Der zweite Aufzug

[39] Vor einem Vorhang.

Der Vater im blauen Schlafrock. Er bearbeitet eine bunte Kindertrommel mit allzu großem Schläger. Noch bei geschlossener Bühne sind die ersten Schläge zu hören; während sich dann das Theater öffnet, werden sie rascher und rascher, jetzt folgen sie einander wirbelnd schnell.


DER VATER schreit in den Lärm. Hei! Hei! Ho! Holla! Fort! Fort ihr Bälge! Hei! Ha, wie sie rennen! Fort ihr Bälge! Fort, fort, fort, fort, fort! Tüchtig! tüchtig, du gute Trommel, tüchtig! Er hält inne. Ah – nun sind sie fort ... Er blickt empor. Haha, da seh ich dich wieder, Mars, da seh ich dich wieder ...! Du sollst auch einen Kuß haben, Trommel, weil du so brav bist, und die alten Fratzen verjagst. So ... Er küßt sie. Pfui, die alten Fratzen. – Da ein Feuer, da ein Sargdeckel und Qualm, hier eine Laus, da eine Kröte, da ein Herz, da ein Herz mit dem Messer, hier ein Eimer Tränen, da eine Kiste Mord[39] – dabei soll man nicht verrückt werden. Aber ich habe jetzt die Trommel – ätsch – ja, ich habe die Trommel. Der liebe Gott meint es doch noch gut mit seinem Baumeister. Liegt da oben auf dem Boden, als ich die alten Pläne suchen will, ganz verlassen die Trommel. Hahaja, der liebe Gott meint's noch gut mit seinem Baumeister, jaja. Kurze Trommelschläge. eins, zwei, drei, und ich sehe den Mars wieder. Wirft Kußhand nach oben. Guten Tag, lieber Mars, guten Tag, guter Mars, ich habe jetzt die Trommel! Jäh umschlagend. Was, du Kerl ... was! Du Qualmriese, stell dich nicht vor den Mars, du! Er beginnt wieder zu trommeln. Holla, hoho, fort, fort! willst du wohl! du Teufel ... fort! fort! Willst du wohl! fort! Wild trommelnd dringt er nach links vor, als treibe er jemand hinaus. Kurze Weile ist noch das Trommeln hinter der Szene zu hören, dann Stille.


Nun teilt sich der Vorhang, man sieht in ein Wohnzimmer. Rechts im Vordergrund Chaiselongue. Vor einem roten Vorhang inmitten der Hinterwand Tisch und drei Stühle. Links Mitte ein Sessel. Links hinten Tapetentür. Teppich rot, Tapeten rot, Polster der Möbel rot, Tischdecke rot. Mutter und Sohn [der Dichter] sitzen am Tisch einander gegenüber [Profil].


DIE MUTTER. ... es ist das erste Mal seit deiner Rückkehr, daß du mir eine freie Stunde gönnst. Und du bist schon über eine Woche zurück. Aber du bleibst den ganzen Tag auf deinem Zimmer oder gehst spazieren. Um mich kümmerst du dich gar nicht, ich sehe dich nur zu den Mahlzeiten, dazu bin ich dann gut genug. Wenn du wüßtest ... ich weine so um dich ...

DER SOHN. Liebe, laß uns diese freie Stunde über anderes reden ...

DIE MUTTER. Nein, nein, ich muß darüber reden können, das möchtest du natürlich nicht! Ach, ich bin ja tot für dich, läßt du mich denn noch irgend etwas von deinem Inneren wissen? Es war schon in den letzten Monaten schlimm genug, aber nun, seitdem du dies Mädchen[40] kennengelernt hast, bist du ganz verschlossen! Von deiner Reise hast du mir kein Wort erzählt, warum bist du nur so schnell wiedergekommen?

DER SOHN. Du weißt doch, daß ich die Reise unternahm, um meiner Kunst etwas Anregung zu suchen. Ich kehrte zurück, als ich genug gesammelt hatte ...

DIE MUTTER. Und du kehrtest so schnell zurück?! Aber ich glaube, du hast die Reise aus ganz anderen Gründen getan, ich glaube das ganz gewiß. Dabei hast du dann irgend etwas Schlimmes erlebt und kamst deshalb so schnell.

DER SOHN. Woher willst du dies alles wissen?

DIE MUTTER. Als du zurück warst, merkte ich, daß dich innerlich etwas sehr beschäftigte. Und es mußte etwas Trauriges sein, das merkte ich auch. Ich kenne dich doch! Ich weiß doch, was in dir vorgeht! Ach, ich weiß das doch! Vielleicht bist du hingefahren und wolltest ein Stück von dir anbringen, und es wurde abgelehnt.

DER SOHN. Aber laß doch diese unnützen Gedanken ...

DIE MUTTER. Ja, ich merke schon, es ist wahr. Ich dachte es mir, ach ...


Links hinter der Szene klappt eine Tür.


DIE MUTTER empor. Horch! das war doch sein Schlafzimmer! Was ist denn? er schläft doch? er kommt doch nicht wahr?


Kurze Stille.


DER SOHN. Es ist alles ruhig.

DIE MUTTER. Der Wärter wird doch bei ihm sein?

DER SOHN. Soll ich gehen und nachsehen?

DIE MUTTER. Ja, gehe nur, aber leise! Wecke ihn nur nicht, wenn er schläft. Vielleicht ist es besser, du gehst nicht?

DER SOHN. Ich will doch lieber gehen.

DIE MUTTER. Ja, aber ganz leise, ja, es ist doch wohl besser. Man kann ja nicht wissen ... Aber ganz leise, hörst du?


Der Sohn nickt Ja und geht durch den Vorhang ab. Eine Stille.


DIE MUTTER legt den Kopf schmerzlich auf die Seite, faltet die Hände, blickt starr gradaus und betet dann eintönig und gramvoll.[41]

Gott, du führst alles zum rechten Ende –

Auch all mein Leid!

O Gott, Gott, so nimm du meine Hände

Und führe mich ...


Ein wildes Schluchzen läßt ihr Haupt aufzucken. Hinter der Szene rückt ein Stuhl; die Mutter trocknet rasch ihre Tränen und schaut zum Vorhang.


DER SOHN kommt zurück. Ja, der Wärter ist bei ihm.

DIE MUTTER. Schläft Vater?

DER SOHN. Er liegt in seinem Schlafrock auf dem Bett und scheint zu schlafen.

