Erstes Kapitel

Johannes Falk in seinem Buche über Goethe schildert sehr hübsch einen Besuch, den er an einem Sommernachmittage im Jahre 1809 dem Dichter abstattete, Er fand ihn bei milder Witterung vor einem kleinen Tische in seinem Garten sitzend und eine kleine Schlange in einem langgehalsten Zuckerglase mit einem Federkiele fütternd.

»Die herrlich verständigen Augen!« sagte Goethe. »Mit diesen Augen ist freilich manches unterwegs, aber, weil es das unbeholfene Ringeln des Körpers nun einmal nicht zuläßt, wenig genug angekommen. Hände und Füße ist die Natur diesem länglich ineinandergeschobenen Organismus schuldig geblieben, wiewohl dieser Kopf und diese Augen beides wohl verdient hätten; wie sie denn überhaupt manches schuldig bleibt, was sie für den Augenblick fallenläßt, aber späterhin doch wieder unter günstigeren Umständen aufnimmt.«

Nun erscheint auch Frau von Goethe im Garten, ruft schon von weitem, wie herrlich der Feigenbaum in Blüten und Laub stehe, erkundigt sich nach dem Namen der ausländischen Pflanze, »die uns neulich ein Mann aus Jena herüberbrachte« – nämlich nach der großen Nieswurz, und fragt, ob die schönen Schmetterlinge aus den Kokons von eingesponnenen Raupen, die in einer Schachtel neben dem Zuckerglase liegen, noch immer nicht erscheinen wollen. Dann sagt sie mit einem Seitenblicke auf die Schlange:

»Aber wie können Sie nur ein so garstiges Ding wie dieses um sich leiden oder es gar mit eigenen Händen großfüttern? Es ist ein so unangenehmes Tier. Mir graut jedesmal, wenn ich es nur ansehe.«[291]

»Schweig du!« meint der Geheimerat und fügt, gegen den Besucher gewendet, hinzu: »Ja, wenn die Schlange ihr nur den Gefallen erzeigte, sich einzuspinnen und ein schöner Sommervogel zu werden, da würde von dem greulichen Wesen gleich nicht weiter die Rede sein. Aber, liebes Kind, wir können nicht alle Sommervögel und nicht alle mit Blüten und Früchten geschmückte Feigenbäume sein. Arme Schlange! Sie vernachlässigen dich! Sie sollten sich deiner besser annehmen! Wie sie mich ansieht! Wie sie den Kopf emporstreckt! Ist es nicht, als ob sie merkte, daß ich Gutes von ihr mit euch spreche! Armes Ding! Wie das drinnen steckt und nicht heraus kann, so gern es auch wollte! Ich meine zwiefach, einmal im Zuckerglas und sodann in dem Hauptfutteral, das ihr die Natur gab.«

Das ist ein sonderbarer Anfang für eine Geschichte, die mit dem seligen Legationsrat Falk in seinem Buche: »Goethe aus näherm persönlichen Umgange dargestellt«, sonst nichts zu schaffen hat! Doch hören wir weiter.

An einem der Wege, die zum Brocken hinaufführen, liegt ein Wirtshaus mit seinen Nebengebäuden und einem kleinen Garten, in dem aber, der Höhe wegen, wenig wächst und welchem man seinen Namen und Titel nur aus Höflichkeit oder Bequemlichkeit gibt wie so manchem andern Dinge in dieser Welt.

Das Haus wie die Stallungen sind niedrige, langgestreckte Bauwerke, das Mauerwerk ist von einer in der Ebene unbekannten Dicke, die Schiebefenster sind klein und tief in die Mauer eingelassen; kurz, alles ist auf Sturmwind, Regenstöße, Schneewehen, lange Winter und kurze Sommer so fürsorglich als möglich eingerichtet: der Wirt, die Wirtin und das Dienstvolk desgleichen. Eine moderne Hotelbesitzerfamilie, die auf einer Tour in das Gebirge hier vorspricht, mag wohl ihre Betrachtungen über den Gegensatz zwischen ihr und den Leuten und Zuständen dieses Berghauses anstellen. Nun, es kann nicht jeder seine »bougies« unter den Linden, den Rhein entlang oder am Jungfernstiege in Rechnung stellen.

Das Berghaus liegt schon in einer Gegend, wo die Tannen und Birken anfangen zu verkrüppeln. Das Wasser sickert moorig[292] zwischen dem Gestein, den Heidelbeeren und der Heide, und der Wind hört selten auf zu singen; aber gewöhnlich heult er. Nur noch ein wenig höher hinauf erscheint das Isländische Moos auf den Felsblöcken, und wer den Wind singen hört und das Plaid fester um Hals und Ohren zieht, begreift die Fürsorge der Vorsehung; recht sorgliche Charaktere denken auch wohl an ihren Hausarzt und senden ihm einen stillen Gruß.

