18. Der Nachtigall Streit mit dem Widerhall

[466] Willkommen, süße Nachtigall,

Kommst mir zur rechten Stunde;[466]

Durchdring' die Luft mit rechtem Schall,

Klag', ruf aus tiefem Grunde.


Ruf ihn, ruf ihn, o Schwesterlein,

Den Liebsten zu mir lade;

Hilf treulich mir, sieh meine Pein,

Wie ich in Tränen bade.


Ach Schwester mein, sing süß und rein,

Den Liebsten ruf mit Namen;

Dann kurz, dann lang, zieh den Gesang,

All' Töne nimm zusammen.


Scheint wohl, sie mich verstanden hat,

Die Meisterin in Wälden;

Ihr's allbereit geht wohl von Statt,

Die Tönlein schon sich melden.


Nun noch einmal, mit starkem Schall

Sie den Gesang erhebet,

Weil Widerhall, aus grünem Tal

Freundlich entgegen strebet.


Die Nachtigall den Schall nicht kennt,

Sie hält's für ihr Gespielen;

Verwundert sich, wie sie behend

So gleichen Ton erzielen.


Erst bleibt sie stumm, schlägt wiederum,

Denkt ihr bald obzusiegen;

Doch Widerhall, mit gleichem Schall,

Kein Tönlein läßt verschwiegen.


Nun steiget auf die Nachtigall,

Hoch auf je mehr und mehre;

Gleich folget auch der Widerhall,

Wann's schon noch höher wäre.


So recht, geliebte Nachtigall,

Du jenem Schall nicht weiche;

So recht, du treuer Widerhall,

Dich stets mit ihr vergleiche.


Zur schönen Wett', nun beide tret',

Laßt Jesu Nam' erklingen;

Wann schon im Streit der Schwächste heut

Den Tod sich müßt' erringen.[467]


Nun hoch und immer höher schlägt

Nachtigall reich an Stimmen;

Doch Widerhall, so fort erregt,

Weiß ihr wohl nachzuklimmen.


Nun sammelt Atem sie und Blut

In diesem schönen Kriege,

Will noch mit letzter Kraft und Mut

Im einz'gen Liede siegen.


Ach da bricht ihr das mut'ge Herz,

Gesang und Ton verschwinden,

So wie die helle leuchtend' Kerz'

Erlischt im heft'gen Winde.


O muntre Kerz', o mutig Herz!

Wohl, bist du gleich gestorben,

Die Lorbeerkron, im letzten Ton,

Du dennoch hast erworben.


Weil du ein Seufzerlein gar zart

Im Tod hast lassen klingen,

So sanft, daß es dein Widerpart

Mit nichten mocht' erzwingen.


Verzage nicht, dein ist der Sieg,

Das Kränzlein dir gebühret;

Für dich allein, von Blümelein

Hab ich's schon fein gezieret.


Ade, geliebte Nachtigall,

Vom bleichen Tod entfärbet;

Nun liegst du da im grünen Tal,

Sag, wer dein Stimmlein erbet?


Könnt' es nicht sein, es würde mein?

O Gott, könnt' ich es erben!

Wollt' singen stät, so früh als spät,

Bis im Gesang tät sterben.


Quelle:
Friedrich von Schlegel: Dichtungen, München u.a. 1962, S. 466-468.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Grabbe, Christian Dietrich

Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. Ein Lustspiel in drei Aufzügen

Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. Ein Lustspiel in drei Aufzügen

Der Teufel kommt auf die Erde weil die Hölle geputzt wird, er kauft junge Frauen, stiftet junge Männer zum Mord an und fällt auf eine mit Kondomen als Köder gefüllte Falle rein. Grabbes von ihm selbst als Gegenstück zu seinem nihilistischen Herzog von Gothland empfundenes Lustspiel widersetzt sich jeder konventionellen Schemeneinteilung. Es ist rüpelhafte Groteske, drastische Satire und komischer Scherz gleichermaßen.

58 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon