch das war ein Gerücht, von dem ich nicht einmal angehen kann, wie es zu mir gelangte. Ich hatte viel zuviel mit meinem Griechischen und Lateinischen, meinen mittelalterlichen Geschichtsquellen, modernen Geschichtsschreibern und parlamentarischen Tagesgrößen zu schaffen, um mich viel um Jule Grote kümmern, mich bei ihr aufhalten zu können. Es ist ja eben kein Aufenthalt in dieser Welt bei den besten Dingen – und bei den besten Freunden auch nicht; und wenn alle Lebenskunst am Ende nur darauf hinausläuft, sich unabhängig von den mitlebenden Menschen und Dingen zu machen, so ist das eigentlich gar keine Kunst, sondern uns allen höchst natürlich.

Nun nahm ich seit verhältnismäßig langer Zeit alles als etwas, was sein konnte, jedoch nicht zu sein brauchte. Es gewährte mir häufig das bekannte egoistisch-kitzelnde Behagen, daß die Tage, an denen auch ich dann und wann grimmig und selbstüberzeugt rief: »Nun soll es sein!«, hinter mir lagen.

Die süße und sonnige, wälderrauschende, ewige Frühlings und Erntefeste feiernde Zeit von Schloß Werden lag auch hinter mir, und man hat es mir im Lesezimmer der Königlichen Bibliothek nie angemerkt, daß mir bei meiner närrischen Kompilationsarbeit die Erinnerung daran irgendwie hinderlich in den Weg trat und mich vielleicht geduldig stimmte, wenn ein mir augenblicklich nötiges Werk ausgeblieben war und bei einem, wie Freund Ewald seinerzeit sich ausgedrückt haben würde, »dummen[81] und langweiligen Kerl« lag, der doch nichts damit anzufangen wußte.

Mir wird bedenklich flau zumute, wie ich alles dieses hier niederschreibe, und ich denke, offen gestanden, mit einigem Grauen an die möglicherweise doch eintretende Stunde, in der ich diese Seiten mit ihren liebenswürdigen Selbstbekenntnissen wieder überlesen werde. Es ist immer eine sonderbare, heikle Sache um das Wiederlesen im eigenen Lebensbuche! An welche Leser ich mich aber mit dem eben Niedergeschriebenen wende, weiß ich, Gott sei Dank, nicht. Mündlich hätten mich wohl nicht sehr viele aussprechen lassen, sondern das meiste von sich aus anders und besser zu berichten gewußt. Und es ist gut so, denn es ist die gute Meinung, die die Welt von sich hat und lebhaft geltend macht, die diese sonderbare Universitas aufrecht und im Gange erhält. Was sollte aus ihr, der Welt, werden, wenn jeder es vermöchte, den anderen ruhig aussprechen zu lassen? Eine recht objektive Welt, aber eine vielleicht doch etwas zu ruhige – so etwas wie ein Universalkirchhof vielleicht, voll sehr weise im Lapidarstil redender Leichensteine. Der Herr erhalte uns also im recht fröhlichen Kriege gegeneinander, solange es ihm gefällt, uns überhaupt zu erhalten!

Quelle:
Wilhelm Raabe: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band 6, Berlin und Weimar 1964–1966, S. 78-82.
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