DIE MUTTER. Hast du nicht mit dem Wärter gesprochen?

DER SOHN setzt sich wieder. Nein, ich ging gar nicht ins Zimmer, ich sah nur durch die offene Tür, keiner hat mich gehört.

DIE MUTTER. Ach, wenn ich daran denke, daß dies am Ende noch ein Jahr so geht, oder noch länger, – ich halte es nicht aus.

DER SOHN. Hast du noch einmal an die Tante geschrieben?

DIE MUTTER. Sie hat ja schon wieder geschrieben. Ich wollte dir noch den Brief zeigen. Sucht bei sich. Wo habe ich ihn nur ...? Ich habe ihn vielleicht oben gelassen ...

DER SOHN. Was schreibt sie denn?

DIE MUTTER. Sie schreibt ganz herzlos ... Nein, ich habe den Brief jetzt nicht hier.

DER SOHN. Sie schreibt wieder herzlos?

DIE MUTTER. Sie geht auf nichts ein. Sie beruft sich auf die Aussage der Ärzte und will eben durchaus, daß er seine letzten Tage nicht in der Anstalt verbringt, sondern zu Haus. Sie wirft mir Lieblosigkeit vor, weil ich es anders wollte. Aber wie ich ihn lieb habe, das weißt du ...

DER SOHN. Man kann bei ihr nichts ausrichten, Vorstellungen nützen nichts, und sie gibt eben so viel Geld, daß wir von ihr abhängig sind.

DIE MUTTER. Wenn es noch sein Herzenswunsch wäre! Wenn es ihm seine letzten Tage verschönte! Ja, dann würde ich alles auf mich nehmen! Aber der Arzt hat mir doch selbst gesagt, daß es diesen Kranken ganz gleichgültig[42] ist ... ach, es ist so schwer, ich kann nicht mehr schlafen vor Angst ...

DER SOHN. Sie liebt wohl den Bruder, aber sie fühlt nicht mit unser aller Qual und deiner großen Liebe ...

DIE MUTTER senkt das Haupt. Ja, ich liebe ihn ganz und bin immer um ihn ...

DER SOHN leiser. Sieh, ich liebe dich ganz und bin immer um dich ...


Die Mutter blickt schmerzlich auf.


DIE MUTTER. Ich weine um euch, die Nächte in die Kissen, mein eines Auge weint um den Vater, mein anderes um dich!


Es klappt eine Tür, gleich darauf eine zweite, man hört Schritte näher kommen.


DIE MUTTER fährt aus sich auf und schreit. Das ist er! er kommt! Sie flieht in eine Ecke des Zimmers. Riegle zu! riegle zu! Will zur Tapetentür hinaus. Gott, die Tür ist verriegelt!

DER SOHN. Bleib doch! bleib ruhig! bleib ja ruhig!

DIE MUTTER flieht durch das Zimmer in die hinterste Ecke. Ruf doch nur den Wärter!


Der rote Vorhang in der Hinterwand schlägt sich zurück, der Vater erscheint im Rahmen. Er ist wieder im blauen Schlafrock.


DER VATER im Rahmen des Eingangs.

Nun bin ich fort –

Tralala –

Und kann tanzen!


Er kommt rechts um den Tisch herum in das Zimmer, ohne die anderen zu bemerken, die rechts beiseite stehen; der Sohn faßt dabei beruhigend den Arm der Mutter.


DER VATER.

Siehst du wohl, mein Herr Patron,

Heidi, bin ich dir entflohn

Eins! zwei! drei!

Hahaha!

Tralala, ich habe mich verstellt[43]

Und den Herrn Patron geprellt,

Nun lach ich ihn aus

Ätsch

Aus Aus Aus

Und rücke ihm aus –

Bums.


Er wirbelt umher. Da erblickt er Sohn und Mutter.


DER VATER. Ah, da seid ihr ja! Guten Abend! Guten Abend!

DIE MUTTER. Guten Abend, Väterchen. Schläfst du noch nicht?

DER VATER. Hahaja – was sagt ihr zu mir – ich habe mich bloß schlafend gestellt! Aber der Kerl fiel darauf rein und dachte, ich schliefe wirklich. Fein bin ich ihn losgeworden – hahaha – ich bin ihn los. Ich tanze schon vor Freude, ihr müßt nicht denken, daß ich verrückt bin. Ich tanze doch bloß vor Freude!! Ja, wir wollen doch alle tanzen, wo ist denn unsere Hedi, die soll Klavier spielen.


Hopsa ... hopsa ... tralala ...


Was sagt ihr denn nur zu mir, ich kann doch noch dichten! fein vorhin, was? Wer verrückt ist, kann doch nicht mehr so dichten! Ja dichten, das war schon immer mein Fach. Weißt du noch, Mutti?


Du liebe Braut im Myrtenkranz

Kochst mir jetzt hule-hule-Gans ...


Hahaha ...


Kurze Stille.


Aber setzt euch doch hin! Was steht ihr denn? Komm doch, Mutti!


Sie setzen sich alle um den Tisch.


Na, Junge, du solltest eigentlich schon schlafen – aber du bist ja kein Kind mehr. Früher mußtest du immer Punkt halb acht zu Bett ... Punkt halb acht! Marsch – da half alles nichts! Ich weiß noch – haha – fünf Minuten vorher schieltest du schon immer nach der Uhr, so ganz heimlich zwinkertest du ... aber ich sah es doch. Und dein Buch wolltest du dann immer noch ins Bett nehmen, aber das gab's nicht. – Ja, du warst ein Racker! Und wenn wir Rätsel rieten, weißt du noch, Junge? Wir[44] beide hatten sie immer eins, zwei, drei, aber Mutti riet nie ... nie ...


Klopft ihr die Schulter.


Ja, ja, Mutti. So einfach ist die Sache nicht. Haha.

DER SOHN. Du hattest manchmal schon geraten, bevor ich das Rätsel zu Ende gelesen hatte.

DIE MUTTER. Ja, Väterchen, du rietest wirklich prachtvoll.

DER VATER. Aber wie ist das nun! Wir müssen doch besprechen, wie alles werden wird. Ich bin nun gesund, und der Wärter wird am Ersten entlassen. Ich glaube, Mutti, wir beide leisten uns zuerst eine schöne Reise nach dem Süden, denn woanders ist es jetzt überall noch zu kalt. Ja, ich habe mir das alles schon fein ausgedacht, na, du wirst Augen machen, Muttichen!

