Zweiter Aufzug


[75] Es wird wieder hell. Die Scene ist wie vorhin. Jarrimo sitzt im Lehnstuhl allein. Lisabella kommt von links.


LISABELLA. Nun, Väterchen, hast Du den Sturm abbestellt?

JARRIMO. Ich habs getan.

LISABELLA. Ach, Väterchen, wie dank ich Dir!


Kniet vor ihm nieder und küsst seine Hand.


JARRIMO. Ich fühle, dass ich sterbe.

LISABELLA. Aber – Väterchen!

JARRIMO. Gieb mir noch ein Glas Wein.

LISABELLA läuft zum Buffet und giesst ein Glas Wein ein. Hier, Väterchen! Aber sterben darfst Du nicht.

JARRIMO. Ich muss.


Er trinkt das Glas halb aus.


LISABELLA. Warum?

JARRIMO. Weil ich Dir den Willen getan habe.


Er sinkt zurück, das Glas fällt und zerbricht.


LISABELLA. Vater! Roderich! Roderich!


Sie hebt des Vaters Kopf und hält ihn, Roderich kommt.


LISABELLA. Der Vater stirbt.

RODERICH. Das wusste ich. Er hats so haben wollen.

LISABELLA. Weil er den Sturm abbestellt hat? Deswegen?

RODERICH. Deswegen musste er sterben.


Setzt sich auf den Diwan, Lisabella liegt wieder vor ihrem Vater auf den Knieen und streichelt seine Hände.


LISABELLA. Väterchen, warum hast Du mir das nicht gesagt? Ich hab das doch nicht gewusst.


Weint.


RODERICH. Weisst Du, Kind, warum Dein Vater starb?

LISABELLA. Warum?

RODERICH. Er wollte Dir durch seinen Tod zeigen, dass es nicht gut ist, Mitleid zu haben – mit den Menschen.

LISABELLA. Und warum ist es nicht gut?

RODERICH. Weil den Menschen des Mitleid garnichts nützt.

LISABELLA aufstehend. Und um mir diese Weisheit beizubringen – dazu musste mein Vater sterben?[75]

RODERICH. Er war Dir wohl zu gut; er hatte wohl Mitleid mit deinem Mitleiden.

LISABELLA. Und so bestrafte er sich selbst?

RODERICH. Vielleicht.

LISABELLA setzt sich auf ihren Stuhl am Fenster. Ich habe kein Mitleid mehr – mit Keinem. Sieht starr hinaus.


Vorhang!
[76]

Quelle:
Paul Scheerbart: Gesammelte Arbeiten für das Theater. Band 1, München 1977, S. 75-77.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Revolutionäre Theaterbibliothek
Revolutionäre Theater-Bibliothek. Gesammelte Arbeiten für das Theater, Bd. 1