Rom

[479] Nun bin ich wieder in dem Sitz der heiligen Kirche, aber nicht in ihrem Schoße. Wie schade das ist! Ich habe so viel Ansatz und Neigung zur Katholizität, würde mich so gern auch an ein Oberhaupt in geistlichen Dingen halten, wenn nur die Leute etwas leidlicher, ordentlich und vernünftig wären. Meiner ist der Katholizismus der Vernunft, der allgemeinen Gerechtigkeit, der Freiheit und der Humanität, und der ihrige ist die Nebelkappe der Vorurteile, der Privilegien, des eisernen Gewissenszwanges. Ich hoffte, wir würden einst zusammenkommen, aber seit Bonapartes[479] Bekehrung habe ich für mich die Hoffnung sinken lassen. Dank sei es der Frömmelei und dem Mamelukengeist des großen französischen Bannerherrn, die Römer haben nun wieder Überfluß an Kirchen, Mönchen und Banditen. Er hat uns zum wenigsten wieder einige hundert Jahre zurückgeworfen. Homo sum – sagt Terenz; sonst könntest Du leicht fragen, was mich das Zeug anginge. Aber ich will den Faden meiner Wanderschaft wieder aufnehmen.

Den letzten Tag in Neapel besuchte ich noch den Agnano und die Hundsgrotte. Schon Függer in Wien hatte mich gewarnt, ich möchte mich dort in Acht nehmen; allein im Mai, dachte ich, hat so ein Spaziergang wohl nichts zu sagen. Der Morgen war drückend und schwül, und über der Solfatara und dem Kamaldulenser Berge hingen Gewitterwolken. Alles ist bekannt genug; ich wollte nur aus Neugier das Lokale sehen und weiter keinen Hund auf die Folter setzen. Nachdem ich aber ungefähr ein Stündchen am See herumgewandelt war und mir die Lage besehen hatte, ward mir der Kopf auf einmal sonderbar dumpf und schwer, und ich eilte, daß ich durch die Bergschlucht wieder herauskam. Es war ein eigenes, furchtbares Gefühl, als ob sich alle flüssigen Teile mischten und die festen in sich auflösen wollten. Sowie ich mich von der Gegend entfernte, kehrte mein heller Sinn zurück, und es blieb mir nur eine gewisse Schwere und Müdigkeit von der Wärme. Eine eigene Erscheinung in meinem Physischen war es mir indessen, als ich gleich nachher in einem Wirtshause nicht weit von Posilippo aß, daß ich mir an einer eben nicht harten Kastanie auf einmal drei Zähne bis fast zum Ausfallen locker biß. Der Agnano und die Hundsgrotte kosten dich ein wenig zu viel, dachte ich, und tat schon Verzicht auf meine drei Vorderzähne. Aber Veränderung der Luft[480] und etwas Schonung haben sie bis auf einen wieder ziemlich festgemacht; und dieser wird sich hoffentlich auch wieder erholen. Will er nicht, nun so will ich ihn der Hundsgrotte opfern.

Von Rom nach Neapel war ich zu Fuß gegangen, von Neapel nach Rom fuhr ich der Schnelligkeit wegen mit dem neapolitanischen Kurier. Noch die Nacht fuhren wir über Aversa nach Kapua, und den Tag von Kapua nach Terracina. Anstatt einer attellanischen Fabel erzählte man uns in Aversa als wahre Geschichte, daß eben die Räuber vom Berge heruntergekommen wären und einen armen Teufel um sechzig Piaster erschlagen. In Fondi stahl ich mich mit etwas bösem Gewissen voraus, weil ich dem Herrn Zolleinnehmer nicht gern in die Hände fallen wollte. Dieser Herr hatte nämlich auf meiner Hinreise einen sehr großen Gefallen an meinem Seehundstornister bekommen, wollte ihn durchaus haben und bot mir bis zu drei goldenen Unzen darauf. Ich wollte ihn nicht missen, hatte seiner Zudringlichkeit aber doch einige Hoffnung gemacht, wenn ich zurückkäme; und jetzt wollte ich ihn ebensowenig missen. Wer bringt nicht gern Haut und Fell und alles wieder heil mit sich zurück? Durch die Pontinen ging es diesmal die Nacht, welches ich sehr wohl zufrieden war. Der Morgen graute, als wir in Velletri eintrafen. Nun kam aber eine echt italienische Stelle, über der ich leicht hätte den Hals brechen können.

