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[839] Am dritten Tag aber, schon in früher Morgenstunde, erschien Herr Wohlschein in Person. Er kam geradeswegs von der Bahn, hatte Thilda begleitet, die früher als geplant, auf ein dringliches Telegramm des Gatten hin, plötzlich abgereist war. Ach, sie stellte sich wohl selbständiger und überlegener an, als sie war, die gute Thilda. Wie eilig und erregt sie nur die Depesche geöffnet, wie sie dann die Stirne gerunzelt und ein wenig gelacht hatte, und wie sie dunkelrot geworden war, ob vor Ärger oder[839] vor Freude, das war freilich schwer zu entscheiden. Sicher war jedenfalls, daß sie nun wieder im Expreßzug saß, der sie nach Holland entführte, in die Arme ihres ungeduldigen Gatten. Im übrigen habe sie sehr bedauert, daß sie Fräulein Fabiani kein zweites Mal gesehen, und lasse sie viele Male grüßen. Aber nun gab es auch noch etwas anderes, etwas Angenehmes – etwas sehr Erfreuliches gab es zu erzählen. Und Wohlschein fragte Therese, ob sie wohl erraten könne, was. Er faßte sie beim Kinn wie ein kleines Mädchen und küßte sie auf die Nasenspitze, wie er es in guter Laune zu Theresens Mißvergnügen gern zu tun pflegte. Therese war leider nicht imstande, das Erfreuliche zu erraten; oder vielleicht doch? – eine Einladung am Ende? – eine Einladung nach Holland für die Pfingstfeiertage? – oder für den Sommer nach Zandvord in die Villa? Nein, das war es nicht. Für dieses Jahr wenigstens stand eine solche Einladung noch nicht in Aussicht. Was also? Sie sei nun einmal nicht sehr geschickt im Rätselraten, er müsse schon so freundlich sein, ihr mitzuteilen, worüber sie sich eigentlich freuen sollte.

Nun, Thilda hatte gestern bei Tische eine Bemerkung gemacht, die ihr eigentlich ganz ähnlich sah, aber doch überraschend gekommen war: »Nun, Vater,« hatte sie gesagt, »warum heiratest du sie eigentlich nicht?« – »Wen, sie?« – Herr Wohlschein lachte: ob ihn Therese für einen Don Juan hielte, dem die Wahl gleich zwischen einer ganzen Anzahl von Damen freistünde? Nein, Thildas Bemerkung hatte sich ganz zweifellos ausschließlich auf Fräulein Therese Fabiani bezogen. »Warum heiratest du sie eigentlich nicht?« Sie konnte einfach nicht begreifen, warum er, Herr Wohlschein, Therese nicht zur Frau nähme. Denn wie es zwischen ihnen stünde, das hätte das kleine, schlaue Frauenzimmer sofort erkannt, aus der Art schon, behauptete sie, wie er in seinen Briefen Theresens Namen schrieb. Ja, Graphologin war sie auch. Und »du könntest wahrhaftig nichts Vernünftigeres tun,« hatte sie hinzugesetzt, »meinen Segen habt ihr.« Nun, was meinte Fräulein Therese dazu?

Therese lächelte, aber ihr Lächeln war keineswegs heiter. Und Herr Wohlschein wunderte sich, daß vorerst keine andere Antwort kam als dieses etwas starre Lächeln. Und fast noch mehr als er wunderte sich Therese selbst. Denn was sich in ihr regte, war nicht Freude, war gewiß kein Gefühl von Glück; es war eher Unruhe, wenn nicht gar Bangigkeit, war Angst vor der großen Veränderung, die ein solches Ereignis für ihr Leben bedeuten[840] müßte und in die sie sich, ein ältliches, an Selbständigkeit gewöhntes Fräulein, nicht so leicht würde finden können. Oder war es gar Angst davor, für alle Zukunft an diesen Mann gebunden zu sein, dem sie wohl zugetan war, dessen Liebesbeweise aber ihr im Grunde gleichgültig, zuweilen unangenehm und meistens lächerlich erschienen? Oder war am Ende auch Angst dabei vor Unannehmlichkeiten, die gerade im Anschluß an ihre Verheiratung sie von Seiten ihres Sohnes bedrohen konnten und denen Wohlschein kaum in der richtigen Weise begegnen, ja, für die er sich irgendwie an ihr schadlos halten würde?