DIE MUTTER. Das wird ja ganz herrlich werden ...

DER VATER. Na, und ob es herrlich wird! Und dann geht's mit neuer Kraft an die Arbeit. Aber tüchtig! Haha, wenn ihr wüßtet ...


Arbeit macht das Leben süß

Macht es nie zur Last – –


Jaja.

DIE MUTTER. Du hast dir ja neulich schon die alten Mappen vom Boden geholt –.

DER VATER. Ja, das habe ich ... und die Trommel! Haha, wißt ihr denn schon von meiner alten, lieben Trommel ...? Na, das erzähl ich euch ein andermal. Du brauchst nicht gleich ein so ängstliches Gesicht zu machen, Muttichen, es stimmt schon mit der Trommel ... ja – also – wovon sprachen wir denn ...

DIE MUTTER. Von den alten Mappen, Väterchen, und von deiner Arbeit.

DER VATER. Ja, die Mappen, die brauche ich nämlich zu etwas – haha! ja, es gibt tüchtig zu tun, ho, wenn du wüßtest! Wir werden noch steinreich, wir lachen noch alle aus. Aber es wird nichts verraten.

DER SOHN. Du hast jetzt eine besondere Arbeit vor, nicht wahr?

DER VATER. Nein, es wird nichts verraten. Na, dir sage ichs vielleicht doch, Junge, du bist ja »Herr Kollege«.[45] Wie gehts denn jetzt? Tüchtig fleißig, was? Wie lange wird's noch dauern und du machst deinen Bauführer ... Mutti, weißt du noch, als ich ... Die Mutter nickt. hahaja, das weißt du noch. Du, Junge, sowie ich gesund bin, gehen wir doch zusammen auf die Kneipe, unbedingt, ich will wieder einmal einen richtigen Kommers mitmachen. Ad exercitium salamandri ... eins, zwei, drei ... ja, ja, ich kann's immer noch ... das verlernt man nicht.


Die Mutter hat sich inzwischen leise erhoben und will nun durch den Vorhang ab.


DER VATER. Wohin willst du denn, Mutti? Ach nein, bleib doch! Heute kannst du schon etwas länger aufbleiben, mir zuliebe, nicht wahr? Nicht wahr, mein kleines Frauchen?

DIE MUTTER hat sich wieder gesetzt. Gewiß, Väterchen.

DER VATER. Du kannst dich ja morgen ordentlich ausschlafen, morgen ist Sonntag, da kamen wir doch nie vor neun aus dem Bett! Gott, wie lange ist das her, daß wir beide so zusammen schliefen! Aber laß nur erst den Wärter fort sein, der Erste ist ja bald, laß nur erst, Muttichen, dann machen wir noch einmal Hochzeit. Mein liebes, schönes Frauchen!


Eine Stille.

Die Mutter betrachtet den Vater ängstlicher.


DER VATER langsam. Sage mal – –


Stille.


DIE MUTTER zag. Ja ...?

DER VATER. Sage mal, was wollte ich denn noch mit dir reden ... was war es denn


Stille.


... Na, warte nur, Muttichen, wenn ich erst wieder verdiene! Da komme ich nicht erst mit 6 000 Mark, sondern gleich mit 600 000. Ja, du wirst staunen, aber warten mußt du noch ein bißchen. Es ist ja so entsetzlich, daß ich in diesen Jahren gar nichts tun konnte. Ich werde noch jetzt verrückt, wenn ich daran denke. Hier, hier, Streift den rechten Arm bloß. da seht mal – habe ich mich ins Fleisch gebissen vor Wut, aber es nutzte nichts,[46] ich konnte nicht arbeiten. Ich konnte beißen und beißen wie ich wollte ...

DER SOHN. Aber nun hast du ja wieder eine Arbeit vor, Vater.

DER VATER. Ja, nun ist freilich alles gut. Am Ende hat das Beißen doch etwas genutzt. Haha, es kam auch genug Blut, einmal eine ganze Schüssel voll! Haha, jetzt können wir aber lachen! Du, Mutti, wir könnten eigentlich zur Feier des Tages eine Flasche Wein spendieren. Und – weißt du was – dann bringe auch gleich die Hedi mit, sie soll doch mit uns anstoßen ... Er steht auf, reibt sich die Hände und springt vergnügt. Hopsa, das wird einmal fein ...


Die Mutter redet hinten am Vorhang leise mit dem Sohn, der Vater geht inzwischen summend und ganz mit sich beschäftigt im Zimmer auf und ab. Dann verläßt die Mutter das Zimmer. Der Sohn kommt nach vorn, setzt sich auf das Fußende der Chaiselongue und blickt zum Vater. Eine Stille.


DER SOHN. Du wolltest mir doch von deiner Arbeit erzählen, Vater ...

DER VATER bleibt stehen. Von der Arbeit; richtig!– – Ja, so einfach ist das nun gar nicht zu erzählen ...

DER SOHN. Wie lange bist du eigentlich schon dabei?

DER VATER. Hm, der Gedanke dazu oder der Traum kam mir schon vor vier Monaten. Und dann machte ich den Plan fertig, aber da war ich noch nicht wieder zu Hause. – Aber den Entwurf habe ich erst gestern begonnen.

DER SOHN. Du mußt mir alles zeigen. Was sagtest du da vom Traum ...?

DER VATER. Ja – wie gesagt – es ist nicht so leicht zu erklären. Hinter der ganzen Arbeit steckt etwas Großes, Wunderbares, weißt du, eine ganz rätselhafte Macht – jaja, das klingt verrückt, ist es aber nicht. Hör nur zu. – Wie fange ich nur an ...

DER SOHN. Hast du einen Traum gehabt?

DER VATER. Ja! ja! Denke dir! eines Nachts sah ich im Traum den Mars, ich sah ihn wie gewöhnlich am Himmel[47] stehen, aber plötzlich wurde er immer heller und größer, er wuchs und wuchs, schließlich wurde er so groß, wie das ganze Zimmer hier und stand dicht vor mir, greifbar, denke dir, ich erkannte deutlich die Kanäle. Die Marskanäle, weißt du?

DER SOHN. Ja.

DER VATER. Ich sah sie deutlich flimmern und rieseln – schnurgrade gingen sie durch den ganzen Mars, schnurgrade.

DER SOHN. Hattest du sie schon einmal durch ein Fernrohr gesehen?