Ich habe die Gewohnheit, beständig vorauszulaufen, wo ich kann. Zwischen Gensano und Aricia ist eine schöne Waldgegend, durch welche die Straße geht. Oben am Berge bat der Postillon, wir möchten aussteigen, weil er vermutlich den Hemmschuh einlegen wollte und am Wagen etwas zu hämmern hatte. Der Offizier blieb bei seinen Depeschen im Wagen, und ich[481] schlenderte leicht und unbefangen den Berg hinunter in den Wald hinein und dachte, wie ich Freund Reinhart in Aricia überraschen würde, der jetzt daselbst sein wollte. Ungefähr sieben Minuten mochte ich so fortgewandelt sein, da stürzten links aus dem Gebüsch vier Kerle auf mich zu. Ihre Botschaft erklärte sich sogleich. Einer faßte mich bei der Krause und setzte mir den Dolch an die Kehle; der andere am Arm und setzte mir den Dolch auf die Brust; die beiden übrigen blieben dispositionsmäßig in einer kleinen Entfernung mit aufgezogenen Karabinern. In der Bestürzung sagte ich halb unwillkürlich auf Deutsch zu ihnen: »Ei so nehmt denn ins Teufels Namen alles, was ich habe!« Da machte einer eine doppelt gräßliche Pantomime mit Gesicht und Dolch, um mir zu verstehen zu geben, man würde stoßen und schießen, sobald ich noch eine Silbe spräche. Ich schwieg also. In Eile nahmen sie mir nun die Börse und etwas kleines Geld aus den Westentaschen, welches beides zusammen sich vielleicht auf sieben Piaster belief. Nun zogen sie mich mit der vehementesten Gewalt nach dem Gebüsche, und die Karabiner suchten mir durch richtige Schwenkung Willigkeit einzuflößen. Ich machte mich bloß so schwer als möglich, da weiter tätigen Widerstand zu tun der gewisse Tod gewesen wäre; man zerriß mir in der Anstrengung Weste und Hemd. Vermutlich wollte man mich dort im Busche gemächlich durchsuchen und ausziehen und dann mit mir tun, was man für gut finden würde. Sind die Herren sicher, so lassen sie das Opfer laufen; sind sie das nicht, so geben sie einen Schuß oder Stich, und die Toten sprechen nicht. In diesem kritischen Momente – denn das Ganze dauerte vielleicht kaum eine Minute – hörte man den Wagen von ober herabrollen und auch Stimmen von unten; sie ließen mich also los, und nahmen die Flucht in den[482] Wald. Ich ging etwas verblüfft meinen Weg fort, ohne jemand zu erwarten. Die Uhr saß, wie in Sizilien, tief, und das Taschenbuch stark unter dem Arme in einem Rocksacke; beides wurde also in der Geschwindigkeit nicht gefunden. Die Kerle sahen gräßlich aus wie ihr Handwerk; keiner war, nach meiner Taxe, unter zwanzig und keiner über dreißig. Sie hatten sich gemalt und trugen falsche Bärte; ein Beweis, daß sie aus der Gegend waren und Entdeckung fürchteten. Reinhart traf ich in Aricia nicht; er war noch in Rom. So hätte ich wohl noch leicht in der schönen klassischen Gegend bleiben können. Dort spielt ein Teil der Aeneide, und nach aller Topographie bezahlten daselbst Nisus und Euryalus ihre jugendliche Unbesonnenheit; nicht eben, daß sie gingen, sondern daß sie unterwegs so alberne Streiche machten, die kein preußischer Rekrut machen würde. Wer wird einen schön polierten, glänzenden Helm bei Mondschein aufsetzen, um versteckt zu bleiben? Herr Virgil hat sie, vermutlich bloß der schönen Episode wegen, so ganz unüberlegt handeln lassen.

