Neununddreißigstes Capitel

[405] Als Oswald am nächsten Morgen unter den Papieren auf seinem Schreibtisch kramte, fiel ihm ein Briefchen in die Hände, das er gestern Abend übersehen hatte. Er erkannte sogleich die Handschrift, welche mit ihren bald kühnen und großartigen, bald kritzlich verworrenen Zügen so problematisch war, wie der Charakter des Schreibers. Das Billet war von Oldenburg und lautete:

So eben erhalte ich eine Nachricht, die mich nöthigt, sofort eine größere Reise anzutreten, von der ich nicht zu bestimmen vermag, wie lange sie dauern wird. Unter acht Tagen schwerlich. Ich schreibe diesen Brief, um ihn auf Grenwitz abzugeben,[405] im Falle ich Sie nicht persönlich sprechen sollte, was mir sehr leid thun würde, da ich Ihnen Vieles zu sagen hätte. Unsere Czika nehme ich mit, da mir die Solitude während meiner Abwesenheit kein sicherer Aufenthalt für das Kind scheint. Bis zu dem Termin, den uns die Zigeunerin gestellt hat, bin ich jedenfalls zurück. Bis dahin leben Sie wohl!

In großer Eile und noch größerer Freundschaft

A.v.O.


Oswald fühlte sich durch diesen Brief eigenthümlich berührt, denn er ahnte irgend einen Zusammenhang zwischen dieser plötzlichen Abreise Oldenburg's und der Abreise Melitta's. War es, daß er in der letzten Zeit wiederum so viel über das Verhältniß der Beiden, das ihm durch Melitta's in der Mitte abgebrochene Erzählung in einem ganz neuen Lichte erschienen und doch noch lange nicht hinreichend aufgehellt war, nachgedacht hatte; war es nur der Umstand, daß der Brief Oldenburg's so dunkel gehalten war – genug, Oswald empfand es als eine Art Beleidigung, daß er nach dieser Seite fort und fort auf Räthsel stieß. Er nahm sich vor, noch heute nach Berkow hinüberzugehen und beim alten Baumann anzufragen, ob ein Brief Melitta's an ihn da sei.

Dann nahmen seine Gedanken eine andere Richtung, als sein Auge auf die Verse fiel, die er gestern Abend geschrieben hatte. Er mußte lächeln, als er sie jetzt durchlas. Da hat Dir Deine leidige Phantasie wieder einmal einen dummen Streich gespielt; sprach er bei sich. Es braucht Dir nur Jemand von einem hübschen Mädchen zu erzählen, das einen Andern, als Deine Hoheit, heirathen soll, und Du geräthst in einen Paroxysmus des Mitleidens mit dem jungen Mädchen und einen Paroxysmus des Hasses gegen den jungen Mann. Und hernach brauchst Du das Mädchen nur selber zu sehen und zu finden, daß sie große dunkle leuchtende Augen hat und überhaupt interessanter aussieht, als die Backfische im Allgemeinen, und ein Knabe braucht Dir nur eine halbe Stunde von besagtem Backfisch vorzuschwärmen, so fühlst Du Dich gemüßigt, so überschwängliche Verse zu schreiben wie diese hier, die ich in das Feuer des Ofens stecken[406] würde, wenn wir uns nicht unglücklicher Weise in den Hundstagen befänden.

Indessen stellte Oswald das Autodafé nicht an, obgleich die Flamme eines Lichtes dieselbe Wirkung gethan haben würde, wie das Feuer im Ofen, sondern legte das Blatt ganz sorgfälltig in sein Pult.

Der Morgen grüßte so freundlich aus dem thaufrischen Garten herauf, daß er dem Verlangen, ein wenig zwischen den blumenreichen Beeten und in den schattigen Laubgängen umherzuschlendern, nicht widerstehen konnte. Ueberdies war es noch sehr früh – noch beinahe zwei Stunden Zeit bis zum Beginn des Unterrichts – die Knaben schliefen noch.