DER VATER. Ja, aber doch viel, viel kleiner, nur wie ein Fünfmarkstück so groß, und jetzt sah ich sie so groß wie diese Wand.

DER SOHN. Wie wunderbar.

DER VATER. Ja, wirklich wunderbar! Denn in der nächsten Nacht träumte ich dasselbe, aber dieses Mal konnte ich sehen, wie an einem Marskanal gebaut wurde!

DER SOHN. Ah ...

DER VATER in Gedanken wachsend. Ich sah die Böschungen greifbar vor mir, ich sah die Gerüste und Gruben – alles sah ich! – Und ganz seltsame Maschinen, mit seltsamen Räderwerken und ganz fremden Formen – und all das sauste und surrte vor mir, daß mir wirblig wurde! Ich sah auch Menschen, die uns sehr ähnlich waren, aber alle hatten lange, lose Gewänder und spitze Hüte, genau so, wie ich es einmal in einem Roman gelesen hatte.

DER SOHN. Hattest du alles das gelesen?

DER VATER. Was denn ... doch nur von den Menschen hatte ich gelesen, von allem anderen nicht; sonst wäre wahrhaftig nichts Wunderbares dabei gewesen. Hahaha! Also ... wo war ich denn ...

DER SOHN. Bei den Menschen und Maschinen.

DER VATER. Richtig. Wie gesagt: von den Maschinen und dem ganzen Bau hatte ich natürlich nie etwas gelesen ja, das wäre kein Kunststück!

DER SOHN. Wie war es nun in der dritten Nacht?

DER VATER. In der dritten Nacht? Ja, da sah ich von der[48] Baustelle noch ein Stück mehr, auch alles noch deutlicher! Da sah ich auch riesige Dinger auf dem Wasser – es sollten wohl Schiffe sein – ich begriff gar nicht, wie sie überhaupt schwimmen konnten! Nichts begriff ich überhaupt, die Maschinen nicht, nicht eine einzige Konstruktion, rein gar nichts, wie ein Ochse stand ich davor! Aber schließlich begann ich doch dies und das zu wittern – ah – ich zersann mir die Stirn vor all den Dingen, es konnte einem fast den Verstand nehmen, aber ich bohrte mich hinein! Das war eine Zeit, Junge! Da lief ich des Tags wie ein Wilder und wartete auf den Abend. Ich glaube, ich hatte immerfort Fieber vor Warten. Ich brannte. Abends, wenn ich den Mars am Himmel sah, ganz rot, sprach ich mit ihm. In der Nacht war ich dann oben. Ja, ich war oben, wochenlang jede Nacht, ich träumte ja gar nicht, was ich sah, war Wirklichkeit – –

DER SOHN. Ich glaube dir, Vater. Und wie ging es weiter?


Geräusche hinter dem Vorhang. Die Mutter und die Schwester kommen. Die Schwester trägt ein Tablett, darauf eine Flasche Wein und vier Gläser. Die Mutter trägt eine Schüssel Gebäck. Sie setzen es auf den Tisch. Der Schwester blondes Haar ist lang offen; sie hat einen Morgenrock übergeworfen. Der Vater geht, nachdem er einen schnellen Blick auf die Eintretenden geworfen hat, rastlos und ganz im Geist vorne auf und ab.


DIE MUTTER ängstlich. Da sind wir, Väterchen ...


Der Vater hört nicht.


DIE SCHWESTER. Ich war schon zu Bett gegangen, Väterchen, und da hat es wohl etwas lange gedauert ...

DER SOHN erhebt sich. Komm, Vater, nun wollen wir anstoßen. Führt den Vater zum Tisch.

DER VATER wie oben. So ... so ... so ... Er steht jetzt am Tisch, da trifft sein Blick die Schüssel, er erwacht und sagt lebendig. Ah! Makronen! Hurra, Mutti! das ist aber eine Überraschung! Makronen! Mein Leibgericht.[49]

DIE MUTTER strahlend. Sie sind noch ganz frisch, Väterchen, du solltest sie eigentlich erst morgen bekommen.

DER VATER. Na, da muß ich aber mal kosten – Ißt eine Makrone. Hm, köstlich! Ißt noch eine. Wirklich unbezahlbar machst du die, Muttichen, – Ißt weiter. Nein, wie das schmeckt!

DER SOHN. Wir wollen uns doch alle hinsetzen!

DER VATER. Ja, richtig, alle um den Tisch! Aber es fehlt ja ein Stuhl ...

DER SOHN schiebt den Sessel schräg vor den Tisch. Hier, nimm du den Sessel, Vater.

DER VATER tut es. Ja, ich nehme den Sessel. Ich kranker Mann! – Aber nun wird angestoßen! ... Wo hast du den Korkenzieher, Muttichen?

DIE MUTTER reicht ihm. Hier.

DER VATER. So ... tralala ... das soll uns aber schmecken! Er müht sich, den Korken auszuziehen. Hoppla ... Na, ist das eine schwere Geschichte ... Müht sich wieder.

DER SOHN. Zeig mal, Vater!


Sie sitzen jetzt alle um den Tisch.


DER VATER. Versuch du mal, ein verzwicktes Ding – das.

DER SOHN schraubt tiefer und zieht dann den Korken.

DER VATER. Ah, der Junge wird geschickt ... seht doch nur!

DIE MUTTER. Ja, früher war er immer unser Ungeschick.

DER VATER. Na, und ob! ... Nun aber mal eingießen. Gießt ein und füllt das Glas über den Rand. Hoppla ... das war zu gut gemeint. Na, der Teppich will auch was haben.

DIE SCHWESTER. Laß mich eingießen, Väterchen.


Sie nimmt ihm die Flasche aus der Hand und gießt die anderen Gläser voll.


DER VATER. Was sagst du zu den Kindern, Muttichen –. Tüchtig, nicht wahr?

DIE MUTTER. Ja, sehr, Väterchen!

DER VATER. Willst du nicht eine Rede halten, Junge – Was? Das tatest du doch früher immer mit Vorliebe. Kein Geburtstag konnte vergehen, du mußtest deine Rede halten.[50]

DER SOHN. Ja, ich weiß noch. Ich hielt immer große Reden; aber heute, denke ich, stoßen wir nur an.

DER VATER. Nein, nein, das gibt es nicht, du mußt reden! Wirklich, du mußt reden!

DER SOHN erhebt sich und klopft an sein Glas.

DER VATER. Ah ... st ... st ... stille! Hört den Herrn Redner!

DER SOHN. Kommilitonen!

