Vierundzwanzigstes Kapitel.

[262] Aber er begann auch zu fürchten, daß irgendwelche unzeitige Hilfe von außen ihm seine Freude stören könne. Chilon konnte den Stadtpräfekten oder die Freigelassenen zu Hause von seinem Verschwinden in Kenntnis setzen, und in diesem Falle war ein Angriff von seiten der Wache wahrscheinlich. Allerdings schoß ihm dabei der Gedanke durch den Kopf, daß er dann den Befehl geben könne, Lygia mitzunehmen, um sie in seinem Hause einzusperren, aber er fühlte, daß er dies nicht tun durfte – und nicht konnte. Er war eigenwillig, trotzig und zur Genüge verderbt, auch unter Umständen unerbittlich, aber er war trotzdem noch kein Tigellinus oder Nero. Das Kriegsleben hatte in ihm eine Art Gerechtigkeits- und Ehrgefühl und so viel Gewissen übriggelassen, um zu erkennen, daß eine solche Handlungsweise erbärmlich und gemein sei.

Mit Verwunderung bemerkte er, daß von dem Augenblicke an, wo Lygia auf seine Seite getreten war, weder sie selbst noch Crispus von ihm irgendwelche Zusicherung verlangten, gleich als seien sie überzeugt, daß im Notfalle eine überirdische Macht ihnen beistehen werde. Vinicius, in dessen Kopfe, seitdem er im Ostrianum die Rede und Unterweisung des Apostels mitangehört hatte, sich der Unterschied zwischen Möglichem und Unmöglichem zu vermischen begann, war jetzt[262] nicht allzuweit von dem Glauben entfernt, daß ein solches Eingreifen möglich sei. Betrachtete er jedoch die Dinge nüchterner, so erinnerte er seine Umgebung selbst daran, was er über den Griechen gesagt hatte, und verlangte von neuem, man möchte ihm Chilon holen.

Crispus war damit einverstanden, und man beschloß, Ursus hinzuschicken. Vinicius, der in den letzten Tage vor dem Besuche des Ostrianums mehrmals, oft, wenn auch vergeblich, Sklaven zu Chilon geschickt hatte, bezeichnete dem Lygier genau dessen Wohnung, dann schrieb er einige Worte auf eine Tafel, gab sie Crispus und sagte: »Ich will ihm eine Tafel schicken, denn er ist ein argwöhnischer und verschlagener Mensch, der oft, wenn ich ihn zu mir rufen wollte, meinen Leuten sagen ließ, er sei nicht zu Hause, und dies immer tat, wenn er für mich keine guten Nachrichten hatte und sich daher vor meinem Zorn fürchtete.«

»Wenn ich ihn finde, so bringe ich ihn mit, ob er will oder nicht,« antwortete Ursus.

Dann nahm er seinen Mantel und entfernte sich eiligst.

Jemand in Rom aufzufinden, war selbst bei den zuverlässigsten Angaben nicht leicht. Aber Ursus besaß in solchen Dingen den Instinkt eines Jägers und zugleich eine genaue Ortskenntnis, so daß er sich nach kurzer Zeit in Chilons Wohnung befand.

Er erkannte ihn jedoch nicht. Vorher hatte er ihn nur einmal in seinem Leben gesehen, und dies auch noch bei Nacht. Im übrigen war dieser dreist und selbstbewußt auftretende alte Mann, der Ursus überreden wollte, Glaukos zu ermorden, diesem vor Schreck jetzt doppelt gebeugten Griechen so unähnlich, daß niemand hätte auf die Vermutung kommen können, diese beiden seien eine und dieselbe Person. Als Chilon denn bemerkte, daß Ursus ihn für einen völlig Fremden hielt, erholte er sich von seiner anfänglichen Bestürzung. Der Anblick des Täfelchens mit Vinicius' Schrift beruhigte ihn noch mehr. Es drohte ihm wenigstens nicht die Gefahr,[263] absichtlich in eine Falle gelockt zu werden. Außerdem dachte er sich, daß die Christen Vinicius offenbar deshalb nicht getötet hätten, weil sie es nicht gewagt hätten, sich an einer so hochstehenden Persönlichkeit zu vergreifen.