Oswald eilte und suchte seinen Lieblingsplatz auf, den mächtigen Wall, der Schloß und Garten und Hof umfaßte und auf welchem es sich unter den Buchen und Nußbäumen gar anmuthig promenirte, besonders am Morgen, wenn die rothen Sonnenstrahlen durch die wehenden Zweige blitzten und die halbwilden Enten noch lustiger als sonst auf dem grün überwachsenen Graben ihr Wesen trieben.

Er schlenderte langsam dahin, die reizenden Einzelnheiten des wonnigen Morgens mit allen Sinnen genießend, heute um so mehr, als die Lieblichkeit, die sanfte Schönheit; die ihn hier rings umher anlächelte, gar seltsam mit der öden Monotonie der Meeresküste, die er in der letzten Zeit beständig vor Augen gehabt hatte, contrastirte. Heute Morgen war es ihm beinahe unbegreiflich, wie er sich von seiner düstern Laune so ganz habe beherrschen lassen können. Der Doctor hatte recht: die Einsamkeit ist ein süßes berauschendes und zuletzt tödtliches Gift. Ich muß den Doctor öfter zu Rathe ziehen. Ein klarer Kopf, der die Dinge und Menschen und Verhältnisse stets in dem rechten Lichte sieht. Aber in Betreff der zwischen Fräulein Helene und ihrem Vetter projectirten Heirath irrt er sich doch. Erstens ist sie noch viel zu jung, zweitens ist sie viel zu schön und drittens will ich es nicht! Hören Sie, Madame la Baronne: ich will es nicht! Sie werden Ihr sauberes Project nicht ausführen, wenn[407] Sie auch noch so sehr Ihre großen herrschsüchtigen Augen rollen und sich zu Ihrer ganzen stattlichen Höhe emporrichten.

Es war ein Glück, daß Oswald diese Worte nur leise durch die Zähne murmelte, denn wie er eben um eine Ecke des Walles bog, die durch ein dichtes weit vorspringendes Gebüsch noch schärfer gemacht wurde, fand er sich plötzlich Fräulein Helene, die von der andern Seite kam, gegenüber. Dies Zusammentreffen war für beide Theile so überraschend, daß das junge Mädchen nur mit Mühe einen leisen Schrei unterdrückte, und Oswald in seiner Verlegenheit nicht wußte, ob er die junge Dame anreden, oder grüßend stumm vorübergehen solle.

Aus diesem Zweifel wurde er durch Fräulein Helene befreit, die es ganz begreiflich fand, daß der junge Hauslehrer, von dessen Unterhaltungsgabe sie gestern Abend keine besonders große Meinung bekommen, nicht die Geistesgegenwart besitze, aus dem Stegreife eine Conversation zu beginnen; und deshalb glaubte, eine Bemerkung ihrerseits über den schönen Morgen dürfte das für die Situation Passendste sein.

Der schöne Morgen hat Sie auch herausgelockt, wie ich sehe.

Ja, mein gnädiges Fräulein, der Morgen ist in der That sehr schön.

Köstlich. Haben Sie immer so herrliches Wetter in der letzten Zeit gehabt?

Immer; das heißt, einige Regentage ausgenommen.

Wenn man den Himmel so blau sieht, sollte man schlechtes Wetter für ein Märchen halten, meinen Sie nicht auch?

Gewiß.

Fräulein Helene mochte glauben, daß diese geistreiche Unterhaltung nun lange genug gedauert habe, und da sie zufällig an einer Stelle angelangt waren, wo eine schmale Treppe von dem Wall hinab in den Garten führte, so hielt sie es in ihrem und ihres einsilbigen Begleiters Interesse für gerathen, diese Gelegenheit, die Scene abzubrechen, nicht unbenutzt zu lassen.

Haben Sie eine Ahnung, welche Zeit wir haben?

Halb sieben.[408]

Schon? Da muß ich eilen, in's Schloß zurückzukommen, ehe Mama meine Abwesenheit bemerkt.