Hier in Rom brachte man mir die tröstliche Nachricht, daß zwei von den Schurken, die mich in dem Walde geplündert hätten, erwischt wären, und daß ich vielleicht noch das Vergnügen haben würde, sie hängen zu sehen. Dawider habe ich weiter nichts, als daß es bei der jetzigen Unordnung der Dinge sehr wenig helfen wird. Ich habe hier etwas von einem Manuskripte gesehen, das in kurzem in Deutschland, wenn ich nicht irre, bei Perthes gedruckt werden soll, und das ein Gemälde vom jetzigen Rom enthält. Du wirst Dich wundern, wenn ich Dir sage, daß fast alles darin noch sehr sanft gezeichnet ist. Der Mann kann auf alle Fälle kompetenter Beurteiler sein, denn er ist lange hier, ist ein freier, unbefangener, kenntnisvoller[483] Mann, bei dem Herz und Kopf gehörig im Gleichgewicht stehen. Die Hierarchie wird wieder in ihrer größten Ausdehnung eingeführt; und was das Volk eben jetzt darunter leiden müsse, kannst Du berechnen. Die Klöster nehmen alle ihre Güter mit Strenge wieder in Besitz, die Kirchen werden wieder geheiligt und alle Prälaten behaupten fürs allererste wieder ihren alten Glanz. Da mästen sich wieder die Mönche, und wer kümmert sich darum, daß das Volk hungert? Die Straßen sind nicht allein mit Bettlern bedeckt, sondern diese Bettler sterben wirklich daselbst vor Hunger und Elend. Ich weiß, daß bei meinem Hiersein an einem Tage fünf bis sechs Personen vor Hunger gestorben sind. Ich selbst habe einige niederfallen und sterben sehen. Rührt dieses das geistliche Mastheer? Der Ausdruck ist empörend, aber nicht mehr als die Wahrheit. Jedes Wort ist an seiner Stelle gut, denke und sage ich mit dem Alten. Als die Leiche Pius des Sechsten prächtig eingebracht wurde, damit die Exequien noch prächtiger gehalten werden könnten, erhob sich aus dem gläubigen Gedränge ein Fünkchen Vernunft in dem dumpfen Gemurmel, daß man so viel Lärm und Kosten mit einem Toten mache und die Lebendigen im Elende verhungern lasse. Rom ist die Kloake der Menschheit gewesen, aber vielleicht nie mehr als jetzt. Es ist keine Ordnung, keine Justiz, keine Polizei, auf dem Lande noch weniger als in der Stadt; und wenn die Menschheit noch nicht tiefer gesunken ist, als sie wirklich liegt, so kommt es bloß daher, weil man das Göttliche in der Natur durch die größte Unvernunft nicht ganz ausrotten kann. Du kannst denken, mit welcher Stimmung ein vernünftiger Philanthrop sich hier umsieht. Ich hatte mich mit einer bittern Philippika gerüstet, als ich wieder zu Borgia gehen wollte. Nil valent apud vos leges, nil[484] justitia, nil boni mores; sagittantur sacerdotes, perit plebs, caecutit populus; vilipenditur quodcunque est homini sanctum, honestas, modestia, omnis virtus. Infimus et improbissimus quisque cum armis per oppida et agros praedabundus incedit, furatur, rapit, trucidat, jugulat, incendia miscet. Haec est illa religio scilicet, auctoris ignominia, rationis opprobrium, qua vos homines liberos et viros fortes ad servitia et latrones detrudere conamini. So gor es, und ich versichere Dich, Freund, es ist keine Silbe Redekunst dabei. Aber gesetzt auch, ein Kardinal hätte das hingenommen, warum sollte ich dem alten, guten, ehrlichen Manne Herzklopfen machen? Es hilft nichts, das liegt schon im System. Man wird schon Palliativen finden, aber an Heilung ist nicht zu denken. Die Herren sind immer klug wie die Schlangen; weiter gehen sie im Evangelium nicht. Die neuesten Beweise davon kannst Du in Florenz und Paris sehen. Ich ging gar nicht zu Borgia, weil ich meiner eigenen Klugheit nicht traute. Überdies hielt mich vielleicht noch eine andere Kleinigkeit zurück. Die römischen Vornehmen haben einen ganzen Haufen Bedienten im Hause und geben nur schlechten Sold. Jeder Fremde, der nur die geringste Höflichkeit vom Herrn empfängt, wird dafür von der Valetaille in Anspruch genommen. Das hatte ich erfahren. Nun kann man einem ganzen Hausetat doch schicklich nicht weniger als einen Piaster geben; und so viel wollte ich für den Papst und sein ganzes Kollegium nicht mehr in Auslage sein.

Ich will das Betragen der Franzosen hier und in ganz Unteritalien nicht rechtfertigen: aber dadurch, daß sie die Sache wieder aufgegeben haben, ist die Menschheit in unsägliches Elend zurückgefallen. Ich weiß, was darüber gesagt werden kann, und von wie vielen Seiten alles betrachtet werden muß; aber wenn man[485] schlecht angefangen hat, so hat man noch schlechter geendigt; das Zeugnis wird mit Zähneknirschen jeder rechtliche Römer und Neapolitaner geben. Geschichte kann ich hier nicht schreiben. Durch ihren unbedingten, nicht notwendigen Abzug ist die schrecklichste Anarchie entstanden. Die Heerstraßen sind voll Räuber, die niederträchtigsten Bösewichter ziehen im Lande herum. Bloß während meiner kurzen Anwesenheit in Rom sind drei Kuriere geplündert und fünf Dragoner von der Begleitung erschossen worden. Niemand wagt es mehr, etwas mit der Post zu geben. Der französische General ließ wegen vieler Ungebühr ein altes Gesetz schärfen, das den Dolchträgern den Tod bestimmt, und ließ eine Anzahl Verbrecher vor dem Volkstore wirklich erschießen. Die Härte war Wohltat; nun war Sicherheit. Jetzt trägt jedermann wieder seinen Dolch und braucht ihn. Die Kardinäle sind immer noch in dem schändlichsten Kredit als Beschützer der Verbrecher. Man erzählt jetzt noch Beispiele mit allen Namen und Umständen, daß sie Mörder in ihren Wagen aus der Stadt in Sicherheit bringen lassen. – Über öffentliche Armenanstalten bei den Katholiken ist schon viel gesagt. Rom war auch in dieser Rücksicht die Metropolis. Jetzt sind durch die Revolution fast alle öffentliche Armenfonds wie ausgeplündert, und die Not ist vor der Ernte unter der ganz armen Klasse schrecklich. In ganz Marino und Albano ist keine öffentliche Schule, also keine Sorge für Erziehung; in Rom ist sie schlecht. Der Kirchenstaat ist eine Öde rund um Rom herum, deswegen erlaubt aber kein Güterbesitzer, daß man auf seinem Grunde arbeite. Das Feudalrecht könnte in Gefahr geraten. Wenn er nicht geradezu hungert, was gehn ihn die Hefen des Romulus an? Die Möncherei kommt wieder in ihren krassesten Flor, und man erzählt sich wieder[486] ganz neue Bubenstücke der Kuttenträger, die der Schande der finstersten Zeiten gleichkommen. Man sagt wohl, Italien sei ein Paradies, von Teufeln bewohnt; das heißt der menschlichen Natur Hohn gesprochen. Der Italiener ist ein edler, herrlicher Mensch; aber seine Regenten sind Mönche oder Mönchsknechte; die meisten sind Väter ohne Kinder, das ist Erklärung genug. Überdies ist es der Sitz der Vergebung der Sünde.