DER VATER. Famos! Das wird ein Kommers.

DER SOHN. Wir begrüßen heute in unserer Mitte unseren lieben alten Herrn wieder frisch und munter. Lange war er unserem Kneiptisch fern, und seine Abwesenheit ließ keine rechte Fröhlichkeit mehr aufkommen. Nun freuen wir uns mit ihm seiner Gesundheit und hoffen für seine Zukunft und seine große Arbeit das Beste.

DER VATER wischt sich die Tränen. Hört ihn nur! Weiter, weiter, Junge!

DER SOHN. Kommilitonen! Ich fordere euch auf, zur Ehre unseres lieben alten Herrn, dem wir alle so viel zu verdanken haben, der uns stets ein Vorbild war in Treue, Ernst und Pflichterfüllung und es immer sein wird, zur Ehre unseres alten Herrn einen donnernden Salamander zu reiben: Ad exercitium salamandris: Estisne parati?

DER VATER laut und strahlend. Sumus!

DER SOHN. Eins, zwei, drei – Der Vater reibt sein Glas auf dem Tisch, er macht eine aufmunternde Gebärde zu Mutter und Schwester, diese ahmen ihm schüchtern nach. eins, zwei – bibite! Sie trinken. drei ... Salamander ex-est.

DER VATER Tränen in den Augen, umarmt ihn. Nein, das hast du gut gemacht. Mein Junge! Ganz famos war das von dir. – – Und nun müssen wir auch nochmal alle zusammen anstoßen. Auf die Zukunft! Sie heben alle die Gläser, wie der Vater mit dem Sohn anstoßen will, sagt er. Auf den Mars!

DER SOHN. Ja, auf den Mars!

DER VATER zu Mutter und Schwester. Das ist nämlich ein Geheimnis von uns.


Mutter und Schwester haben scheu und mit lächelnder[51] Überwindung in die Lustigkeit eingestimmt. Eine Stille.


DER VATER wechselt die Augen. Aber ich will dir weiter erzählen – –!

DER SOHN zu Mutter und Schwester. Nun geht ihr wohl schlafen, nicht wahr? Vater und ich können ja noch ein bißchen aufbleiben ...

DER VATER. Ja, wirklich, ihr müßt jetzt zu Bett, – gute Nacht, Muttichen. Sieh nur, wie artig ich bin, ich gehe nicht mit dir. Aber warte nur, über acht Tage ... das wird aber schön ...

DIE MUTTER. Ja! Gute Nacht, Väterchen.

DER VATER rasch auf sie zu und küßt sie. Gute Nacht, gute Nacht, mein Frauchen! Küßt sie heftiger. Gute Nacht!

DER SOHN faßt leise seinen Arm. Recht artig, nicht wahr, Vater?

DER VATER läßt die Mutter los. Ja, heute noch, aber über acht Tage ... Die Schwester reicht ihm die Hand und wünscht ihm gute Nacht. Gute Nacht, Hedi. Wirft der Mutter, die abgeht, eine Kußhand zu. Gute Nacht, gute Nacht!


Mutter und Schwester verlassen das Zimmer.


DER VATER sieht ihnen nach. Wird wahrhaftig immer schöner, unser Muttichen! Er beginnt auf- und abzugehen. Na, warte nur, warte nur, mein liebes Frauchen! Diese acht Tage gehen auch noch vorüber. – – Eins, zwei, drei, eins, zwei, drei ... bibite ... ach ja.


Er setzt sich auf eine Ecke am Fußende des Sofas.


DER SOHN. Erzähle doch weiter von deiner Arbeit, Vater!

DER VATER. Ja, das will ich auch, Junge. Wo ich einmal angefangen habe, muß ich es dir auch zu Ende erzählen. Das gehört sich doch, was?

DER SOHN vor ihm. Zuletzt erzähltest du von den Maschinen, und daß du allmählich anfingst, ihre Konstruktion zu begreifen und überhaupt ...

DER VATER verändert; unter dem Zwang der Vision. Ja, die Maschinen! Gott, was für ein Fortschritt gegen unsere! Sieh mal ... Er neigt sich nieder und zeichnet[52] mit dem Finger auf dem Fußboden. Sein Hirn brennt in den Dingen und zerbricht oft die Worte. Der Sohn steht vor ihm... Die große Bohrmaschine zum Beispiel, so und so hing sie auf Spulen, so lief die Umrahmung, so, hier schräg die beiden Träger, hier die Mittelbalken, da über Kreuz ... Da teilte sich der obere Balken, Drahtseile verbanden ihn mit dem unteren Teil, viere verschwanden hier hinter dem Mittelbau. Diesen Mittelbau sah ich später im Durchschnitt, in ihm war der Antrieb, eine schwierige Konstruktion, sie blieb mir lange unklar. Hier unter dem Antrieb waren riesige Haken, darunter war der Bohrer ... sie hatten eine Art der Induktion, ach, ehe ich die herausbekam! Aber alles, alles habe ich endlich gefunden! – Und dann eine Baggermaschine, Gott, darüber hätte man heulen mögen ... was sind wir dagegen! – Hier dieser Bohrer hatte nun ... nein, es ist zu schwer zu beschreiben, ich muß dir die Zeichnungen zeigen, da wirst du es klar haben. Durch die Zähne; er springt auf. Ja, Junge, war es nicht ein ungeheures Glück, dies alles zu sehen!? Und wie ich es sah! Der ganze Mars brannte sich förmlich in mein Gehirn ein. Und mein Gehirn war wie eine riesige Spinne, die den Mars umklammerte, und dann tauchte sie ihren Rüssel in ihn, einen spitzen Stachel, und sog ihm seine Geheimnisse aus ... alle. Hat sich wieder gesetzt.


Pause.


DER SOHN.

Und nun willst du ...

DER VATER ganz im Rausch.

und nun, und nun – nun will ich

Die Erde beglücken! hörst du! Schätze halte ich –

Marswunder! Sternenschätze! Weltenglück!

Ich habe die Allmacht! kann die große Erde

Zu Staub zerstoßen! Stampfe ich den Boden,

So kracht er auf. Die harten Felsen reißen

Mitten durch! Mitten! Ah – sie reißen schon!

Die Berge kehren sich um und wandern weit.

Wohin ich will. Abgründe füllen sich

Mit Felsen oder Feuer oder Blumen.