Fräulein Helene nickte vornehm mit dem Kopfe, stieg leicht die Treppe hinab und ging langsam zwischen den Blumenbeeten dem Hause zu.

Dem Glücklichen schlägt keine Uhr, sagte Oswald bei sich, als er der jugendlich schlanken Gestalt nachschaute, glücklich habe ich sie also durch meine meteorologische Bemerkungen nicht gemacht; und ihre Eile, in's Schloß zu gelangen, war weniger groß, als die von mir fortzukommen. Jedenfalls scheint sie noch Zeit genug zu haben, sich ein reizendes Bouquet zu pflücken. Ohne Zweifel für mich. Ich habe augenscheinlich eine vollständige Eroberung gemacht. Wie sie mich mit ihren wunderbaren Augen, so mitleidig halb und verächtlich, anblickte, als wollte sie sagen: ich thue Dir wohl einen großen Gefallen, wenn ich Dich mit Deiner Blödigkeit allein lasse! Sie ist stolz, sagte Bruno; gewiß, aber wie köstlich steht ihr dieser Stolz; wie kann ein Mädchen mit diesem Gesicht, diesen Augen, diesem Haar anders als stolz sein. Es ist die Atmosphäre, in die sie so nothwendig gehört, wie ein Adler in die höchsten Lüfte. Der Adler ist auch stolz und kein Mensch nimmt es ihm übel. Wie schön das Mädchen ist! eine prächtige Schönheit, die das helle Sonnenlicht nicht zu scheuen braucht, die nur noch schöner zu werden scheint, je köstlicher der Rahmen ist, der sie umgiebt. Eine unheimliche Schönheit, die uns fesselt und erstarren macht, wie die der tödtlich schönen Muse. Dies Mädchen eine Blume? wo waren meine Augen gestern? sie ist kein lyrisches Gedicht voll Vogelsang und Sonnenschein, sie ist eine schwermüthige Ballade, in der Schwerter klirren und Herzen verbluten, während oben aus dem Thurme ein weißes Tüchlein weht. – Und halt! jetzt weiß ich's: es ist das leibhaftige Gottseibeiunsgesicht der Grenwitz, wie Albert vortrefflich sagt – Zug für Zug! es ist das Gesicht Harald's, in's Weibliche übersetzt, dieselben dämonischen Augen, derselbe berauschend sinnliche Zug in den vollen, fast zu vollen Lippen, dieselbe Kraft in dem üppig dichten blauschwarzen Haar, das sich über der breiten festen Stirn aufkräuselt! –[409] Vortreffliche Frau Mama! Sie irren sich sehr, wenn Sie glauben, daß diese Stirn sich so gutwillig unter Ihre Beschlüsse beugen wird; ausgezeichneter Baron Felix, Sie müssen Ihrem Namen wahrhaftig Ehre machen, wenn Sie in diesem Falle reüssiren wollen! Der Morgen ist in der That köstlich, und man sollte wirklich, wenn man den Himmel so blau sieht, schlechtes Wetter für ein Märchen halten.

Die Baronin war erstaunt über das Interesse, mit welchem Oswald heute bei Tisch, und mehr noch in einer längeren Unterredung, die sie nach der Mahlzeit hatten, auf ihre Gedanken einging und verschiedene von ihr aufgeworfene Fragen betreffs des Unterrichts erörterte: ob es nicht bei der großen Hitze zweckmäßiger sei, die Lectionen um sieben, statt wie bisher um acht zu beginnen? ob man die Nachmittagstunden nicht lieber ganz ausfallen lassen wolle? ob die Bücher, aus welchen Helene bis jetzt Geschichte und Literatur studirt habe, für sie noch brauchbar seien? ob zwei Lectionen wöchentlich für Helenen's Fortbildung hinreichen? und ob er den Morgen oder den Abend für die geeignetere Zeit halte?