Ich will nur machen, daß ich hinauskomme, sonst denkst Du, daß ich beißig und bösartig geworden bin. Die Partien rundherum sind ohne mich bekannt genug, ich habe die meisten, allein und in Gesellschaft, in der schönsten Jahreszeit genossen. Man kann hier sein und sich wohl befinden, nur muß man die Humanität zu Hause lassen. Mit Uhden habe ich die Partien von Marino, Grottaferrata, Frascati und den Albaner See gesehen. Eines der ältesten Monumente ist am See der Felsenkanal, der das Wasser aus demselben durch den Berg in die Ebene hinabläßt, und der, wenn ich nicht irre, noch aus den Zeiten des Kamillus ist. Die Geschichte seiner Entstehung ist bekannt. Man wirkt noch heute ebenso durch den Aberglauben wie damals. Wenn der Gott von Delphi den Auspruch der Mathematiker nicht bestätigt hätte, wären die Römer schwerlich an die Arbeit gegangen. Das ganze Werk steht noch jetzt in seiner alten, herrlichen, ursprünglichen Größe da und erfüllt den Zweck. Uhden wunderte sich, daß Cluver, ein sonst so genauer und gewissenhafter Beobachter, sagt, es seien noch Spuren da, da doch der ganze Kanal noch ebenso gangbar ist wie vor zweitausend Jahren. Mir deucht, zu Cluvers Rechtfertigung kann man annehmen, daß der Eingang eben damals verschüttet war, welches sich periodenweise leicht denken läßt; und der Antiquar untersuchte[487] nicht näher. Der Eingang ist ein sehr romantischer Platz und der Gegenstand der Zeichner; vorzüglich wirkt die alte perennierende Eiche an demselben. Das Schloß Gandolfo oben auf dem Berge ist eine der schönsten Aussichten in der ganzen schönen Gegend. Hier zeigte man mir im Promenieren einen Priester, der in einem Gefechte mit den Franzosen allein achtzehn niedergeschossen hatte. Das nenne ich einen Mann von der streitenden Kirche! Wehe der Humanität, wenn sie die triumphierende wird! Wer auf Hadrian eine Lobrede schreiben will, muß nicht hierhergehen und die Überreste seiner Villa sehen; man sieht noch ganz den Pomp eines morgenländischen Herrschers und die Furcht einer engbrüstigen, tyrannischen Seele. Auch sogar sein Grabmahl hat die päpstliche Zwittertyrannei zu ihrem Ergastel gemacht. Trajan hat Monumente besserer Bedeutung hinterlassen. Wo bei Frascati wahrscheinlich des großen Tullius Tuskulum gestanden hat, sieht man jetzt sehr analog – eine Papiermühle. Das Plätzchen ist sehr philosophisch, nur würde Thucydides hier schwerlich die tuskulanischen Quästionen oder gar de natura deorum geschrieben haben. Der schönste Ort von allen antiken Gebäuden, die ich noch gesehen habe, ist unstreitig die Villa des Mäzen in Tivoli. Man kann annehmen, daß der Schmeichler Horaz hier mehrere seiner liebsten Oden gedichtet habe für den gewaltigen Mann, neben und unter dem er hier hauste. Man wollte mich unten am Flusse jenseits nicht weit von den Ställen des Varus in ein Haus führen, wo noch Horazens Bad zu sehen sein soll; aber ich hatte nicht Lust, es fiel mir seine Candidia ein. Virgil war ein feinerer Mann und ein besserer Mensch. Kein Stein ist hier oben ohne Namen, und um die Kaskade und die Grotte und um die Kaskadellen. Wenn ich Dir[488] die Kaskadellen von unserm Reinhart mitbringen könnte, das würde für Dich noch Beute aus Hesperien sein; ich bin nur Laie.

Von den Kunstschätzen in Rom darf ich nicht anfangen. Die Franzosen haben allerdings vieles fortgeschafft, aber der Abgang wird bei dem großen Reichtume doch nicht sehr vermißt. Überdies haben sie mit wahrem Ehrgefühl kein Privateigentum angetastet. Einigen ihrer vehementesten Gegner haben sie zwar gedroht, doch ist es bei den Drohungen geblieben; und die Privatsamlungen sind bekanntlich zahlreich und sehr ansehnlich. Nur einige sind durch die Zeitumstände von ihren Besitzern zersplittert worden, vorzüglich die Sammlung des Hauses Colonna. Aus den Gärten Borghese ist kein einziges Stück entfernt. Bloß der Fechter und der Silen haben einen klassischen Wert, wie ihn mehrere der nach Paris geschafften Stücke nicht haben. Die größte Sottise, die vielleicht je die Antiquare gemacht haben, ist, daß sie diesen Silen mit dem lieblichen jungen Bacchus für einen Saturnus hielten, der eben auch diese Geburt fressen wollte. Der erste, der diese Erklärung auskramte, muß vor Hypochondrie Konvulsionen gehabt haben. Vorzüglich beschäftigte mich noch eine Knabenstatue mit der Bulle, die man für einen jungen Britanicus hält. Sei es, wer es wolle, es ist ein römischer Knabe, der sich der männlichen Toga nähert, mit einer unbeschreiblichen Zartheit und Anmut dargestellt. Ich habe nichts ähnliches in dieser Art mehr gefunden.