Ich will es ja! Oder mit Wiese! Grün![53]

Ich schlage Krater! schlage Tiefen,

Furchtbare Tiefen – hier! mit dieser Faust!

Und rufe die Meere von den Polen her

Und alle Meere! alle Meere her,

Sie anzufüllen ... Fruchtbar! Fruchtbar! Fruchtbar!


Er sinkt zurück. Der Sohn bettet den Vater auf das Sofa. Er legt ihm die Hand auf die Stirn. Der Vater sucht sich wieder aufzurichten; er zuckt unter den Kräften. Stille.


DER VATER.

Den Plan! ... den Plan! ... den Plan!

DER SOHN. Sei jetzt ruhig, Vater, und rede nicht mehr davon.

DER VATER. Den Plan ... den Plan mußt du sehen! Wehrt der Hand des Sohnes. Laß nur – So. Halb aufgerichtet. Es geht schon. – Du mußt den Plan doch sehen.


Er greift in die Tasche seines Schlafrockes und zieht den zusammengelegten und umfangreichen Plan hervor. Rasch breitet er ihn auseinander und auf die Erde. Der Plan mißt etwa dreiviertel der Sofalänge in Höhe und Breite.


DER VATER.

Da hast du ihn! mein Werk! mein Werk! es ist es!

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ja, groß! stolz! herrlich! selig! wundervoll!

Der Mars lag mir im Hirn, als ich es schuf!

Rollte und glühte rot und wirbelte Gedanken

Und hob die Arme auf, elektrisch auf

Und führte sie! Da gruben sie die Linien,

Der Kosmos grub und alle Sterne gruben!

Allmacht schuf dies durch mich! So stolz ... so

DER SOHN abwehrend.

Vater ...

DER VATER.

Du sollst mich preisen lassen! Preisen! Fort!

Sieh her und staune: Hier den Himalaja

Durchschneidet diese Linie; das bedeutet:

Weg mit Himalaja! Ich rücke ihn

Beiseite! Hier die gelbe Wanze

– Sahara heißt sie – wird bald vor mir rennen,

Gott weiß, wohin! Der Käfer soll auch rennen,[54]

Himalaja!

Beide ersäufe ich im Meer mit diesen

Zwei Armen, wund vor Kraft und Strahl des Kosmos!

Sie brennen! Hörst du! wund! ... Hier diese Linien

Alle die schwarzen werden bald von breiten

Kanälen silbrig sein! Sie werden das Glück

Der Erde, durch meine Macht! Und fruchtbar! fruchtbar!

Viel weiße Segel segeln hin und her,

Das sind die Tauben, die ich liebe. Weiter,

Viel mehr! ...

Und Häfen! Häfen! Häfen! werden sich

Meilenlang drängen, schwarz und wirr und rauchig,

Ich sehe die Schiffe alle schwarz und rauchig

Mit Bäuchen, geschwollen von all dem Segen! Segen!

Ja, Segen! Brot und Mark schwankt in den Lüften,

Die Kräne winden es. Oh Segen! Breite

Bruderbrücken binden Ufer und Ufer!

Ja, brüderlich! Es klirrt und webt in den Lüften,

Und Samen stäubt und wirbelt in den Lüften

In großen Wolken. Schwellenden Wolken. Süßen

Wolken! Alle Wunder! Alle Wunder!


Er lehnt sich zurück.


Ah! ich bin müde von der Herrlichkeit!

Die Herrlichkeit! Schaffen macht müde! Ich

Will mir ein Haus baun an der Straße und

Still liegen und mein Glück sehn. Aus den Fenstern.

Liegen und sehn. Ich will nichts weiter ... Und sterben

Will ich! Mich friert. Decke mich doch zu ...

Mich friert so! Die Decke ...

DER SOHN nimmt eine – rote – Decke vom Fußende des Sofas und breitet sie über den Vater.

DER VATER.

So ist's schön ...

Hörst du ... ich will nun sterben ... alle Tage

Sehne ich mich ... das Werk ist ja getan!

Schön war das Schaffen! Schaff es weiter, du

Mein Sohn!

Du tust es! Danke dir! So, deine Hand!

Liebe mich recht und hilf mir sterben. Weißt du[55]

... Gib Gift! Gib deinem armen Vater Gift!

Ich dank dir's so! Ich weine schon, du siehst doch!

Ja, du gibst Gift und hilfst mir aus dem Leben,

Das mich so quält ... Ich will zu Bett...


Der Sohn hilft dem Vater sich aufrichten.


DER VATER.

... So ... so

Du weißt ja nicht, wie's quält! Glaub deinem Vater!

Es quält und quält und keiner weiß, wie sehr!

Man ist allein ... und schwarz ist es vor Qual

Und man ist stumm. Und wird verrückt! du wirst es auch!

Gib Gift! Gib Gift! Tu's deinem Vater! Auch

Die andern werden froh sein, wenn ich fort bin; –

Ihr braucht den Wärter nicht mehr! ... Ja, zu Bett!


Der Sohn führt den Vater fort.


. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .


Die Bühne bleibt kurze Zeit lang leer. Sie verdunkelt sich.

Der Sohn kommt durch die Tapetentür zurück, die er draußen entriegelte. Er zieht dann den Vorhang weg, und nun steht die Sichel des zunehmenden Mondes im Rahmen. Über ihr flimmert ein Stern.


DER JÜNGLING setzt sich auf das Fußende der Chaiselongue. Stellung: Zurückgebeugt, auf die geraden Arme gestützt.

Nacht – tief – Nachtblau – Wie wundervoll. – Erlösung. –

Silberner Mond.

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Nun stürzt des Tages steinerne Beklemmung;

Kühl kann ich mich in deine Nähe betten

Und himmlische Zwiesprache halten, du Silberwunder!


Der linke Teil der Hinterwand und die daran stoßende Hälfte der linken Seitenwand weichen zurück und man blickt in den blauen Nachthimmel, Sterne. Rot der Mars. Vor dem Himmel auf der Schwelle des Zimmers werden diese Gestalten sichtbar: Zwei Frauen, tief verhüllt[56] kniend. Hinter ihnen aufrecht, gleichfalls verhüllt, die Gestalt eines Mannes. Langwallende, lose, dunkle Gewande. – Der Jüngling hat sich aufgerichtet, er blickt die drei an.


DIE ERSCHEINUNG DES MANNES spricht.

In des Tages

Großer Qual und Not,

Bei der lichten

Schöpferspiele Tod,

Bei der dürren

Grauen Rinde Brot –

Vergaßest du des Werkes nicht?