Auch der alte Baron war auf das angenehmste überrascht, als er an Oswald einen aufmerksamen Zuhörer der langen Geschichte seiner kleinen Leiden fand. Er hatte Oswald, der ihn stets mit vieler Höflichkeit behandelt hatte, im Herzen immer für einen braven und liebenswürdigen jungen Mann gehalten, trotz des entschiedenen Widerspruchs seiner Anna-Maria und der mindestens zweifelhaften Zustimmung des Pastors Jäger; und er war ordentlich froh, daß er dieser Gesinnung heute, wo auch die Baronin sie zu theilen schien, endlich einmal einen Ausdruck geben konnte. Ueberhaupt schien die Reise einen sehr günstigen Einfluß auf die Baronin gehabt zu haben. Mademoiselle Marguerite, der man in dieser Beziehung wohl ein Urtheil zutrauen durfte, behauptete gegen Albert, sie ist verändert totalement, sie hat mich nicht gescholten ein einziges Mal, den ganzen Tag; worauf Albert erwiderte: ja, ich finde selbst, der alte Drache ist heute beinahe genießbar. Mit einem Worte, es herrschte heute ein so gutes Einvernehmen, wie noch nie in der[410] Gesellschaft auf Schloß Grenwitz. Jeder schien die Gründe, die er hatte, mit Diesem oder Jenem weniger zufrieden zu sein, vergessen oder doch in den Hintergrund geschoben zu haben, und da aus der Stimmung ein für Alle angenehmes Resultat hervorging, nahm man bereitwilligst für baare Münze, was der Andere dafür bot – natürlich, um sich das Recht zuzusprechen, Jenen mit derselben Münze zu bezahlen.

Oswald hatte die Begegnung mit Fräulein Helene am Morgen nicht vergessen und sich des Eindrucks, den er dabei auf die stolze, junge Dame gemacht haben mußte, wohl bewußt, sah er es nicht ungern, daß ihm im Laufe des Tages mehr als eine Gelegenheit wurde, seine natürlichen Vorzüge geltend zu machen. Bei Tische um eine Erzählung dessen, was ihm während der Abwesenheit der Familie begegnet war, gebeten, gab er eine Schilderung seines einsamen Lebens in Sassitz, wobei er sich eine halb humoristische, halb sentimentale Rolle zutheilte, natürlich ohne das romantische Dunkel, welches über seinem dortigen Aufenthalte lag, im mindesten zu lüften. Die derbe Mutter Karsten wurde zu einer Uhland'schen Meeres-Königin, ihre rothhaarigen Töchter, Stine und Line, zu Heineschen Wassernixen und der halb blödsinnige Vater Steffen zu einem weisen Merlin; die Kreidefelsen der Küste wuchsen in's Ungeheure und die Brandung donnerte zwischen den Klippen des Strandes mit wahrhaft Ossianischer Majestät. Die Gesellschaft, obgleich sie die Uebertreibungen bald herausfühlte, horchte mit Aufmerksamkeit, ja Spannung, und Oswald empfand es als den schönsten Lohn seiner phantastischen Improvisation, daß die großen, glänzenden Augen Helene's während seines Vortrages mit einem Ausdruck halb der Verwunderung und halb des Zweifels unverwandt auf ihn gerichtet waren.

Er war so ganz die Seele der Gesellschaft geworden, daß man es ihm ernstlich übel zu nehmen schien, als er gleich nach der Abendmahlzeit erklärte, den verabredeten Spaziergang durch den Buchenwald nach dem Strande nicht mitmachen zu können, da morgen Posttag sei und er einige sehr wichtige Briefe zu schreiben habe. Indem Oswald sich so in dem Augenblicke[411] aus der Gesellschaft zurückzog, wo er sich ihr unentbehrlich gemacht hatte, durfte er mit der beabsichtigten Wirkung zufrieden sein. Fräulein Helene ließ sich herab, ihn direct zum Bleiben aufzufordern, und wandte sich, als er bei seinem Vorhaben beharrte, so kurz von ihm weg, daß ihr Unmuth nur zu ersichtlich war.