In der Galerie Doria zog meine Aufmerksamkeit vornämlich ein weibliches Gemälde von Leonardo da Vinci auf sich, das man für die Königin Johanna von Neapel ausgab. Das kann Johanna nicht sein, sagte ich, unmöglich; ich wäre für das Original von Leukade gesprungen, das kann die Neapolitanerin nicht sein.[489] Wenn sie es ist, hat die Geschichte gelogen, oder die Natur selbst ist eine Falschspielerin. Man behauptete, es wär ihr Bild, und ich genoß in der Träumerei über den Kopf den schönen Salvator Rosi im andern Flügel nur halb. Als ich nach Hause kam, fragte ich Fernow, und dieser sagte mir, ich habe recht; es sei nun ausgemacht, daß es eine gewisse Gräfin aus Oberitalien sei. Ich freute mich, als ob ich eine Kriminalinquisition los wäre.

Auf dem Kapitol vermißte ich den schönen Brutus. Dieser ist nach Paris gewandelt, hieß es. Was soll Brutus in Paris? Vor fünfzig Jahren wäre es eine Posse gewesen, und jetzt ist es eine Blasphemie. Dort wachsen die Cäsaren wie die Fliegenschwämme. Noch sah ich die alte hetrurische Wölfin, die bei Cäsars Tode vom Blitz beschädigt worden sein soll. Die Seltenheit ist wenigstens sehenswert. Von dem Turm des Kapitols übersah ich mit einem Blick das ganze, große Ruinenfeld unter mir. Einer meiner Freunde machte mir ein Geschenk mit einer Rhapsodie über die Peterskirche; ich gab ihm dafür eine über das Kapitol zurück. Ich schicke sie Dir hier, weil ich glauben darf, daß Dir vielleicht die Aussicht einiges Vergnügen machen kann.


Du zürnst, daß dort mit breitem Angesichte

Das Dunstphantom des Aberglaubens glotzt

Und jedem Feuereifer trotzt,

Der aus der Finsternis zum Lichte

Uns führen will; Du zürnst den Bübereien,

Dem Frevel und dem frechen Spott,

Mit dem der Plattkopf stiert, der Tugend uns und Gott

Zum Unsinn macht; den feilen Schurkereien,

Und der Harpye der Mönchereien,[490]

Dem häßlichsten Gespenst, das aus dem Cocyt entkroch,

Das aus dem Schlamm der Dummheit noch

Am Leitseil der Betrügereien

Zehntausend hier, zehntausend dort ins Joch,

Dem willig sich die Opfertiere weihen,

Zum Grabe der Vernunft berückt,

Und dann mit Hohn und Litaneien

Aus seiner Mastung niederblickt;

Du zürnst, daß man noch jetzt die Götzen meißelt

Und mit dem Geist der Mitternacht

Zu ihrem Dienst die Menschheit niedergeißelt

Und die Moral zur feilen Dirne macht,

Bei der man sich zum Sybariten kräuselt

Und Recht und Menschenwert verlacht.


Dein Eifer, Freund, ist edel. Zürne!

Oft gibt der Zorn der Seele hohen Schwung

Und Kraft und Mut zur Besserung;

Indessen lau mit seichtem Hirne

Der Schachmaschinenmensch nach den Figuren schielt

Und von dem Busen seiner Dirne

Verächtlich nur die Puppen weiterspielt.


Geh hin und lies, fast ist es unsre Schande,

Es scheint, es war das Schicksal Roms,

In Geierflug zu ziehn von Land zu Lande;

Es schlug die Erde rund in Bande

Und wechselt nur den Sitz des Doms.

Was einst der Halbbarbar ins Joch mit Eisen sandte,

Beherrschet nun der Hierofante

Mit dem Betruge des Diploms.[491]

Jetzt türmet sich am alten Vatikane

Des Aberglaubens Burg empor,

In deren dumpfigen Arkane

Sich längst schon die Vernunft verlor,

Und wo man mit geweihtem Ohr

Und Nebelhirn zur neuen Fahne

Des alten Unsinns gläubig schwor.

Dort steht der Dom, den Blick voll hohen Spottes,

Mit dem er Menschensinn verhöhnt;

Und mächtig stand, am Hügel hingedehnt,

Einst hier die Burg des Donnergottes,

Wo noch des Tempels Trümmer gähnt;

Und wer bestimmt, aus welchem Schlunde

Des Wahnsinns stygischer Betrug

Der armen Welt die größte Wunde

Zur ewigen Erinnrung schlug?


Hier herrschten eisern die Katonen

Mit einem Ungeheur von Recht,

Und stempelten das menschliche Geschlecht

Despotisch nur zu ihren Frohnen;

Als wäre von Natur vor ihnen jeder Knecht,

Den Zeus von seinem Kapitole

Mit dem Gefolge der Idole

Sich nicht zum Lieblingssohn erkor;

Und desto mehr, je mehr er kühn empor

Mit seines Wesens Urkraft strebte

Und sklavisch nicht, wie vor dem Sturm das Rohr

Beim Zorn der Herr'n der Erde bebte.