Nicht dieses ehernen Befehls,

Über dir in Ketten an den Himmel geschmiedet?

Über dir mit Ketten an dich geschmiedet? –

Das zu neuen Zeichen

Dich erwählt,

Alle deine

Pulse zählt,

Dich zu jeden

Martern stählt,

Über dir als

Sternglut schwält –

Vergaßest du es nicht?


Kurze Stille.


DIE ERSCHEINUNG DER ERSTEN FRAU spricht.

In deine strenge Bahn

Warf deiner Mutter Stern

Manch ausgebrannten Fels

Von Schmerzen abgesprengt,

Manch unfruchtbar Gestein,

Manch aschentotes Stück.

Nahm solche störende

Verwirrung, solch gemein

Geschenke dir niemals

Den liebenden Aufblick zum mütterlichen Leuchten,

Zu mütterlicher Milde im nachttiefen Blau?!


Kurze Stille.


DIE ERSCHEINUNG DES MANNES spricht.[57]

Rot und glühend,

Verstört und schöpferisch

Deines Vater Meteor

In ruheloser Irre

Marsumwärts –

Begriffest du ihn recht

In diesen flammenden Ausbrüchen

All seiner Krater

Als deinen Zeuger?


Kurze Stille.


DIE ERSCHEINUNG DER ZWEITEN FRAU spricht.

Dir führte der große allmächtige Wille,

Als der Verzweiflung ganz du genaht,

Des Mädchens Liebe auf deinen Pfad.

Von welchen Sorgen

Auch betürmt,

Von welchem Gramen

Auch bestürmt,

Von welchen Mächten

Auch zerrungen,

Von welchen Liedern

Wund gesungen –

Gleich liebend öffnet sie stets ihre Arme,

Gleich milde ist dir ihr Auge stets nah,

Daß der Erstarrte zum Lächeln erwarme,

Öffnet sie weit ihre Arme: Oh du,

Sei dir ihres Kusses Hauchen,

Sei dir ihre fromme Umarmung

Heilig Symbol der mystischen Mächte:

Ihres heftigen Umfangens

Mystisch mütterlich Symbol.

DER JÜNGLING.

Ich höre euch ganz. Ihr seid die Sterne und Stimmen,

Mit denen ich immer lebe. Eure Zeichen

Habt ihr in mich gemeißelt, diese Zeichen

Reden nun immer zu mir. Wenn ihr sprecht,

Wird alles Ewigkeit und schöner Trost ...

CHOR DER DREI.

Die donnernden Gestirne[58]

Setzten uns über dich

Als deine leiblichen Sterne,

Schaue auf uns, Leib und Mensch!


Andere Sterne

Viel noch werden dir aufsteigen,

Liebe Sterne

Viel dir noch blutend untersinken;

Acht' unserer Stimmen, Leib und Mensch!


Höre, höre

Uns, deine leibliche Ewigkeit –

Fühle, fühle

Uns, deiner zukünftigen Ewigkeiten

Mütter!


Sie verschwinden, indem die Wände sich wieder schließen. Die Stimme des Mannes hört man noch verhallend.


Der Vater bat dich. Habe Acht. Tue gut.


Die Bühne erhellt sich etwas.


DER JÜNGLING steht auf.

Der Vater bat von mir den Tod. Ich fühle

Mit seine Bitte. Doch diese Frage drängt sich zwischen:

Schuf er ein fruchtbar Werk? Er darf nicht sterben,

Ist er noch schöpferisch geschickt. In seinem Wahnsinn

Zeugte vielleicht sein Hirn tiefsinnige Wunder? –

Dies soll ein Sachverständiger entscheiden.


Man hört unter dem Zimmer das Geräusch einer Türe.

Der Jüngling lauscht auf, geht dann zur Tapetentür und öffnet sie. Man hört einen raschen Schritt eine Treppe heraufkommen. Die Tür bleibt offen. Der Jüngling wendet sich und durchmißt noch einmal das Zimmer. Dann kommt das Mädchen herein. Sie schließt die Tür hinter sich, bei ihm, legt sie die Hände auf des Jünglings Schultern. Der Jüngling küßt Stirn und beide Augen.


DAS MÄDCHEN nach einer Stille. Ich komme so spät, Liebling. Es war im Geschäft soviel zu tun. Wir sind erst um neun Uhr fertig gewesen.

DER JÜNGLING. Ist diese Stelle anstrengender als deine früheren?[59]

DAS MÄDCHEN. Ja, das ist sie, aber das tut ja auch nichts. Ich bin so froh, daß ich sie bekommen habe und nun in derselben Stadt mit dir wohnen kann. Und man muß sich auch erst einleben, weißt du. Ich bin doch erst vier Tage hier.

DER JÜNGLING indem er sie zur Chaiselongue führt. Ja, es war ein Glück, daß mein Freund dir die Stelle so rasch verschaffen konnte.

DAS MÄDCHEN. Wie schnell dies alles kam. Indem sie sich setzen will. Ach, weißt du, wir wollen uns doch wieder hinsetzen wie gestern abend. Ja? – das war so schön.

DER JÜNGLING. So –


Er rückt den Sessel vor den rechten Pfosten der Türöffnung des Hintergrundes, dann setzt er sich in den Sessel, und das Mädchen lagert sich auf die Erde und legt den Kopf an seine Knie. Sie reicht ihm die Hand hinauf. Beide sitzen so vor dem Nachthimmel, vor Mond und Stern.


DAS MÄDCHEN nach einer kurzen Stille. Erzähle du heut zuerst, mein Liebling, denn ich habe dir viel zu sagen.

DER JÜNGLING. Kind, ist es Schlimmes?

DAS MÄDCHEN. Bitte, erzähl du erst!

DER JÜNGLING. Ich weiß nicht viel. Ich schrieb am Vormittag und über Mittag ging ich spazieren ... Kind, du glaubst gar nicht, wie sehr du mich verändert hast! Weißt du, an dem Abend in Berlin, als mir der letzte Weg versperrt wurde, wußte ich nicht mehr, wie ich vorwärts sollte, und vorwärts zwang es doch, vorwärts zwang die Sehnsucht. Nein, ich wußte nicht mehr, wie ich mich weiterleben sollte! Aber da tratest du vor mich hin und hemmtest die Sehnsucht, und alle Mächte innen drängten mich nicht mehr vorwärts, sondern aufwärts, Kind! Sie trieben mich in Kreise, die ich noch nicht kannte, und sie treiben mich noch in diesen Kreisen und treiben mich höher. Ich weiß nicht, wie es weiter wird ...