»Warum sprichst du nicht?« fragte Wohlschein endlich betroffen.

Da faßte Therese nach seiner Hand. Etwas hastig, mit einer Miene, die sich allzu rasch erhellte, und in einem anfangs wie zweifelnden, dann aber eher scherzhaften Ton fragte sie: »Glaubst du denn, daß ich die rechte Frau für dich wäre?« – Wohlschein, rasch beruhigt, wie zur Erwiderung, näherte sich ihr in der etwas täppischen Weise, die sie meistens abzuwehren pflegte, sich aber diesmal doch gefallen ließ, um nicht die Stimmung und damit vielleicht mehr als die Stimmung dieses Augenblicks zu gefährden. Er wünschte, daß sie schon von den nächsten Tagen an ihre Lektionen einzuschränken beginne. Sie wollte anfangs davon nichts wissen, ja, sie erklärte sogar, daß sie auch nach ihrer Verheiratung eine Tätigkeit keineswegs völlig aufzugeben gedenke, die ihr Befriedigung, manchmal sogar Freude gewähre. – Immerhin, als ihr zufällig im Laufe der nächsten Tage eine neue Lektion angeboten wurde, lehnte sie ab, und in einer anderen Familie setzte sie die bisherige Anzahl der wöchentlichen Unterrichtsstunden von sechs auf drei herab, was Wohlschein fast wie eine ihm erwiesene Gefälligkeit zur Kenntnis nahm.

In diesen Tagen kam ein Brief von Franz mit einer sehr bündigen Geldforderung. Er nannte zugleich eine Deckadresse, an die der Betrag von hundert Gulden unverzüglich zu senden sei. Therese wollte und konnte die Tatsache ihrem Bräutigam nicht verschweigen, um so weniger, als ihr die Summe bei der Bezahlung des bald fälligen Zinses gefehlt hätte. Wohlschein gab ihr ohne weiteres den Betrag und nahm den Anlaß wahr, um eine offenbar schon längst von ihm gehegte Absicht kundzutun: er war bereit, Franz die Überfahrt nach Amerika zu bezahlen, vielmehr – da man doch einem solchen Menschen gegenüber keine Vorsicht außer acht lassen durfte – ihn in Begleitung einer Vertrauensperson nach Hamburg zu schicken und ihn dort, mit dem[841] Billett versehen, an Deck bringen zu lassen. Doch Therese, statt Wohlscheins Vorschlag als willkommenste Lösung aufzunehmen und dankbar zuzustimmen, brachte Bedenken und Einwendungen vor; und je mehr Wohlschein sie mit naheliegenden Gründen zu überzeugen suchte, um so hartnäckiger blieb sie dabei, daß sie den Gedanken, von ihrem Sohn durch das Weltmeer getrennt zu sein, nicht zu ertragen imstande sei; insbesondere jetzt, da ihre eigenen Verhältnisse sich so sichtlich zum Bessern wendeten, erscheine ihr ein solches Vorgehen gegenüber ihrem unglücklichen Sohn herzlos, ja geradezu eine Sünde, die sich irgend einmal rächen müsse. Wohlschein widersprach; wie es bei solchen Anlässen leicht der Fall zu sein pflegt, übersteigerte ein jeder noch die eigene Meinung, der Streit wurde immer heftiger, Wohlschein ging finster im Zimmer auf und ab, Therese brach endlich in Tränen aus, beide sahen ein, daß sie zu weit gegangen waren, Therese überdies, daß ihr Betragen gegen ihren Bräutigam der Klugheit doch allzu sehr ermangele, und ihre Beziehungen waren immerhin noch jung genug, um diesen ersten ernstlichen Streit in Zärtlichkeit enden zu lassen.

Als Wohlschein aber ein paar Tage darauf eine kleine Geschäftsreise antrat, von der er vorher nicht gesprochen hatte, hielt Therese es keineswegs für ausgeschlossen, daß diese vorübergehende Trennung vielleicht einen endgültigen Bruch vorbereiten sollte; und ein größeres Geldgeschenk, das er für sie zurückgelassen, hätte sie beinahe in ihrer Befürchtung bestärken können. Sie merkte aber, daß diese zeitweilige Trennung ihr eher wohltat, und bildete sich ein, daß sie sich auch mit dem Gedanken eines wirklichen Abschieds nicht allzu schwer abfinden würde.

Er kam früher zurück, als sie ihn erwartet, trat ihr mit sonderbarer Gemessenheit gegenüber, so daß ihr wieder etwas ängstlich zumute wurde, doch er ließ sie nicht lange in Ungewißheit, daß er sich indes auf eigene Faust mit der Angelegenheit ihres Sohnes weiter befaßt und in Erfahrung gebracht habe, Franz, womit auch die Deckadresse sich ungezwungen erklärte, büße eben im Landesgericht eine mehrmonatige Gefängnisstrafe ab; – nicht seine erste, wie sie wohl wissen dürfte. Nein, – sie wußte nichts. Nun, und was meinte Therese jetzt? Wollte sie, wollten sie beide – und er faßte ihre Hände – ihr ganzes Leben unter einem solchen Druck verbringen? War denn überhaupt abzusehen, wohin dieser Bursche noch geraten, was er noch anstellen, in welche peinliche Situationen er sie beide noch bringen konnte, wenn er weiterhin[842] in der Stadt oder auch nur im Lande verbliebe! Er selbst, Wohlschein, wollte die Sache nun mit Hilfe eines tüchtigen Kriminalbeamten, der ihm auch bisher bei seinen Nachforschungen beigestanden, ein für allemal in Ordnung bringen. Vielleicht ließe es sich machen, daß Franz geradeswegs vom Tor des Landesgerichtes aus die Reise nach Hamburg und Amerika antreten könnte.

Sie hörte still zu, ohne Widerrede, aber von Sekunde zu Sekunde spürte sie eine nagendere und schlimmere Qual im Herzen, die niemand hätte verstehen können, Herr Wohlschein am wenigsten, da doch auch sie selbst sie kaum verstand. »Wann kommt er heraus?« fragte sie, sonst nichts. – »Noch sechs Wochen, glaube ich, hat er abzusitzen«, erwiderte Wohlschein. – Sie schwieg, aber sie war entschlossen, Franz im Landesgericht zu besuchen, ihn einmal noch zu umarmen, ehe sie für ewig von ihm Abschied nehmen sollte.

Und doch schob sie den Besuch im Gefängnis immer wieder auf. Denn so schmerzlich ihr der Gedanke war, Franz nie wiedersehen zu sollen – sie verspürte doch keine Sehnsucht nach ihm und viel eher eine Scheu vor einem solchen Wiedersehen. Zwischen ihr und Wohlschein wurde vorläufig weiter über die Sache nicht gesprochen, aber auch die Frage des Hochzeitstermins wurde nicht berührt. Immerhin nahm der Verkehr zwischen ihnen einen gewissermaßen offizielleren Charakter an. Während er bisher mit ihr meist einfachere Wirtshäuser aufgesucht, soupierten sie jetzt manchmal in feineren Stadtrestaurants, zuweilen verbrachte er die ganze Nacht bei ihr, nahm oben das Frühstück, und endlich lud er sie für Sonntag mittag in sein Haus ein. Aber gerade dieses Zusammensein verlief freudlos und befangen. Und daß Wohlschein, da sie doch nun einmal so gut wie verlobt waren, vor dem die Speisen auftragenden Mädchen immer Sie zu ihr sagte und auch seiner nachher offenbar ohne sein Vorwissen erscheinenden, etwas überraschten Schwester gegenüber sich keineswegs als Theresens Bräutigam benahm, erschien ihr allzu vorsichtig und beinahe geschmacklos.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 839-843.
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