»Auch wird mich Vinicius im Notfalle beschützen,« sagte er zu sich selbst, »denn er wird mich nicht zu sich rufen lassen, um mich dem Tode zu weihen.«

Er faßte daher wieder etwas Mut und fragte: »Lieber Mann, hat mein Freund, der edle Vinicius, mir keine Sänfte geschickt? Meine Füße sind geschwollen, und ich kann nicht so weit gehen.«

»Nein,« erwiderte Ursus, »wir gehen zu Fuß.«

»Und wenn ich mich weigere?«

»Tu das lieber nicht, denn du mußt mitkommen.«

»Ich werde mit dir gehen, aber aus freiem Willen. Sonst könnte mich niemand zwingen. Denn ich bin ein freier Mann und ein Freund des Stadtpräfekten. Als Weiser besitze ich auch übernatürliche Kräfte – ich kann Menschen in Bäume und Tiere verwandeln. Aber ich werde mitgehen; gewiß, ich werde mitgehen. Ich will nur einen etwas wärmeren Mantel und eine Mütze holen, damit mich die Sklaven jenes Stadtteils nicht erkennen; denn sonst würden sie uns beständig aufhalten, um mir die Hände zu küssen.«

Mit diesen Worten zog er einen anderen Mantel an und setzte eine breite gallische Mütze auf aus Furcht, Ursus könne seine Gesichtszüge wiedererkennen, wenn sie ins helle Tageslicht hinausträten.

»Wohin führst du mich?« fragte er Ursus unterwegs.

»In das Viertel jenseits des Tibers.«

»Ich bin noch nicht lange in Rom und bin noch nie dort gewesen, aber es wohnen gewiß auch dort Leute, welche die Tugend lieben.«

Ursus, der ein ehrlicher Mann war und von Vinicius gehört hatte, daß der Grieche mit ihm im Ostrianum gewesen war, und ihn dann mit Kroton das Haus, in dem[264] Lygia wohnte, hatte betreten sehen, blieb einen Augenblick stehen und sagte: »Lüge nicht, alter Mann; du warst heute mit Vinicius im Ostrianum und an unserer Tür.«

»Ach so!« erwiderte Chilon; »dann liegt euer Haus jenseit des Tiber? Ich bin noch nicht lange in Rom und weiß daher nicht genau, wie die Stadtteile heißen. Jawohl, lieber Freund! Ich stand an eurem Tor und flehte Vinicius im Namen der Tugend an, nicht hineinzugehen. Ich war auch im Ostrianum. Und weißt du, warum? Seit einiger Zeit arbeite ich an Vinicius' Bekehrung und wünschte, daß er den vornehmsten der Apostel höre. Möge das Licht seine Seele durchdringen und auch die deine. Auch du bist wohl Christ und sehnst den Sieg der Wahrheit über den Irrtum herbei?«

»Jawohl!« entgegnete Ursus ehrfurchtsvoll.

Chilon kehrte sein voller Mut zurück.

»Vinicius ist ein mächtiger Herr,« sagte er, »und ein Freund des Caesars. Oft hört er jedoch noch auf die Einflüsterungen des bösen Geistes; aber wenn ihm nur ein Haar auf dem Haupte gekrümmt wird, so wird der Caesar ihn an allen Christen rächen.«

»Uns schützt eine höhere Macht.«

»Du hast recht; gewiß! Aber was gedenkt ihr mit Vinicius zu tun?« fragte Chilon mit erneuter Unruhe.

»Ich weiß es nicht. Christus gebietet uns Barmherzigkeit.«

»Du hast verständig geantwortet. Denke immer daran, sonst wirst du dereinst in der Hölle braten wie eine Wurst in der Pfanne.«

Ursus seufzte; und Chilon sagte sich, daß er mit diesem Manne, der ihm beim ersten Anblicke so furchtbar vorgekommen war, machen könne, was er wolle.

Da er nun wissen wollte, wie sich die Vorfälle bei der Entführung Lygias abgespielt hätten, fragte er mit der strengen Stimme eines Richters: »Was habt ihr mit Kroton gemacht? Sprich und verhehle mir nichts.«[265]

Ursus seufzte abermals.

»Vinicius wird es dir erzählen.«

»Das heißt, daß du ihn mit einem Messer durchbohrtest oder mit einem Knüttel erschlugst?«

»Ich war waffenlos.«

Der Grieche konnte vor Erstaunen über die übermenschliche Stärke des Barbaren nicht zu sich kommen.