Eine Stille.


DER JÜNGLING neigt sich und küßt das Mädchen. Und nun erzähle du! Hast du endlich Nachricht über dein Kindchen?[60]

DAS MÄDCHEN. Ja, heute früh bekam ich den Brief. Es geht ihm gut, Sie lächelt schmerzlich. und es wird alle Tage runder, schreiben sie.

DER JÜNGLING küßt dem Mädchen die Tränen von den Wimpern. Es wird schon gut aufgehoben sein im Heim.

DAS MÄDCHEN. Ja, sehr gut. Kurze Stille. Und nun lies diesen Brief. Reicht ihm einen Brief.

DER JÜNGLING indem er ihn entfaltet. Von wem ist er?

DAS MÄDCHEN. Von dem Onkel, dem Baumeister.

DER JÜNGLING überfliegt die Zeilen. Was ist das ... was? ... Du sollst dein Kind hergeben?

DAS MÄDCHEN nickt schmerzhaft. Er will es adoptieren lassen.


Eine Stille.


DER JÜNGLING. Ich fasse es noch nicht – weißt du – es ist so grauenhaft unnatürlich und mir so fremd ...

DAS MÄDCHEN. Ich konnte es zuerst ja auch nicht fassen! Und niemals wollte ich mein Kind hergeben. Niemals! Aber dann sprach auch der Verstand mit, und da mußte ich meinem Onkel recht geben: was kann ich mit meinem kleinen Verdienst dem Kind denn bieten, und wie sehr ist ihm da in einer anständigen Familie geholfen.

DER JÜNGLING. Aber laß es zu Leuten kommen, die dem Kind außer ihrer Anständigkeit nichts bieten können, die nicht weiter reich sind, aber vielleicht mit ihren beschränkten Ansichten und ihrer Mißerziehung dem Kind die Jugend verderben ...

DAS MÄDCHEN. So hat es wenigstens einen anständigen Namen, siehst du! Das ist ja für sein Weiterkommen so notwendig! ... Und mein Onkel würde sich doch vorher sehr genau über die Leute unterrichten.

DER JÜNGLING. Wovon reden wir nur –! Wir reden, als ließe sich ein Schicksal vorausbestimmen und mit gutem Verständnis zusammenbauen. Und wir wissen doch nichts von den Möglichkeiten, die das Kind vielleicht zu seinem Glück führen, wenn es bei dir bleibt, und vielleicht zu seinem Unglück, wenn du es fortgibst. Was wissen wir davon!

DAS MÄDCHEN. Ja, es ist so schwer ...[61]

DER JÜNGLING. Wozu wirst du dich entschließen, Liebe ...?

DAS MÄDCHEN. Ich bin schon entschlossen. Eines gab für mich den Ausschlag. Leiser. Wenn ich das Kind fortgebe, hält mich kein Wesen mehr ... und ich kann dich ganz lieben ... und ich kann dir ganz dienen ...


Eine große Stille.


DER JÜNGLING.

Mein Mädchen ... mein ... es ist so fremd ...

so viel ... es ist so gut ... unfaßbar gut ...


Er windet sich auf dem Sitz, erhebt sich dann, steht rückgeneigt und starrt in den Himmel.


O Wunder! Wunder! Es rauscht heran ... es biegt ...

Mich in die jenseitigen Himmel ... biegt mich ... rauscht –

O Mädchen! Liebe! Du bist gut – so gut

Und ganz...


Er neigt sich nieder und küßt wild ihren Scheitel, dann wieder auf dem Sessel, über ihr sinnend.


Doch etwas warnt in mir –

Ich fürchte mich. Ich fürchte den Muttermord.


Mit Haupt und Rumpf aufwachsend.


... Und daß die Schreie der erdrosselten Mutter

Dich ganz anfüllen und dein Herz umschwärmen,

Dein Wesen umtrümmern und über dem Schutthaufen schreien!

Tu's nicht! Tu's nicht! Liebe dein Kind und mich!

– Und morde nicht!

DAS MÄDCHEN.

Ich habe dich zu lieb!

DER JÜNGLING.

Mädchen, dein Opfer ist für mich so tiefer

Rausch! Es ist schwindelnd gut und himmlisch!

Ich sehnte mich schon jahrelang nach dieser Liebe!

Man nennt sie nicht!

Man denkt sie nicht! Sie ist nur Wunsch und gut!

Tu's nicht! Tu's nicht! So gern ich will! Tu's nicht!

Die Furcht rät gut!...

DAS MÄDCHEN.

... Die Furcht ging schon vorbei ...

DER JÜNGLING. Es ist zu viel. Es ist zu schnell. Laß warten ... Eine Stille. Bis dein Onkel dir über etwas Bestimmtes[62] Nachricht gibt, kann noch viel Zeit hingehen, und wir können uns inzwischen wieder und wieder bedenken. Verstehe mich doch recht, mein Mädchen!


Das Mädchen reckt den Leib und blickt starr zum Jüngling auf. Der Mond ist fast gänzlich untergesunken, nur die Spitze der Sichel blickt silbern hervor, es sind mehr Sterne sichtbar geworden.


DAS MÄDCHEN spricht.

Ich kann dich nicht verstehen,

Ich kann mich nicht bedenken,

Ich kann dich nur flehen,

Ich kann dir nur schenken –

All mein Herz

Will immer bei dir sein

Und will sich dir schenken. Und will sich dir schenken.

DER JÜNGLING spricht die ersten Verse niedergeneigt zum Mädchen, die letzten aufrecht und Blick in den Himmel.

Alle tiefen Himmel

Sollen um uns sein,

Alle schönen Sterne

Sich in uns versenken –

Was will ich verstehen,

Was will ich bedenken –

Mich mag die große Allmacht

Zu meinem Ziel lenken.

DAS MÄDCHEN.

All mein Herz

Will immer bei dir sein,

Ich will deine Lieder

Im Herzen bewahren –

Du kannst mir nur schenken, du darfst mich nur segnen –

Wie soll ich dich tränken, womit dir begegnen –?

Treu will ich vor dir sein,

Gern treu mit dir zum Himmel fahren.[63]

Quelle:
Reinhard Johannes Sorge: Werke in drei Bänden. Nürnberg 1964, S. 39-64.
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