847. Das Kreuz auf dem Hesselberge.

[377] Von AdalbertMüller. – Nach mündlicher Mitth.


Am Hesselberge im Frankenland

Vor Zeiten ein ehern Kreuzbild stand,

Das blinkte gleich einem Sterne

Hinab in Thal und Ferne.


Im Winter, durch hartgefrornen Schnee,

Stieg einst ein Mägdlein heran die Höh'

Und setzte sich, müd und müder,

Zur Rast am Kreuze nieder.
[377]

Und wie sie in's Thal hinunterschaut,

Zum Dörfchen, am Bergeshang erbaut,

Da wird es vor Leid und Schmerzen

Ihr bitterweh im Herzen.


Denn in den Häusern und Häuschen all

Bereiten die Frau'n das Vespermahl;

Der Speisen würzige Düfte

Verdampfen in die Lüfte.


Und ach! des Mütterchens Herd allein

Erhellt nicht der Flammen falber Schein;

Kein Rauch entqualmet dem Schlote,

Des regen Feuers Bote.


»O weh!« so jammert, so ruft sie aus,

»Lieb Mütterchen liegt mir krank zu Haus;

Sie stöhnt und möchte verzagen

Vor Frost auf hartem Schragen.


Noch hat kein Süpplein sie heut' erquickt;

O wie sie schmachtet und leidend blickt!

Und ich der Siechen zur Labe

Nur Thränen – Thränen habe.


Ach, ob ich klagte und ob ich bat,

Doch Keiner – Keiner geholfen hat;

Will denn der Wittwen, der Armen

Sich Niemand mehr erbarmen?


Doch ja« – und sie schaut zum Kreuz' empor –

»Hier oben hört mich des Helfers Ohr;

Es steht meinem Jammer offen –

Auf Christum will ich hoffen.


Du heiliger, benedeiter Gott,

Laß nicht, o Vater, in dieser Noth

Lieb Mütterchen mir verderben,

Lieb Mütterchen mir sterben.


Du bist des Erbarmens ew'ger Quell,

Der Born der Liebe fließt reich und hell;

Ein Tröpfchen auf ihre Wunden,

Und Mutter wird gesunden.«
[378]

Und sieh! urplötzlich aus starrem Eis

Erhob sich ein maiengrünes Reis,

Mit rosigem Strahle glühten

Am Kreuzesstamm die Blüthen.


Die Kleine labt sich am Wunderstrauch

Und schlürfet entzückt den Balsamhauch

Und bricht, die Mutter zu trösten,

Ein Zweiglein von den Aesten.


Und eilet heimwärts mit flücht'gem Schritt,

Und wie sie in's dunkle Stübchen tritt,

Da glänzt mit der Sonne Blenden

Der Zweig in ihren Händen.


Die Mutter verläßt der Schmerz zur Stund',

Sie fühlt sich erstarkt – sie ist gesund:

In heißem Gebete loben

Sie den Erretter oben.


Das Mägdlein pflegte mit treuem Fleiß,

Mit zarter Liebe das Wunderreis;

Da war der Himmlischen Segen

Fortan auf ihren Wegen.

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 377-379.
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