»Möge Pluto ... Das heißt, ich wollte sagen: möge Christus dir verzeihen.«

Eine Zeitlang schritten sie schweigend weiter, dann sagte Chilon: »Ich will dich nicht verraten, aber nimm dich vor den Wachen in acht!«

»Ich fürchte Christus, nicht die Wachen.«

»Und mit Recht. Es gibt kein größeres Verbrechen als den Mord. Ich will für dich beten, aber ich weiß nicht, ob selbst mein Gebet etwas nutzt – es sei denn, daß du das Gelübde tust, nie mehr im Leben jemand auch nur mit dem Finger zu berühren.«

»Ich habe ihn nicht absichtlich getötet,« entgegnete Ursus.

Doch Chilon, der sich für jeden Fall sichern wollte, hörte nicht auf, Ursus gegenüber auch in weiterer Rede den Mord als etwas Abscheuenswertes hinzustellen und seinen Begleiter zum Ablegen des Gelübdes zu drängen. Er fragte auch nach Vinicius, aber der Lygier gab widerwillige Antworten und wiederholte, er würde von Vinicius selber alles erfahren, was er zu wissen nötig hätte. Während sie sich auf diese Weise unterhielten, legten sie die letzte Strecke Weges zurück, die die Wohnung des Griechen von dem Viertel jenseit des Tibers trennte, und befanden sich endlich vor dem Hause. Chilons Herz begann von neuem unruhig zu schlagen. In seiner Furcht glaubte er zu bemerken, als ob Ursus ihn mit einer Art gierigen Ausdrucks zu betrachten beginne. »Es ist ein kleiner Trost für mich,« sagte er zu sich selbst, »wenn er mich unabsichtlich totschlägt; auf jeden Fall wünschte ich, es träfe ihn eine Gliederlähmung und zugleich mit ihm alle Lygier;[266] gewähre mir dies, Zeus, wenn du es vermagst!« Bei diesen Worten hüllte er sich noch fester in seinen gallischen Mantel, indem er wieder holte, er wolle sich vor der Kälte schützen. Als sie sich endlich nach Durchschreitung des Hausflurs und des ersten Hofraums in dem Korridor befanden, der zum Garten des Hauses führte, blieb er plötzlich stehen und sagte: »Laß mich erst zu Atem kommen; sonst kann ich mit Vinicius nicht sprechen und ihm keinen nützlichen Rat erteilen.«

Bei diesen Worten blieb er stehen, denn obgleich er sich sagte, daß ihm keine Gefahr drohe, zitterten ihm doch bei dem Gedanken, jenen geheimnisvollen Leuten, die er im Ostrianum gesehen hatte, gegenübertreten zu müssen, die Beine unter seinem Körper.

Inzwischen begannen aus dem Hause die Töne eines Gesanges an sein Ohr zu schlagen.

»Was ist das?« fragte er.

»Du sagst, du seiest ein Christ, und weißt nicht, daß es bei uns Sitte ist, nach jeder Mahlzeit unseren Erlöser durch Gesang zu preisen?« entgegnete Ursus. »Mirjam muß mit ihrem Sohne schon zurückgekehrt sein, und möglicherweise ist auch der Apostel bei ihnen, denn er besucht die Witwe und Crispus jeden Tag.«

»Führe mich gleich zu Vinicius.«

»Vinicius befindet sich in demselben Zimmer, in dem sich auch alle übrigen aufhalten; denn es ist der einzige größere Raum; die anderen sind dunkle Kammern, die wir nur zum Schlafen benutzen. Wir wollen hineingehen, damit du dich ausruhen kannst.«

Sie traten ein. Im Zimmer war es dunkel, der Abend war trübe und kalt, und der Schimmer der wenigen Kerzen verbreitete nicht genügende Helle. Vinicius ahnte in dem verkappten Manne Chilon mehr, als daß er ihn erkannt hatte. Als dieser jedoch das Bett in der einen Ecke des Zimmers erblickte und Vinicius auf ihm liegen sah, ging er, ohne sich[267] um die anderen zu bekümmern, sofort auf ihn zu – wie in der Hoffnung, in seiner Nähe sicherer zu sein.

»O Herr, warum hast du nicht auf meinen Rat gehört?« rief er mit gerungenen Händen aus.

»Schweige,« erwiderte Vinicius, »und höre mich an!«

Dann begann er scharf in Chilons Augen zu blicken und mit leiser, nachdrücklicher Stimme zu sprechen, als wünsche er, daß Chilon jedes seiner Worte als Befehl auffasse und für immer seinem Gedächtnis einpräge.

»Kroton stürzte sich auf mich, um mich zu ermorden und zu berauben – verstehst du? Ich tötete ihn dann, und diese Leute hier verbanden mir die Wunden, die ich im Kampfe mit ihm erhalten hatte.«

Chilon verstand sofort, daß, wenn Vinicius so sprach, dies nur auf Grund eines Einverständnisses mit den Christen geschehe und daß er in diesem Falle wünsche, daß man ihm Glauben schenke. Er erkannte dies auch aus seinen Zügen und erhob daher, ohne Zweifel oder Erstaunen zu äußern, seine Augen zum Himmel und rief: »Es war ein treuloser Schuft, Herr! Ich warnte dich doch, ihm zu trauen. Aber alle meine Vorstellungen prallten an deinem Kopfe ab wie Erbsen an einer Wand. Im ganzen Hades gibt es keine Qual, die groß genug für ihn wäre. Denn wer nicht ehrlich sein kann, der muß ein Schurke sein, und wem fällt die Ehrlichkeit schwerer als einem Schurken? Aber daß er über seinen Wohltäter und einen so freigebigen Herrn herfallen konnte ... O ihr Götter!«

Hier erinnerte er sich aber, daß er unterwegs sich Ursus gegenüber als Christen ausgegeben hatte, und schwieg.

Vinicius entgegnete: »Ohne den Dolch, den ich bei mir hatte, wäre ich verloren gewesen.«

»Gesegnet sei der Augenblick, wo ich dir riet, ihn mitzunehmen.«

Vinicius warf einen forschenden Blick auf den Griechen und fragte: »Was hast du heute getan?«[268]

»Was ich begonnen habe? Habe ich dir nicht schon gesagt, Herr, daß ich ein Gelübde für deine Genesung getan habe?«

»Weiter nichts?«

»Ich hatte mir eben vorgenommen, dich zu besuchen, als dieser gute Mann hier zu mir kam und sagte, du wünschtest mich zu sprechen.«

»Hier ist eine Schreibtafel. Bringe sie nach meinem Hause, suche meinen Freigelassenen auf und übergib sie ihm. Es steht darin, daß ich nach Benevent verreist bin. Du sagst dem Demas – aber in deinem Namen – daß ich diese Reise heute früh auf einen dringenden Brief des Petronius hin angetreten habe.«

Dann wiederholte er mit Nachdruck: »Ich bin nach Benevent verreist, verstehst du?«

»Du bist verreist, Herr! Heut morgen nahm ich bei der Porta Capena von dir Abschied, und seit deiner Abreise hat mich eine solche Traurigkeit erfaßt, daß, wenn deine Freigebigkeit sie nicht mildert, ich mich zu Tode weine wie das unglückliche Weib des Zethos aus Schmerz über Itylos.«

Obgleich Vinicius krank und an die Geschmeidigkeit des Griechen gewöhnt war, konnte er doch ein Lächeln nicht unterdrücken. Er war außerdem froh, daß Chilon ihn so rasch verstanden hatte, und sagte daher: »Ich will hinzufügen, daß deine Tränen getrocknet sind. Bringe mir eine Kerze her!«

Chilon war jetzt vollkommen beruhigt; er stand auf, ging einige Schritte nach dem Herde zu und nahm von den an der Wand brennenden Kerzen eine herab.

Als ihm aber hierbei die Mütze vom Kopfe glitt und das Licht voll auf seine Züge fiel, sprang Glaukos von seinem Sitze auf, näherte sich ihm rasch und stand nun vor ihm.

»Kennst du mich nicht, Kephas?« fragte er.