Dennoch hatte der funkelnde Stern, der soeben über seinem Horizonte aufgegangen war, ihn nicht so verblendet, daß er das Gestirn, welches nun schon so lange mit nimmer verlöschendem, stets gleichem, treuem, lieblichem Licht auf ihn herabblickte, darüber vergessen hätte. Er hatte schon gestern in Sassitz mit Bestimmtheit auf einen Brief gehofft; er fürchtete, daß der alte Baumann noch am Abend, als er mit dem Doctor weggefahren, vergeblich nach ihm gefragt habe. Wohl hatte er Mutter Karsten gesagt, daß er nach Grenwitz zurückgehe, aber dorthin konnte natürlich der alte Baumann einen Brief Melitta's, der so leicht in andere Hände fallen konnte, nicht bringen. Und doch hatte er eine unendliche Sehnsucht nach dem längst erwarteten Brief.

So stahl er sich denn, gleich nachdem die Gesellschaft den Schloßhof verlassen hatte, durch den Garten nach dem großen Thor, aus dem man fast unmittelbar in den Tannenwald zwischen Grenwitz und Berkow gelangte. Es dunkelte schon unter den hohen Bäumen mit den weit überhangenden Aesten. Das von der Hitze des Tages durchwärmte Holz strömte jetzt am kühleren Abend würzigen Duft aus. In dem weiten Revier herrschte eine fast unheimliche Stille.

Und jetzt in dieser feierlichen Abendstunde, in diesem hehren Waldestempel überkam die Erinnerung an Melitta Oswald's Herz mit aller Macht. Ihre hohe, und bei aller lieblichen Fülle so jungfräuliche Gestalt, ihr reiches, braunes Haar, das in weichen Wellen von dem Scheitel zum Nacken herabfloß, ihre dunkeln, zärtlichen Augen; ihre reizende Schalkhaftigkeit, ihr liebliches neckisches Wesen – und ach! vor allem ihre unendliche Güte und Liebe – wie deutlich ihr Bild vor seiner Seele stand! wie heiß er sich gelobte, der Lieben, Guten, Holden nie, auch nur in[412] Gedanken untreu zu werden, und komme, was da wolle, ihre Liebe mit unendlicher Liebe zu erwiedern.

Da ertönte Hufschlag durch den stillen Wald und bald tauchte aus dem Halbdunkel ein Reiter auf, der in raschem Trabe daher kam. Oswald durchfuhr ein freudiger Schrecken, als er in dem Reiter den alten Baumann auf dem Brownlock erkannte.

Ein Brief? Haben Sie einen Brief? rief er mit einer Heftigkeit, die Brownlock einen Schritt zur Seite springen machte.

Ruhig, Brownlock, ruhig, sagte der Alte, dem Pferde den schlanken Hals klopfend; guten Abend, junger Herr! Ich habe Sie schon in Sassitz gesucht, allwo ich erfahren, daß Sie sich am gestrigen Abend nach Grenwitz begeben. Nun wollte ich soeben dorthin reiten –

Aber wenn Sie mich nicht selbst getroffen hätten? und unter welchem Vorwande wollten Sie sich bei mir einführen lassen? Doch gleichviel – wo ist der Brief?

Hier! sagte der Alte, der unterdessen vom Pferde gestiegen war, ein nicht unbedeutendes Packet aus der tiefen Tasche seines langen Ueberrocks ziehend.

Geben Sie!

Nur Geduld, junger Herr! Ich habe an Alles gedacht. Dies Packet ist, wie Sie sehen, wohl zugebunden und versiegelt, und trägt die Aufschrift: Hierbei die bewußten Bücher mit bestem Dank zurück. Die andern wird Ihnen Baumann zustellen, sobald ich sie durchgelesen habe – und die Unterschrift: Ihr ergebenster B. – das kann ja wohl so gut Bemperlein als Baumann heißen, nicht wahr?