Nur wer von einem Räuber stammte,

Dem Fluch der Nachbarn, wessen Heldenherz,

Bepanzert mit dem dicksten Erz,

Zum Hohn der Menschheit lodernd flammte,[492]

Wer alle andern wie Verdammte

Zur tiefsten Knechtschaft von sich stieß

Und den Beweis in seinem Schwerte wies –

Nur der gelangte zu der Ehre,

Ein Mann zu sein im großen Würgerheere.

Oft treibt Verzweiflung zu dem Berge,

Dem Heiligen, dem Retter in der Not,

Wenn blutig des Bedrückers Scherge

Mit Fesseln, Beil und Ruten droht.

Und, was erstaunt jetzt kaum die Nachwelt glaubet,

Dem größten Teil der Nation,

Dem ganzen Sklavenhaufen, raubet

Der Blutgeist selbst die Rechte der Person,

Und setzt ihn mit dem Vieh der Erde

Zum Spott der Macht in eine Herde.

Der Wüstling warf dann in der Wut,

Für ein zerbrochnes Glas, mit wahrer Römerseele

Den Knecht in die Muränenhöhle,

Und fütterte mit dessen Blut

Für seine schwelgerischen Tische

Die seltenen, weitgereis'ten Fische:

Und für die Kleinigkeit der Sklavenstrafe ließ

Mit Zorn der schlauste der Tyrannen,

Den seine Welt Augustus hieß,

Zehn Tage lang den Herrn von sich verbannen.

Nimm die zwölf Tafeln, Freund, und lies,

Was zum Gesetz die Blutigen ersannen,

Was ihre Zehner kühn gewannen,

Durch die man frech die Menschheit von sich stieß.


Wer zählet die Proskriptionen,

Die der Triumvir niederschrieb,[493]

In denen er durch Henker ohne Schonen

Die Bande voneinander hieb,

Die, das Palladium der Menschlichkeit zu retten,

Uns brüderlich zusammenketten.

Durch sie wird Latium in allen Hainen rot

Bis in die Grotten der Najaden,

Und mit dem Grimm des Schrecklichen beladen,

Des Fluchs der Erde, gingen in den Tod

An einem Tage Myriaden;

Und gegen Sullas Henkergeist

Ist, zu der neuen Zeiten Ehre,

Der Aftergallier, der Blutmensch Robespierre,

Ein Genius, der mild und menschlich heißt.


Man würgte stolz, und hatte man

Mit Spott und Hohn die Untat frech getan,

So stieg man hier auf diesen Hügel

Und heiligte den Schreckenstag,

Der unter seiner Schande Siegel

Nun in der Weltgeschichte lag.

Man schickte, ohne zu erröten,

Den Liktor mit dem Beil und ließ

Im Kerker den Gefangnen töten,

Der in der Schlacht als Held sich wies,

Vor dessen Tugend man selbst in der Raubburg zagte

Und nicht sie zu bekämpfen wagte.


Dort gegenüber setzten sich

Die Cäsarn auf dem Palatine,

Wo noch die Trümmer fürchterlich

Herübergähnt und jetzt mit Herrschermiene

Auch aus dem Schutte der Ruine,

Wie in der Vorwelt Eisenzeit,

Mit Ohnmacht nur Gehorsam noch gebeut.[494]

Dort herrschten, hebt man kühn den Schleier,

Im Wechsel nur Tyrann und Ungeheuer;

Dort grub der Schmeichler freche Zunft

Mit Schlangenwitz am Grabe der Vernunft.

Dort starben Recht und Zucht und Ehre;

Dort betete man einst Sejan,

Narciß und sein Gelichter an,

Wenn die Neronen und Tibere

Nur scheel auf ihre Sklaven sahn –

Sie selbst der Schändlichkeit Heloten,

Die Qual und Tod mit einem Wink geboten!


Dort ragt der Schandfleck hoch empor.

Wo, wenn des Scheusals Wille heischte,

Des Tigers Zahn ein Menschenherz zerfleischte,

Und wo der Sklaven grelles Chor

Dem Blutspektakel Beifall kreischte

Und keinen Zug des Sterbenden verlor;

Wo zu des Römerpöbels Freude

Nur der im Sand den höchsten Ruhm erwarb

Der mit dem Dolch im Eingeweide

Und Grimm im Antlitz starb.


Von außen Raub und Sklaverei von innen,

Bei Cato, wie bei Seneca.

Stehst Du noch jetzt entzückt vor Deinen Römern da,

Und stellst sie auf des Ruhmes Zinnen?

Vergleiche, was durch sie geschah,

Von dem Sabiner bis zum Goten;

Die Kapitolier bedrohten

Die Menschheit mehr als Attila,

Trotz allen preisenden Zeloten.

Betrachtest Du die Stolzen nur mit Ruh,

Für einen Titus schreibest Du[495]

Stets zehn Domitiane nieder.

Behüte Gott nur uns und unsre Brüder

Vor diesem blutigen Geschlecht,

Vor Römerfreiheit und vor Römerrecht!

Wenn Peter stirbt, erwache Zeus nicht wieder!