In seinem Tone lag etwas so Furchtbares, daß alle Anwesenden ein Schauer überlief.[269]

Chilon erhob die Kerze, und ließ sie fast in demselben Augenblick zur Erde fallen; dann bückte er sich doppelt tief herab und begann zu stöhnen: »Ich bin es nicht ... ich bin es nicht ... Erbarmen!«

Glaukos wandte sich zu den Gläubigen und sagte: »Dies ist der Mann, der mich verraten und mich und meine Familie zugrunde gerichtet hat ...!«

Alle Christen und auch Vinicius kannten seine Geschichte. Letzterer wußte aber nicht, wer jener Glaukos war, weil er während des Anlegens des Verbandes zu wiederholten Malen vor Schmerz ohnmächtig geworden war und daher seinen Namen nicht gehört hatte. Aber für Ursus war der kurze Augenblick, wo er Glaukos' Worte hörte, wie das Aufleuchten eines Blitzes in der Dunkelheit. Er erkannte Chilon und war mit einem Sprunge neben ihm, ergriff ihn am Arme, bog diesen zurück und rief: »Er wollte mich verleiten, Glaukos zu ermorden!«

»Erbarmen,« stöhnte Chilon ... »ich gebe euch ... O Herr,« rief er und wendete sich dabei nach Vinicius um, »rette mich! Ich baue auf dich, stehe mir bei ... Dein Brief ... ich werde ihn überbringen. O Herr, Herr!«

Vinicius jedoch, der diesem Vorgang am gleichgültigsten von allen zusah, erstens, weil er die ganze Schurkerei des Griechen kannte, und zweitens, weil sein Herz nicht wußte, was Mitleid war, sagte: »Begrabt ihn im Garten; den Brief kann ein anderer besorgen.«

Chilon klangen diese Worte wie sein Todesurteil in den Ohren. Seine Gebeine begannen unter den furchtbaren Händen des Lygiers zu zittern, und seine Augen füllten sich vor Angst mit Tränen.

»Bei eurem Gotte! Erbarmen!« rief er, »ich bin Christ, und wenn ihr mir nicht glaubt, so tauft mich noch einmal, noch zweimal, noch zehnmal! Glaukos, es ist ein Irrtum! Laßt mich sprechen! Macht mich zum Sklaven! Tötet mich nicht! Erbarmen ...!«[270]

Seine vor Angst erstickte Stimme wurde immer schwächer. Da erhob sich der Apostel Petrus vom Tische, eine Zeitlang zitterte sein weißes Haupt, das er auf die Brust gesenkt hielt, und seine Augen waren geschlossen; aber nun öffnete er sie und sprach inmitten tiefen Schweigens: »Der Erlöser hat zu uns gesagt: Wenn dein Bruder gegen dich sündigt, so strafe ihn, und wenn er Reue zeigt, so vergib ihm. Und wenn er siebenmal des Tages gegen dich gesündigt und sich siebenmal an dich gewandt und dich um Verzeihung gebeten hat, so vergib ihm.«

Noch tieferes Schweigen folgte.

Glaukos stand lange da, das Gesicht in seine Hände vergraben, endlich nahm er sie weg und sagte: »Kephas, möge Gott dir das Unrecht vergeben, das du mir zugefügt hast, wie ich es dir im Namen Christi vergebe.«

Ursus ließ die Arme des Griechen los und fügte sofort hinzu: »Möge mir der Erlöser so gnädig sein, wie auch ich dir vergebe!«

Chilon fiel zu Boden, und sich auf seine Hände stützend drehte er den Kopf wie ein in der Schlinge gefangenes wildes Tier hin und her, sah sich nach allen Seiten um, als ob er beobachten wolle, von welcher Seite der tödliche Schlag fallen werde. Seinen Augen und Ohren traute er noch nicht und wagte nicht auf Vergebung zu hoffen.

Langsam kehrte ihm das Bewußtsein zurück; nur seine Lippen zitterten ihm noch vor Entsetzen. Dann sagte der Apostel: »Gehe in Frieden!«

Chilon stand auf, konnte aber noch kein Wort hervorbringen. Unwillkürlich näherte er sich Vinicius' Lager, als suche er bei ihm Schutz, denn er hatte noch keine Zeit gehabt, daran zu denken, daß dieser, obgleich er sich seiner Beihilfe bedient hatte und sein Mitschuldiger war, ihn verurteilt hatte, während gerade diejenigen, gegen welche er gesündigt hatte, ihm vergaben. Dieser Gedanke sollte ihm erst später kommen. Jetzt waren in seinen Zügen nur Erstaunen und[271] Zweifel zu lesen. Obgleich er sah, daß man ihm verziehen hatte, wünschte er doch sobald wie möglich von diesen unbegreiflichen Leuten fortzukommen, deren Güte ihn fast ebenso sehr erschreckte, wie es ihre Grausamkeit getan haben würde. Es war ihm, als müsse sich, wenn er länger bliebe, von neuem etwas Unerwartetes ereignen; daher näherte er sich Vinicius und sagte mit stockender Stimme: »Gib mir den Brief, Herr! gib mir den Brief!«

Er nahm die Tafel, die ihm Vinicius hinreichte, machte vor den Christen eine Verbeugung, eine zweite vor dem Kranken und eilte, sich dicht an die Wand drängend, zur Tür.

Als er in den dunklen Garten hinaustrat, sträubten sich ihm wiederum die Haare auf dem Kopfe vor Furcht, denn er war überzeugt, Ursus würde sich auf ihn stürzen und ihn in der Dunkelheit der Nacht töten. Er wäre mit dem Aufgebot aller Kräfte davongeeilt, aber die Füße versagten ihm den Dienst, im nächsten Augenblicke aber waren sie völlig wie angewurzelt, denn Ursus stand wirklich vor ihm.

Chilon fiel mit dem Gesicht auf die Erde und begann zu stöhnen: »Urban ... im Namen Christi ...«

Aber Urban sagte: »Habe keine Furcht, der Apostel befahl mir, dich bis ans Tor zu bringen, damit du dich in der Dunkelheit nicht verirrst, und wenn du zu schwach bist, dich nach Hause zu begleiten.«

Chilon erhob sein Gesicht.

»Was sagst du, was? ... Du willst mich nicht töten?«

»Nein, ich will dich nicht töten, und wenn ich dich zu rauh angegriffen und dir weh getan habe, so verzeihe mir!«

»Hilf mir aufstehen,« erwiderte der Grieche. »Du wirst mich nicht töten? wie? Begleite mich bis auf die Straße; dann werde ich allein weitergehen.«

Ursus hob ihn von der Erde auf, als wäre Chilon eine Feder, und stellte ihn auf die Füße; dann führte er ihn durch den dunklen Gang auf den zweiten Hof, von dem aus der Weg in den Hausflur und auf die Straße führte. Im[272] Korridor sagte sich Chilon immer wieder von neuem: »Ich bin verloren!« und erst als sie auf die Straße gelangt waren, erholte er sich und sagte: »Ich kann allein weitergehen.«

»Friede sei mit dir!«

»Auch mit dir! auch mit dir! ... Laß mich nur etwas zu Atem kommen!«

Nachdem sich Ursus wieder entfernt hatte, atmete er aus voller Brust auf. Mit den Händen betastete er sich Leib und Hüften, als wolle er sich überzeugen, ob er noch lebe, und ging dann eiligen Schrittes davon.

Aber nachdem er einige Schritte gegangen war, blieb er stehen und fragte sich: »Warum haben sie mich aber nicht getötet?«

Und trotzdem er schon mit Euricius über die christliche Religion gesprochen hatte, trotz seines Gespräches mit Urban am Flusse und trotz allem, was er im Ostrianum gehört hatte, konnte er auf diese Frage keine Antwort finden.

Quelle:
Sienkiewicz, Henryk: Quo vadis? Zwei Bände, Leipzig [o.J.], Band 1, S. 262-273.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Quo vadis
Quo vadis?: Eine Erzählung aus der Zeit Neros
Quo vadis?: Vollständige Ausgabe
Quo vadis?: Roman
Brockhaus Literaturcomics Quo vadis?: Weltliteratur im Comic-Format
Quo vadis?

Buchempfehlung

Anonym

Schi-King. Das kanonische Liederbuch der Chinesen

Schi-King. Das kanonische Liederbuch der Chinesen

Das kanonische Liederbuch der Chinesen entstand in seiner heutigen Textfassung in der Zeit zwischen dem 10. und dem 7. Jahrhundert v. Chr. Diese Ausgabe folgt der Übersetzung von Victor von Strauß.

298 Seiten, 15.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon