Zweite Szene

[54] Zimmer.

Der Mann. Die Frau.


DER MANN. Jetzt haben sie den Eingang zum Nebenhaus.

DIE FRAU. Es geht gegen Morgen, ist das nicht Brandgeruch?

DER MANN. Sie legen Feuer, damit wir herauskommen.

DIE FRAU. Ich rede mit dem Offizier.

DER MANN. Nein. Sie sollen mich nicht lebendig haben.

DIE FRAU. Was hilft's dir, wenn du tot bist? – So ist noch eine Möglichkeit.

DER MANN. Sie sind schon auf dem Dach. Wir haben keine Waffen.

DIE FRAU. Ich winke mit dem Tuch aus dem Fenster, dann holen sie uns. Ich will nicht ersticken, wie die drüben.

DER MANN. Wir können nicht mehr heraus.

DIE FRAU. Wenn ich sie hereinlasse, kommen wir vielleicht noch davon.

DER MANN. Nein. Sie schießen auf uns. Lieber wehren, bis zum letzten Moment.[54]

DIE FRAU. Womit willst du dich wehren?

DER MANN. Wir haben keine Waffen. Ich kann mit dem Stuhl den ersten, der zur Tür kommt, niederschlagen.

DIE FRAU. Das ist nur einer; sie schießen die Wände ein und kommen durchs Fenster. Dem ersten, der kommt, springe ich an den Hals und beiße ihm die Gurgel durch. Dann weiß man, wofür man stirbt.

DER MANN. Nein – das rettet uns nicht. Sie morden – wir nicht!

DIE FRAU. Aber wie davonkommen – ohne Gewalt?

DER MANN. Mord und Gewalt ist nicht dasselbe!

DIE FRAU. Verwirr mich nicht. Ich sehe nur dies: Unser heutiges Leben – Gewalt. Unser Ziel – Gewaltlosigkeit!

DER MANN. Luise, ich höre sie kommen. Es ist unser letzter Augenblick.

DIE FRAU. Es ist heiß im Zimmer. Der Brand von nebenan schlägt herüber.

DER MANN. Ich werde mich ergeben, dann wird dir nichts geschehen.

DIE FRAU. Nein, so nicht. Ich habe mit dir gekämpft. Ich lasse dich nicht im Stich.

DER MANN. Es wird hell draußen. Ich nehme alles auf mich. Bleib hier. Ich gehe ihnen entgegen.

DIE FRAU. Bleibe. Ich lasse dich nicht. Wir sterben zusammen!

DER MANN. Nein, nicht sterben. Ich will nicht sterben. Wir haben noch nichts getan. Es ist noch nichts getan.

DIE FRAU. Zu spät.

DER MANN. Zu spät oder nicht. Wie still es ist. Man hört nur die Schüsse, wie in einer Fabrik. Die Straße ist ganz still.

DIE FRAU. Du bist jetzt so ruhig. Fast könnte ich Mut haben.

DER MANN. Wir haben nichts zu verlieren. Glaube nur diesmal noch.

DIE FRAU. Wir sollten uns nicht rühren, wenn sie kommen.

DER MANN. Dann machen sie uns nieder.

DIE FRAU. Sie sollen uns niedermachen. Sie sollen uns binden, sie sollen uns erschlagen.

DER MANN. Sie werden uns foltern, wie sie die Kameraden gefoltert haben. Sie werden uns Geständnisse erpressen, und dann erschießen sie uns.[55]

DIE FRAU. Sie erpressen uns nichts. Wir wehren uns nicht, und wir schweigen.

DER MANN. Ich rühre mich nicht. Unser Wille ist mehr als ihre Gewalt! – Es geht zu Ende. Luise, küsse mich.

DIE FRAU. Nein, nicht küssen. – Denke ganz an mich.

DER MANN. Jetzt ist alles gleich. Du bist mein Freund, meine Schwester, mein Wesen, meine Frau. Es ist gleich, ob sie uns martern. Das ist gekommen, wann ich es nicht mehr erwartet habe.

DIE FRAU. Ich umschlinge dich ganz fest. Ich denke nur von dir. – Sei ganz bei mir. Nun können sie morden.

DER MANN. Ich will nur noch bei dir sein. Ich höre nur dich. Ich bin so stark bei dir.

DIE FRAU. Alle Menschen stoßen mich zu dir. Ich höre nur deine Stimme noch. Wir sind ganz allein.

DER MANN. Wir sind ganz allein. Alle sind tot. Ich weiß nur noch von dir. Ich habe nur noch dich. Vielleicht entkommen wir über die Leiter an der Wand.

DIE FRAU. Sie sehen uns.

DER MANN. Sie werden uns nicht sehen. Ich will.

DIE FRAU. Ich will, daß sie uns nicht sehen. Ich will so stark, daß ich lautlos und wie eine Tote unsichtbar bin.

DER MANN. Ich will, daß wir leben. Wir dürfen noch nicht hin sein.

DIE FRAU. Ich will, daß du lebst. Wir haben noch alles zu tun.

DER MANN. Komm, leise. Hinab. Ich will, daß wir ein Schatten der Mauer sind. Verschwinden.

DIE FRAU. Verschwinden unter den Steinen, unter den Menschen für das Leben. Ich glaube an dich.

DER MANN. Fliege mit mir, komm. Ich will. Halte dich an mir. Wir schweben.

DIE FRAU. Hinunter. Hilf mir. Ich will.

DER MANN. Glaube, daß du träumst. Fliege im Schlaf; du rührst nur leise die Füße. Niemand sieht dich.

DIE FRAU. Ich schwebe mit dir.


Im Dunkel nur die beleuchteten Köpfe von Mann und Frau.


DER MANN. Jetzt. Wir fliegen.

DIE FRAU. Es wird so dunkel. Hinab. Wer zieht mich hinauf?[56]

DER MANN. Rund um mich ist dunkel.

DIE FRAU. Meine Füße sind nicht auf Festem. Der Boden sinkt.

DER MANN. Unten ist hell.

DIE FRAU. Wir sind in einem Gang.

DER MANN. Schreite, schreite. Es brennt wie Feuer. Komm hindurch!

DIE FRAU. Mit dir. Wo sind wir? Ich strecke den Arm, ich fühle keine Wände. Ein runder Gang ist um uns.

DER MANN. Hinab. Es reißt uns hinab. Rasende Schnelligkeit. Woran halt ich mich fest?

DIE FRAU. Halte mich fest. Ich sinke.

DER MANN. Wer ist da? Ich ersticke. Ist ein Mensch da? Wer steht da im Dunkel?

DIE FRAU. Hindurch! O eile.

DER MANN. Die letzte Kraft. Wir sind in einer finsteren Höhle. Ich sterbe für dich.

DIE FRAU. Lebe und töte mich. Ich bin nicht mehr.

DER MANN. Luft. Atme! Ich sehe Sterne. Es ist fest unter meinen Füßen. Luise, frei!

DIE FRAU. Daß ich noch lebe! Fort, fort. Es ist mein Leib.

DER MANN. Wir leben. Kein Mensch wird mehr sterben. Wir helfen allen. Wir sind stark.


Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. Leipzig 1976, S. 54-57.
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