In dem Palast Spada besuchte ich einige Augenblicke die Statue des Pompejus, die man bekanntlich für die nämliche ausgibt, unter welcher Cäsar erstochen wurde. Dieses kann aber vielleicht so wahrscheinlich gemacht werden, als solche Sachen es leiden. Die Statue hat sonst nichts Merkwürdiges und ist artistisch von keinem großen Wert. Unter dieser Statue sollten alle Revolutionäre mit wahren, hellen, gemäßigten Philanthropen zwölf Mitternächte Rat halten, ehe sie einen Schritt wagten. Was rein, gut oder schlecht in dem einzelnen ist, ist es nicht immer in der Gesamtheit; auf der Stufe der Bildung, auf welcher die Menschheit jetzt steht.

Die Peterskirche gehört eigentlich der ganzen Christenheit, und die Hierarchie würde vielleicht gerne das enorme Werk vernichtet sehen, wenn sie das unselige Schisma wieder heben könnte, das über ihrem Bau in der christlichen Welt entstanden ist. Etwas mehr gesunde Moral und Mäßigung hätte damals die Päpste mit Hilfe des abergläubischen Enthusiasmus zu Herren derselben gemacht; diese Gelegenheit kommt nie wieder. Ob die Menschheit dadurch gewonnen oder verloren hätte, ist eine schwere Frage. Es ist, als ob man der stillen Größe der alten Kunst mit diesem herkulischen Bau habe Hohn sprechen wollen. Du kennst das Pantheon als den schönsten Tempel des Altertums. Stelle Dir vor, einen verhältnismäßigen ungeheuern Raum als die Area des Heiligentempel zu einer großen Höhe aufgeführt, und oben das[496] ganze Pantheon als Kuppel daraufgesetzt, so hast Du die Peterskirche. Das Riesenmäßige hat man erreicht. Wir saßen in dem Knopfe der Kuppel unser drei und übersahen die gefallene Roma. Diese Kirche wird einst mit ihrer Kolonnade die größte Ruine von Rom, sowie Rom vielleicht die größte Ruine der Welt ist.

In dem benachbarten Vatikan beschäftigten mich nur Raphaels Logen und Stanzen und die Sixtinische Kapelle. Beide sind so bekannt, daß ich es kaum wage, Dir ein Wort davon zu sagen. Ein Engländer soll jetzt das jüngste Gericht von Michel Angelo in zwölf Blättern stechen. Das erste Blatt ist fertig und hat den Beifall der Kenner. Er sollte dann fortfahren und die ganze Kapelle nach und nach geben. Die Sibyllen haben ebenso herrliche Gruppierungen und sind ebenso voll Kraft und Seele.

Vor der Schule Raphaels habe ich stundenlang gestanden und mich immer wieder hingewendet. Nach diesem Sokrates will mir kein anderer mehr genug tun. So muß Sokrates gewesen sein, wie dieser hier ist, und so Diogenes, wie dieser da liegt. Pythagoras hielt mich nicht so lange fest als Archimedes mit seiner Knabengruppe. In dieser hat vielleicht der Künstler das vollendetste Ideal von Anmut und Würde dargestellt. Ich sah den Brand und im Vorzimmer die Schlacht, aber ich ging immer wieder zu seiner Schule. Ich würde vor dem erhabenen Geiste des Künstlers voll drückender Ehrfurcht zurückbeben, wenn ich nicht an der andern Wand seinen Parnaß sähe, auf welchen er als den Apoll den Kammerdiener des Papstes mit der Kremoneser Geige gesetzt hat. Aber ich möchte doch lieber etwas angebetet haben, als eine solche Vermenschlichung sehen – den Apollo mit einer Kremoneser Geige! Die Logen fangen an, an der Luftseite[497] stark zu leiden. Sie sind ein würdiger Vorhof des Heiligtums und vielleicht reicher als das Adyton selbst. Hier konnten die Gallier nichts antasten; sie hätten denn als Vandalen zerstören müssen, und das sind sie doch nicht, ihre Feinde mögen sagen, was sie wollen. Ich müßte Dir von Rom allein ein Buch schreiben, wenn ich länger bliebe und länger schriebe; und ich würde doch nur wenig erschöpfen.

Zum Schluß schicke ich Dir eine ganz funkelnagelneue Art von Zentauren, von der Schöpfung eines unserer Landsleute. Aber ich muß Dir die Schöpfungsgeschichte erzählen, damit Du das Werk verstehst.