Der alte Baumann hatte, während er sprach, die Schnur um das Packet gelöst und aus einem der drei Bücher, die es enthielt, einen Brief genommen, den Oswald hastig erbrach und gegen das Licht hielt, um ihn zu lesen, aber das Dunkel unter den hohen Bäumen war bereits zu dicht; er vermochte nur noch die Ueberschrift: liebstes Herz, mit Mühe zu entziffern.

Ich kann nichts mehr sehen, sagte er traurig.[413]

Wären Sie in Sassitz sitzen geblieben, wie Sie neulich wollten, oder hätten Sie gestern dem alten Baumann ein Wort zukommen lassen, so wären Sie noch bei guter Tageszeit in Besitz dieses Briefes von meiner gnädigen Frau gewesen.

Oswald fühlte wohl den Vorwurf, der in diesen sehr ruhig gesprochenen Worten lag und es wurde ihm nicht schwer, dem treuen Diener und Freunde Melitta's sein Unrecht einzugestehen.

Verzeihen Sie mir, sagte er, daß ich Ihnen die zweifache Mühe gemacht habe, ich habe meine Unbesonnenheit den ganzen Tag hindurch schon verwünscht und ich bin schwer genug dafür bestraft, denn hier halte ich den theuren Brief in den Händen und kann doch nicht erfahren, wie es ihr, wie es Frau von Berkow geht, ob sie wohl ist, ob sie glücklich in Fichtenau angekommen ist, und tausenderlei, was ich Alles wissen möchte und was ohne Zweifel hier steht – und versuchte noch einmal den Brief zu lesen.

Nu, nu! sagte der alte Baumann; wegen meiner haben Sie nun schon keine Sorge nicht; so eine Meile oder zwei mehr oder weniger, darauf kommt es mir und dem Brownlock eben nicht an. Und was die Nachrichten betrifft, die Sie zu haben wünschen, so weiß ich davon auch eine oder die andere mitzutheilen, sintemalen Herr Bemperlein mir einen Schreibebrief übersandt hat, in welchem die Reise und was sich bei der Ankunft zugetragen, Alles ausführlich berichtet ist. Der alte Mann hatte den Zügel über den Arm gehängt und ging neben Oswald her, der seine Schritte beeilte, um möglichst bald nach Grenwitz und auf sein Zimmer zu kommen.

Die gnädige Frau – Gott behüte sie, sagte der Alte, ist mit Herrn Bemperlein nach Verlauf von drei Tagen glücklich in Fichtenau angekommen. Herr Bemperlein hat sich sogleich mit Doctor Birkenhain in Vernehmen gesetzt und erkundet, daß Herr von Berkow noch lebe, aber so schwach sei, daß man stündlich seiner Auflösung entgegensehe. Das hat nun so gedauert bis zum Tage vor dem Abgang des Briefes, allwo die gnädige[414] Frau in Begleitung des Herrn Bemperlein und des Herrn –

Der Alte unterbrach sich und hustete.

Nun, wessen? fragte Oswald, dessen Verdacht in Betreff des Baron Oldenburg wieder erwachte.

Nun, des Herrn Doctors natürlich, wessen sonst, sagte der Alte; ja, was wollte ich doch gleich sagen, Sie haben mich durch Ihre Frage ganz aus dem Context gebracht – richtig: also in Begleitung des Herrn Bemperlein und – hm, hm: des Herrn Doctors auf wenige Minuten nur bei dem Herrn Baron gewesen sind. Der gnädige Herr soll sich so verändert haben, daß er der gnädigen Frau, wie sie selbst gesagt hat, wie ein vollkommen fremder unglücklicher Mann erschienen ist. Gesprochen hat er auch ein paar Worte, von denen aber kein einziges zu verstehen gewesen ist. Dann sind sie wieder fortgegangen, und alsbald ist der gnädige Herr wieder in sein Bett zurückgesunken und in tiefen Schlaf gefallen und der Doctor meinte, das werde wohl nun bis zu seinem Ende so fortgehen, – welches denn der Herr Gott in seiner Gnade recht bald möge eintreten lassen, damit der arme Mann von seiner Qual befreit ist und die arme gnädige Frau endlich einmal wieder frei aufathmen kann!

Amen; sagte Oswald.

Denn sehen Sie, junger Herr, fuhr der Alte fort – und seine tiefe Stimme hatte einen eigenthümlich erregten Klang – die gnädige Frau hat nicht viel Freude gehabt ihr liebes Leben lang, und das thut mir weh, denn ich habe sie lieb, als wäre sie mein eigenes Kind, und wohl noch lieber. Denn ich habe freilich selbst nie welche gehabt, aber ich sehe doch, wie es andere Väter mit ihren Kindern machen, und daß sie sich nicht schämen, nicht blos wie kein Vater, sondern nicht einmal wie kein Christenmensch nicht an ihren Kindern zu handeln. Und der Vater von der gnädigen Frau – nun, es war mein gnädiger Herr, und ich habe unter ihm die Campagne mitgemacht, und von den Todten soll man nicht Uebles reden – aber zu Ihnen darf ich es schon sagen, weil Sie uns doch nun nicht mehr fremd[415] sind – ja, das war ein böser Herr, oder auch eigentlich nicht böse, aber wild und leichtsinnig, wie der jüngste Offizier in seinem Regiment. Je toller ein Streich war, desto lieber war es ihm; na, und tolle Streiche und schlechte Streiche, die sehen sich manchmal zum Verwechseln ähnlich. So dachte er sich nichts Böses dabei, wenn er, noch als Verheiratheter, den Frauenzimmern gerade so nachstellte, wie er es sonst gethan, aber der armen gnädigen Frau, welche eine gar gute, liebe Dame war, brach darüber das Herz, und sie starb, als ihr einziges Kind erst zwei Jahre alt war. Da gab es nun eigentlich Niemand, der für das arme Ding sorgte, als den alten Baumann. Ich hab's herumgetragen und habe mit ihm gespielt, und hernach, als es größer wurde, habe ich mit ihm schreiben und lesen gelernt, was ich damals noch nicht konnte, und ein bischen Französisch und was noch sonst in meinen alten Kopf hineinwollte. Und hernach habe ich sie reiten gelehrt, daß ihr nun wohl so leicht keine darin gleichkommt; und so bin ich wieder mit ihr jung gewesen und hab' mich nie nach Kindern gesehnt, denn sie war ja mein liebes, herziges Kind, obgleich ich nur ein armer unwissender Reitersmann und sie ein fürnehmes, hochadeliges Fräulein war. Und ich habe manchmal so in meinem Sinn gedacht: ob sie es nicht besser im Leben gehabt hätte, wenn sie wirklich mein Kind gewesen wäre. Denn vornehm sein und reich sein, das ist Alles recht gut, aber ich meine doch, wen Gott lieb hat, den läßt er arm geboren werden. Ich wäre nie auf den Gedan ken gekommen, mein eigen Fleisch und Blut um schnöden Mammon zu verkaufen; ich hätte nie vor meinem Kinde auf den Knieen gelegen und geflennt: Dein Vater ist ehrlos, wenn Du nicht den und den heirathest, von dem ich wohl weiß, daß Du ihn nicht liebst, der aber so viel Geld hat, daß er alle meine Schulden bezahlen kann und doch noch genug für euch Beide behält. Und es stand gar nicht einmal so schlimm mit Herrn von Barnewitz. Was er im Spiel verloren hatte, konnte er auch im Spiel wieder gewinnen, und hat's auch hernach zum Theil wiedergewonnen, so daß er später, wenn er zu viel getrunken, oft zu mir gesagt hat: hätte ich gewußt, Baumann,[416] daß ich noch solch Glück im Pharao haben würde, da hätte der – es war ein häßliches Wort und ein ordentlicher Mensch bringt es nicht gern über die Lippen, – da hätte ich Herrn von Berkow auch etwas anderes gegeben, als meine Tochter. Mein einziger Trost ist nur, daß er's nicht lange mehr treibt, und dann kann sie ja noch immer einen andern heirathen. Nun, der gnädige Herr trieb es selbst nicht lange mehr, aber doch noch lange genug, daß er das Unglück, welches er angerichtet hatte, mit seinen leiblichen Augen sehen konnte. Er hätte viel drum gegeben, um ungeschehen zu machen, was geschehen war; aber wer sich mit dem Teufel einläßt, darf sich nicht wundern, wenn der liebe Gott nichts von ihm wissen will. So war die schöne junge Frau eine Wittwe und war es doch auch wieder nicht. Reichthum hatte sie nun, die Hülle und Fülle; aber mir däucht, sie wäre glücklicher gewesen, wenn sie unter einem Strohdach mit einem braven Mann gelebt hätte, als so mutterseelenallein in dem großen, öden Hause. Nun war freilich der Julius da, aber eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, und ein Kind ist noch immer keine Familie. Sehen Sie, junger Herr, das hat mein altes Herz oft bluten machen, und wenn ich die liebe gnädige Frau so des Abends allein durch den einsamen Garten wandeln sah, da habe ich oft den lieben Gott gebeten, er solle den armen Herrn von Berkow in Gnaden zu sich nehmen, und verstatten, daß die arme gnädige Frau doch einmal in ihrem Leben glücklich wird, wie andere Frauen, die nicht werth sind, daß sie ihr die Schuhriemen lösen. Reich braucht der Mann nicht zu sein, denn sie hat, wenn's doch ja Reichthum sein soll, genug für Beide, – aber Kopf und Herz muß er auf dem rechten Fleck haben und lieb muß er sie haben, mehr als seinen Augapfel. Und wenn ich einen solchen Mann wüßte, und ihr einen solchen Mann verschaffen könnte, und ich sähe sie nun glücklich an der Seite dieses Mannes, da wollte ich auch beten: Herr, lasse Deinen Diener in Frieden fahren. – Aber da sind wir ja schon am Thore. Nun, wohlschlafende Nacht, junger Herr! Wenn Sie morgen früh vielleicht eine Antwort auf den Brief von der gnädigen Frau fertig haben, so[417] will ich einen Büchsenschuß weiter in den Wald hinein zwischen fünf und sechs darauf warten. Die gnädige Frau würde sich doch freuen, wenn Sie recht bald schrieben.

Ich werde pünktlich um fünf dort sein, sagte Oswald.

Na, auf eine halbe Stunde kommt es schon nicht an, sagte der alte Baumann, sein Pferd besteigend. Die Post geht nicht vor acht Uhr, und bis dahin bin ich mit dem Brownlock zweimal hin und zurück. Ich wünsche nochmals wohlschlafende Nacht.

Der alte Mann faßte salutirend an seine Mütze, lenkte den Brownlock herum und trabte durch die Tannen zurück nach Berkow.

Oswald eilte auf seine Stube, ohne Jemand zu begegnen, da die Gesellschaft von ihrem Spaziergang noch nicht heimgekehrt war. Mit zitternder Hand öffnete er den Brief und durchflog ihn mit athemloser Hast, um ihn dann langsam wieder und wieder zu lesen, wie man Briefe liest, von denen jedes einzelne Wort uns berührt, wie ein Kuß von geliebten Lippen.

Als er sich spät am Abend hinsetzte, die Antwort zu schreiben, ertönte derselbe Gesang, der ihn gestern Abend in so überschwängliche Begeisterung versetzt hatte; heute aber schloß er das Fenster, denn er fühlte, daß seine Bewunderung für das schöne Mädchen im Grunde ein Verrath seiner Liebe zu Melitta sei, obgleich er die anklagende Stimme seines Gewissens möglichst zu überhören versuchte.

Quelle:
Friedrich Spielhagen: Sämtliche Werke. Band 1, Leipzig 1874, S. 405-418.
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