Dessenungeachtet ist der Weg viel betreten, beritten und befahren, vorzüglich im Sommer. Vielgestaltig und vielgeschäftig geht's und kommt's, geht vorbei oder kehrt ein, und Langeweile hat weder der Wirt noch seine robuste Ehehälfte und sein Dienstpersonal – im Winter nur soviel davon als der Hamster, das Murmeltier, und wie sonst die behaglichen Geschöpfe heißen, welche die unangenehme Zeit des Jahres ruhig verschlafen.

Nun war es im Sommer, in den Tagen, wo die Erdbeeren rot und die Heidelbeeren schwarz werden, wo der Fingerhut seine roten Kerzen anzündet und das Harz duftiger und reichlicher den Tannen und Fichten entquillt. Die Sonne lag auf dem Gebirge, die Quellen rauschten zur Tiefe hinab; und aus der Tiefe her, aus der Ebene der Kultur hatte die gewöhnliche Völkerwanderung ihre Züge in die schöne Wildnis aufgenommen. Alle Reitesel und Maultiere in den Ortschaften der Ausgangstäler hatten ihre trüben Erinnerungen vom vorigen Jahre aufgefrischt und bekräftigten sich von neuem in der Meinung, daß der besser gekleidete Teil der Menschheit abermals verrückt geworden sei; und abermals hatten sie ihre Last auf sich zu nehmen und wie die verlorengegangene Königstochter von Antiochien im »Perikles, Prinz von Tyrus« alle möglichen Temperamente kennenzulernen.

Es war am Nachmittage gegen drei Uhr, und augenblicklich hatte ein einziger Gast alles, was das Bergwirtshaus an Genüssen und Bequemlichkeiten zu bieten hatte, zu seiner Verfügung Er sah aber aus, als ob er sich zu bescheiden wisse und wahrscheinlich seinen Grund dafür habe.

Neben der niederen Eingangstür der Wirtschaft ist ein Steinwall zum Schutz gegen den Wind aufgeschichtet, im Halbrund[293] um eine roh auf Pfählen befestigte Tischplatte und eine gleichfalls im Boden befestigte Bank.

»Da setzen wir uns nicht hin«, pflegten gewöhnlich die einkehrenden Touristen zu sagen; aber es war dessenungeachtet oder gerade darum kein übler Platz. Man vernahm von hier aus das leise Geläut der Kuhglocken in den Tälern und hatte einen vollen Blick auf das bergan sich dehnende Felsenmeer. Auch die Straße, wie sie von der Höhe kam, übersah man bis zur nächsten Wendung, und das war zu keiner Zeit des Jahres, und um diese am wenigsten, ohne Interesse.

Der einsame Gast hatte sich dahingesetzt, und er sah auch wahrlich nicht aus, als ob er sich sehr vor Zugluft in acht zu nehmen habe. Er war ein verwitterter und, wie der größere Teil der Touristenscharen sagen würde, ein verwahrloster alter Gesell, der denn auch sein Gläschen Nordhäuser vor sich hatte und eben im Begriff war, eine abgenutzte, abgesogene, abgekaute kurze Pfeife aus einer Schweinsblase von neuem zu füllen. Er saß in einem graubraunschwarzen abgetragenen Rocke, Gamaschen über den derben, bestaubten Nägelschuhen und eine alte schwarze Mütze mit breitem Schirm auf dem grauen Schädel. Er trug eine Brille, doch durch die Gläser derselben leuchteten Augen von einem so sonderbar klaren bläulichten Glanz, daß es schwer hielt, an eine irgend bedeutende Kurzsichtigkeit des Alten zu glauben. Ein tüchtiger Knittel lehnte neben ihm an der Bank. Auf seinen Visitenkarten (er führte dergleichen und legte sie unter Umständen auf den Tisch oder gab sie an der Tür ab) stand:


Justizrat Scholten.


»Sie wundern sich?« pflegte er zu sagen, wenn sich jemand darüber wunderte.

Es kann auch nicht jedermann aus Quakenbrück im Fürstentum Osnabrück sein; doch des Justizrats Wiege hatte wirklich daselbst gestanden, und seine Eltern waren aus Haselünne an der Hase gewesen, einer Ortschaft, die schon ganz bedenklich der niederländischen Grenze nahe liegt, und zwar im Herzogtum Arenberg-Meppen.[294]

Das sind eigentümliche Erdstriche, die eigentümliche Kreaturen hervorbringen. Der Justizrat Scholten stammte, und sein bester Freund ebenfalls, dorther; aber sein allerbester Freund saß zu Pilsum, einem Dorfe an der Emsmündung, und las Jakob Böhmen mit der Aussicht aufs Pilsumer Watt. Der Justizrat las Voltaire in einem Harzdorfe unter dem Blocksberge.

Quelle:
Wilhelm Raabe: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band 5, Berlin und Weimar 1964–1966, S. 291-295.
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