Es hält sich seit einigen Jahren hier ein reicher Brite auf, dessen grilliger Charakter, gelinde gesprochen, durch ganz Europa ziemlich bekannt ist, und der weder als Lord eine Ehre der Nation noch als Bischof eine Zierde der Kirche von England genannt werden kann. Dieser Herr hat bei der Impertinenz des Reichtums die Marotte, den Kenner und Gönner in der Kunst zu machen und den Geschmack zu leiten, und zwar so unglücklich, daß seine Urteile in Italien hier und da bei Verständigen fast schon allein für Verdammung gelten. Vorzüglich haßt er Raphael und zieht bei jeder Gelegenheit seine deos minorum gentium auf dessen Unkosten hervor. Indessen er bezahlt reich, und es geben sich ihm, zur Erniedrigung des Genius, vielleicht manche gute Köpfe hin, die er dann ewig zur Mittelmäßigkeit stempelt. Viele lassen sich vieles von dem reichen Briten gefallen, der selten in den Grenzen der feineren Humanität bleiben soll. Für einen solchen hielt er nun auch unsern Landsmann; dieser aber war nicht geschmeidig genug, sein Klient zu werden. Er lief und ritt und fuhr mit ihm und lud ihn oft in sein Haus. Der Lord fing seine gewöhnlichen Ungezogenheiten gegen ihn an, fand aber nicht[498] gehörigen Knechtsgeist. Einmal bat er ihn zu Tische. Der Künstler fand eine angesehene Gesellschaft von Fremden und Römern, welcher er von dem Lord mit vielem Bombast als ein Universalgenie, ein Erzkosmopolit, ein Hauptjakobiner vorgestellt wurde. Jakobiner pflegt man dort, wie fast überall, jeden zu nennen, der nicht ganz untertänig geduldig der Meinung der gnädigen Herren ist und sich's wohl gar beigehen läßt, Unbefugnisse in dem Menschen zu finden die er behaupten muß, wenn er Menschenwert haben will. Dem Künstler mußte dieser Ton mißfallen, und ein Fremder, der es merkte, suchte ihn durch Höflichkeit aus der peinlichen Lage zu ziehen, indem er ihn nach seinem Vaterlande fragte. »Ei was?« fiel der Lord polternd ein; »es ist ein Mensch, der kein Vaterland hat, ein Universalmensch, der überall zu Hause ist.« »Doch, doch, Mylord«, versetzte der Künstler, »ich habe ein Vaterland, dessen ich mich gar nicht schäme; und ich hoffe, mein Vaterland soll sich meiner nicht schämen: Sono Prussiano.« Man sprach Italienisch. »Prussiano? Prussiano?« sagte der Wirt; »Ma mi pare che siete ruffiano.« Das war doch Artigkeit gegen einen Mann, den man zu Tische gebeten hatte! Der ehrliche, brave Künstler machte der Gesellschaft eine Verbeugung, würdigte den Lord keines Blicks und verließ das Zimmer und das Haus. Nach seiner Zurückkunft in sein eigenes Zimmer schrieb er in gerechter Empfindlichkeit ihm ungefähr folgenden Brief:


»Mylord,

Ganz Europa weiß, daß Sie ein alter Geck sind, an dem nichts mehr zu bessern ist. Hätten Sie nur dreißig weniger, so würde ich von Ihnen für Ihre ungezogene Grobheit eine Genugtuung fordern, wie sie Leute von Ehre zu fordern berechtigt sind. Aber davor sind Sie[499] nun gesichert. Ich schätze jedermann, wo ich ihn finde, ohne Rücksicht auf Stand und Vermögen, nach dem, was er selbst wert ist; und Sie sind nichts wert. Sie haben alles, was Sie verdienen – meine Verachtung.«


Der Lord hielt sich den Bauch vor Lachen über die Schnurre, er mag an solche Auftritte gewöhnt sein. Aber der Zeichner setzte sich hin und fertigte das Blatt, das ich Dir gebe. Das langgestreckte Schwein, die vollen Flaschen auf dem Sattel, die leeren zerbrochenen Flaschen unten, das Glas, der Finger, der Krummstab, der große antike Weinkrug, der an dem Stocke lehnt, alles charakterisiert bitter, auch ohne Kopf und Ohren und ohne den Vers; aber alles ist Wahrheit. Der alte fünfundsiebzigjährige Pfaffe läßt noch kein Mädchen ruhig.


Auch seines Lebens letzten Rest

Beschäftigt noch Lucinde;

Wenn ihn die Sünde schon verläßt,

Verläßt er nicht die Sünde.


Der Lord erhielt Nachricht von der Zeichnung, deren Notiz in den guten Gesellschaften in Rom herumlief, und knirschte doch mit den Zähnen. Für so verwegen hatte er einen Menschen nicht gehalten, der weder Bänder noch Geld hatte. Endlich sagte er doch, nach der gewöhnlichen Regel, wo man zu bösem Spiele gute Miene macht: »Il s'est vengé en homme de génie.« Die Zeichnung bekam ich, und ich trage kein Bedenken, sie Dir mitzuteilen. Für solche Delinquenten ist keine Strafe als die öffentliche Meinung; und warum soll die öffentliche Meinung nicht – öffentlich sein und öffentlich dokumentiert werden? Die Parteien sind der Maler Reinhart und Lord Bristol. Von[500] Bristol ist nun wohl keine Besserung zu erwarten; aber andere sollen nicht so werden wie er ist; deswegen wird es erzählt.

Quelle:
Johann Gottfried Seume: Prosaschriften. Köln 1962, S. 479-501.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802
Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802
Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802
Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802
Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 (insel taschenbuch)
Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Jean Paul

Titan

Titan

Bereits 1792 beginnt Jean Paul die Arbeit an dem von ihm selbst als seinen »Kardinalroman« gesehenen »Titan« bis dieser schließlich 1800-1803 in vier Bänden erscheint und in strenger Anordnung den Werdegang des jungen Helden Albano de Cesara erzählt. Dabei prangert Jean Paul die Zuchtlosigkeit seiner Zeit an, wendet sich gegen Idealismus, Ästhetizismus und Pietismus gleichermaßen und fordert mit seinen Helden die Ausbildung »vielkräftiger«, statt »einkräftiger« Individuen.

546 Seiten, 18.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon